Jörn-Erik Gutheil

Entrüstung ist zu wenig

Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit in der Zuwanderungsdebatte

Die Aufregung über „Pegida“ führt zu Gegenreaktionen, die notwendig und wichtig sind. Für eine inhaltliche Auseinandersetzung ist Entrüstung jedoch zu wenig. Zusätzlich zu den einfallsreichen Slogans ist konkretes Handeln angesagt. Bei der Analyse der derzeitigen Situation werden Versäumnisse deutlich, die nicht länger im Strudel der Talkshows und Demonstrationen untergehen dürfen. Deutschland ist ein weltoffenes Land. Bestimmt. Im Ranking steht es als beliebtes Zuwanderungsland ganz oben. Und dennoch wurde zu lange mit „Lebenslügen“ Politik gemacht, die jetzt unter dem Druck der weltweiten Ereignisse klarer ans Licht kommen. Es steht zu befürchten, dass angesichts der unverzichtbaren Prävention der Ruf nach Gesetzesverschärfung und Repression zunehmen wird. Dem muss mit Erfahrungen aus der Zivilgesellschaft begegnet werden, damit belastbare Strukturen entwickelt und Finanzmittel für ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt eingesetzt werden.

Deutschland braucht Zuwanderung

Die Einsicht, dass Deutschland Zuwanderer braucht, hat sich inzwischen politisch weitgehend durchgesetzt. Gemeint sind Menschen, die die Freizügigkeit innerhalb der EU nutzen können, Fachkräfte von außerhalb der EU, Flüchtlinge oder Asylsuchende. Das sind unterschiedliche Zielgruppen, die auch unterschiedlich bewertet werden müssen. Auffallend ist, dass im innenpolitischen Diskurs wenig davon geredet wird, Zuwanderung nicht allein unter Opportunitätsgesichtspunkten darzustellen, sondern insgesamt als einen Gewinn für eine Gesellschaft zu sehen, die sich der Herausforderung des gesellschaftlichen Wandels ausgesetzt sieht. Am deutlichsten sind die Rufe aus der Wirtschaft (Fachkräftemangel!). Unternehmen werden selbst tätig und locken Arbeitskräfte aus EU-Ländern, in denen die (Jugend-)Arbeitslosigkeit besonders hoch ist, mit attraktiven Angeboten. Dass damit der „Brain-Drain“ angefacht wird, bleibt weitgehend unbeachtet.

Ein folgenschwerer Fehler bei der Anwerbung von Arbeitskräften in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs war die naive Annahme, die Menschen würden nach einer bestimmten Frist wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Max Frisch hat diese irrige Annahme schon 1965 in den Satz gefasst: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Sie kamen in großer Zahl, mit ihrer je eigenen Mentalität, Sprache, Kultur, ihrem Glauben, ihrer Hoffnung, ein neues Zuhause zu finden. Kinder wurden geboren, sie wurden Teil des deutschen Erziehungs- und Bildungssystems, binationale Ehen wurden geschlossen, Unternehmen gegründet, Häuser gebaut. In Deutschland fehlte von Beginn an ein Konzept, wie die zugewanderten Menschen in das Gesellschafts- und Wertesystem integriert werden sollten. Die Auswüchse hat Ernst Klee schon früh dokumentiert. Spätestens mit der Anwerbung in der Türkei und dem Anfang der 1970er Jahre verfügten Anwerbestopp bekam die „Ausländerfrage“ eine neue Dimension. Längst hatten sich Parallelgesellschaften gebildet, deren Konsequenzen bis heute spürbar sind.

