Erwartungen an das Religiöse. Gutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR)
Im siebten Jahresgutachten (2016) des SVR („Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland“) ist die religiöse Pluralisierung im Zusammenhang mit Einwanderungsprozessen Hauptgegenstand der Untersuchungen. Deutschland ist „demografisch zu einem multireligiösen Land geworden“ (www.svr-migration.de/jahresgutachten, 5). Dabei wird die Bedeutung von Religion bzw. Religiosität für die gesellschaftliche Teilhabe und den sozialen Zusammenhalt insgesamt in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte besonders kontrovers diskutiert. In der medialen Wahrnehmung des Gutachtens wurde ein Ergebnis in den Mittelpunkt gestellt: Religion wirke weder einseitig positiv als Verstärkung noch negativ als Bremse für gesellschaftliche Teilhabe. Der Zusammenhang von Religion und Integration werde meist überschätzt. Der zentrale Erklärungsfaktor für Erfolg bzw. Misserfolg im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt sei nach wie vor der soziale Hintergrund. Das ebenfalls veröffentlichte SVR-Integrationsbarometer (erstmals bundesweit repräsentative Daten; Befragungen bis August 2015 abgeschlossen) dokumentiert wie in den vergangenen Jahren „ein stabil freundliches Integrationsklima“. Der wechselseitige Integrationsprozess steht demnach auf einer stabilen Grundlage. Tenor: Der deutsche Weg einer ausgeprägten Religionsfreundlichkeit hat sich im Großen und Ganzen bewährt.
Die religiöse Pluralisierung geht allerdings auch mit „latenten und manifesten Konflikten“ einher, „die angesichts einer zugleich sinkenden Bindewirkung von Religion in anderen Teilen der Gesellschaft mittelfristig zunehmen könnten“ (15). Erkenntnisse zu den Problemfeldern – sie betreffen den Islam als die mit Abstand größte hinzugekommene Religion – werden zwar im Gesamtzusammenhang gelegentlich zurückhaltend oder relativierend formuliert. Das unabhängige, internationale Gutachtergremium (D, CH, A) benennt jedoch mit bemerkenswerter Deutlichkeit eine Reihe von Herausforderungen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Dazu gehören:
- Fundamentalistische Haltungen nehmen religionsübergreifend mit zunehmender Religiosität zu, bei Muslimen allerdings „deutlich ausgeprägter“ als bei Christen (16). Zudem „verschwindet bei religiösen Muslimen der bei anderen Religionen delinquenzmindernde Effekt von Religiosität“. Hierzu sollte künftig „frei von Tabus mehr geforscht werden“ (ebd.).
- Der islamistische Terror hat mit dem Islam zu tun, da die Religion bzw. eine fundamentalistische Interpretation des Korans als Referenzrahmen und Legitimationsbasis dient. Er lässt sich Studien zufolge nicht (allein) auf Faktoren wie Diskriminierung, soziale Marginalisierung, Arbeitslosigkeit oder mangelnden Bildungserfolg zurückführen.
- Notwendig ist ein Diskurs zwischen den islamischen Gruppierungen, den Verbänden und den Forschenden an den islamisch-theologischen Universitätsinstituten über ein Verständnis des Islam, „das den Gläubigen die Teilhabe im multireligiösen und pluralen Deutschland ermöglicht“. Dazu gehört auch, „die Interpretation des Koran in den Kontext seiner Entstehung zu stellen“ (17).
- Deutschland hat sich „klar für eine Religionsakzeptanz im öffentlichen bzw. staatlichen Raum entschieden“ (17). Die neue Pluralität wird auch rechtliche Anpassungen nach sich ziehen (Arbeitsrecht). Eine Grundbedingung für die weitgehende Offenheit des geltenden Religionsverfassungsrechts ist die Konstituierung der Religionsgemeinschaften „als verlässlicher und repräsentativer Kooperationspartner“. „Hierzu gehört auch, sich von ausländischen Einflüssen zu lösen und sich als Glaubensgemeinschaften in Deutschland zu verstehen“ (17).
- „Nicht alles, was religiös-theologisch wünschenswert erscheint, ist gesamtgesellschaftlich akzeptabel“ (18). In Normkonflikten bedarf es besonderer Sensibilität und kritischer Reflexion, wann und in welcher Form religiös motivierte Ausnahmeregelungen in Anspruch genommen werden können („Kopftuch“, Schule und Erziehung, Schächten, Beschneidung, Blasphemie u. a.).
- Die Schulpflicht ist eine Schulbesuchspflicht. Bei Befreiungswünschen aus religiösen Gründen braucht es eine „klare Linie“, „religiös motivierte Ausnahmeregelungen im Bereich der Schulpflicht“ sind abzulehnen, so der SVR.
Religionsgemeinschaften stehen in der Verantwortung, Pluralismusfähigkeit zu entwickeln, „ohne ihren ‚Eigensinn‘ und ihren Wahrheitsbezug aufzugeben“ (19). Das Recht verspricht Freiheit und Gleichheit unter Achtung der Autonomie des Religiösen. Dieses Recht ist nicht voraussetzungslos, es schließt die Erwartung mit ein, dass das Religiöse „integrierend wirkt und die freiheitliche Ordnung stärkt“ (18).
Friedmann Eißler