Hatten sich die Wohlfahrtsverbände in der Anwerbephase darauf geeinigt, die Arbeitsmigranten je nach konfessioneller Prägung zu betreuen, so blieben die Zuwanderer aus den vom Islam geprägten Ländern weitgehend sich selbst überlassen. Das führte zu erheblichen Unterschieden in der Entwicklung, die sich bis heute in den später gebildeten und miteinander konkurrierenden Verbänden und Vereinigungen sowie Moscheegemeinden anschaulich zeigen. Der Wunsch, eigenen Traditionen treu zu bleiben war ebenso vorherrschend wie die Bindung an die eigene Sprache und das jeweilige Herkunftsland. Eine Integration in die deutsche Gesellschaft fand nur unzureichend statt, weil auch die Aufnahmegesellschaft wenig Interesse entwickelte, die Zuwanderer willkommen zu heißen. So blieben viele Fremde in der Fremde und suchten nach „Nischen“, in denen sie sich heimisch fühlen konnten.

An dieser Situation hat sich nur wenig geändert. Deutschland hat lange der Parole der politischen Klasse „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ vertraut. Selbst kriminelle Aktionen wie in Hoyerswerda, Rostock oder Mölln haben an dieser Sichtweise wenig verändert, sondern eher Ängste und Befürchtungen weiter beschleunigt. Mit großer Verspätung wird inzwischen erkannt, dass Integration nur gelingen kann, wenn die Einheimischen wie die Zuwanderer voneinander Kenntnis nehmen, sich mit Respekt begegnen, die gemeinsame Werteordnung in Deutschland anerkennen und in der religiösen wie kulturellen Vielfalt einen Gewinn für das Zusammenleben und die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft sehen. Wie schwierig dies noch ist, zeigt die Kontroverse um den Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“, der weiterhin strittig ist.Wir wissen längst, was gutes Zusammenleben fördert: Sprache ist der Schlüssel! Wir wissen: Auf gute Bildung kommt es an! Gute (Aus-)Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschen ihre Fähigkeiten entwickeln und für das Gemeinwesen nutzbringend einsetzen können. Arbeit fördert das Selbstwertgefühl und schafft Raum, eigene Talente zu erproben, die gerade in einem exportorientierten Land dringend gebraucht werden. Die Einsicht, dass dazu ein entsprechendes gesellschaftliches Klima, hilfreiche Angebote und Strukturen und nicht zuletzt erhebliche finanzielle Mittel notwendig sind, hat sich nur bedingt durchgesetzt. Es fehlt weiterhin ein koordiniertes, flexibles und nachhaltiges Konzept, das Sprachförderung, (Aus-)Bildung und Arbeit miteinander verbindet. Zu viele Menschen, die nach Deutschland kommen, fallen durch die vielfältig aufgestellten bildungspolitischen Netze oder werden durch Bestimmungen davon ferngehalten.

Niemand verlässt seine Heimat aus Spaß

Politische Krisen, Kriege, ethnische Zugehörigkeit und Religion, Armut, fehlende Lebensperspektiven treiben Menschen weltweit in die Flucht. Wir erkennen es an den steigenden Zahlen. Das UN- Flüchtlingskommissariat (UNHCR) spricht von mehr als 50 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. Die weitaus größte Zahl sucht Schutz in den angrenzenden Nachbarländern, nur eine kleine Minderheit schafft es bis nach Europa. Das ist zunehmend gefährlich. Europa ist zur Festung geworden und schafft mit seinen logistischen wie juristischen und administrativen Abwehrmechanismen ein „Eldorado“ für die skrupellose organisierte Kriminalität.

Weil alle Abwehrmechanismen nicht ausreichen, sind jetzt bei den Innenministern in Europa „Auffanglager für Flüchtlinge und Migranten“ in Nordafrika im Gespräch. Damit die Flüchtlinge nicht auf seeuntüchtigen Booten den Weg über das Mittelmeer nehmen, sollen in den „Transitländern“ Willkommens- und Ausreisezentren eingerichtet werden. Als weiterer Schritt ist im Rahmen des sogenannten „Khartum-Prozesses“ geplant, neben den Transit- auch die Herkunftsländer in die Bekämpfung der „irregulären Migration“ einzubinden.

Angesichts dieser Vorhaben ist es erstaunlich, dass sich außer in der „Flüchtlings-Community“ in den Ländern der EU kaum Widerstand zeigt, wenn Hunderte Millionen Euro zur Abwehr von Flüchtlingen bereitgestellt werden und teure Abkommen mit Staaten geschlossen werden, deren politisches System nicht selten Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen.

Die Zahl der in Deutschland Zuflucht suchenden Menschen erreicht gegenwärtig mit mehr als 200 000 Asylsuchenden einen neuen Höchstwert. Sie suchen nach einer besseren Zukunft für sich selbst und für ihre Kinder. Wir könnten diese Sehnsucht stillen, wenn wir statt Abwehr gezielte Zuwanderung als gestalterische Aufgabe verstünden.

Die Freizügigkeitsregelung in der EU ist ein großer Fortschritt. Im Verhältnis zu Minderheiten stellen sich aber immer wieder Schwierigkeiten ein, die Anlass für besondere Belastungen in den Kommunen sind. Dies gilt insbesondere für die Zuwanderung von Roma. Hier ist die EU aufgefordert, ihre eigenen Entscheidungen ernst zu nehmen und auf die Mitgliedsstaaten einzuwirken, bestehende Diskriminierungen nicht länger zu dulden. Es ist skandalös, wenn zur Verfügung gestellte EU-Mittel von den Herkunftsstaaten nicht abgerufen oder im Rahmen der staatlichen Korruption zweckentfremdet werden. Wenn die Lebensbedingungen der Roma-Bevölkerung in Rumänien oder Bulgarien von Unterdrückung, Arbeitslosigkeit und fehlender Bildungsmöglichkeit gekennzeichnet und keinerlei Anstrengungen erkennbar sind, Roma in die Gesellschaft zu integrieren, dann kann es nicht wundern, wenn die Migration in die wohlhabenden Industrienationen die einzige Alternative bleibt.

Zuwanderung gestalten

Von einer Willkommenskultur, wie sie von vielen Initiativen in Deutschland vorgelebt wird, sind wir auf der politischen Ebene noch weit entfernt. Das Lob der Ehrenamtlichkeit aus Politikermund klingt schal, wenn die realen Entscheidungen betrachtet werden. So weigern wir uns in Deutschland, entsprechend unseren wirtschaftlichen Möglichkeiten großzügig an „Resettlement-Programmen“ des UNHCR teilzunehmen. Verzagt blicken wir auf die EU-Staaten, in denen noch weniger für Flüchtlinge und Asylsuchende getan wird, und sind erst bereit, weitere Schritte zu gehen, wenn auch dort eine größere Bereitschaft gegeben ist.Die Länder und Kommunen in Deutschland sind mit der Aufnahme und Unterbringung oft überfordert, weil sie Kapazitäten in der irrigen Annahme abgebaut haben, die Zahlen der Flüchtlinge und Asylsuchenden blieben angesichts der immer mehr verfeinerten Abwehrmechanismen stabil. In der Bevölkerung sorgen unvermittelt eingerichtete Asylunterkünfte für Unverständnis bis hin zu offenem Protest.

Unter den Flüchtlingen und Asylsuchenden, die erst einmal untergebracht werden müssen, befinden sich Menschen mit unterschiedlichen Talenten, Professionen und Erfahrungen. Wir fragen aber nicht, welche Talente ein Asylsuchender anbieten kann, welche Sprachen er spricht, wo sich Kontakte finden, Familien, Freunde in unserem Land, die ihn aufnehmen, begleiten und unterstützen könnten – und wo er am besten untergebracht wäre. Das sind Gesichtspunkte, die gleich bei der Ankunft berücksichtigt werden könnten mit dem Ziel, die Integration ohne zeitliche Verzögerung einzuleiten. Wo Menschen nur „geduldet“ werden – und dies oft über Jahre –, offenbart bereits die Begrifflichkeit, dass sie stören und als Belastung für das Gemeinwesen angesehen werden. Sie werden leicht zur „Zielscheibe“ derer, die – meist aus Unkenntnis – eine rasche Abschiebung in die Herkunftsländer fordern.

Für die meisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ist das Asylrecht ein Buch mit sieben Siegeln. Das Asylverfahren, juristische Finessen, Entscheidungen der Bundesregierung oder der EU, die Genfer Flüchtlingskonvention u. a. entziehen sich in der Regel der genaueren Kenntnis des Bürgers. Daraus erwachsen Vorurteile und Feindbilder. Kenntnisse über das Arbeitsverbot, das Asylbewerber-Leistungsgesetz, die unterschiedlichen Abschiebehindernisse, die dazu vorhandene Rechtsprechung müssten offensiv vermittelt werden, um dem Ruf nach „konsequenter Abschiebung“ oder der irrigen Annahme, Asylsuchenden würden überzogene Finanzmittel zur Verfügung gestellt, sachlich zu begegnen.

Aufklärung kann helfen. Aufklärung setzt große Anstrengungen voraus. Sie beginnen schon, bevor die Asylsuchenden vor Ort ankommen. Die Bevölkerung darf nicht gerüchteweise erfahren, dass die örtliche Turnhalle zur Asylunterkunft umgewidmet wird, sie muss vielmehr in den Prozess einer neuen Nachbarschaft eingebunden und zur aktiven Mitwirkung gewonnen werden. Vereine, Kirchengemeinden, selbst Unternehmen sind aufgerufen, sich zu engagieren, um der Lethargie der Unterbringung in Asylunterkünften wirksam zu begegnen.

Wir können in Deutschland an gelungene (historische) Erfahrungen anknüpfen. Die Überwindung der Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland war mit erheblichen Anstrengungen verbunden. Das Ergebnis, das wir heute so hoch schätzen, entstand durch politische Bildung, stetige Aufklärung, einen erfolgreichen Jugendaustausch, Städte- und Gemeindepartnerschaften und beharrlichen Informationsaustausch. Daran lässt sich anknüpfen.

Niemand kann behaupten, es gäbe keine Anstrengungen in Deutschland, den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden. Es geschieht viel, oft jedoch unkoordiniert und stets von finanziellen Engpässen begleitet. Die politischen Vorgaben zwischen Bund und Ländern, zwischen Land und Kommunen, die Standards der verschiedenen Akteure der Zivilgesellschaft könnten an Effizienz gewinnen, wenn Verwaltungswege verkürzt, Verfahren flexibel gestaltet und Inhalte standardisiert würden.

Die Vielfalt der Zuwanderung nach Deutschland braucht ein „öffentliches Gesicht“. Die vielfältigen Initiativen, Vereine, Stiftungen müssen mit den staatlichen und kommunalen Aktivitäten verbunden werden. Ein Koordinierungsrat, bei der Bundesregierung angebunden und mit einem festen Etat ausgestattet, könnte ergänzend zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Integrationsangebote steuern und standardisieren.

Ihm zugeordnet könnten auf Länder- und Kreisebene Stabsstellen eingerichtet werden, die Projekte überprüfen und ihre Effizienz feststellen. Bereits bestehende überregionale Projekte wie die „Interkulturelle Woche“, die „Woche gegen Rassismus“ oder der „Tag des Flüchtlings“ könnten als Katalysatoren für die angestrebte „Willkommenskultur“ wirken. Wenn die Entrüstung, die sich immer einstellt, wenn sichtbar wird, welche Schrecken sich – von uns geduldet – täglich weltweit ereignen, zu einer positiven Entwicklung führen soll, dann darf nicht gezögert werden, neue „Formate“ zu entwickeln und deutlich größere Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Wenn wir alle „Europa sind“, dann müssen wir auch bereit sein, dies sichtbar werden und es uns etwas kosten zu lassen.


Jörn-Erik Gutheil, Düsseldorf