Erweckungsbewegungen

Erweckungsprophetien über Europa („Awakening Europe“)

Vom 9. bis 12. Juli 2015 fand in Nürnberg der Kongress „Awakening Europe“ statt, zu dem zahlreiche einflussreiche pentekostale Prediger aus dem angloamerikanischen Raum angereist waren. Aus Mosambik war die amerikanische Heilungsevangelistin Heidi Baker gekommen. Ca. 25000 pfingstlich-charismatisch geprägte Christinnen und Christen nahmen an den Veranstaltungen im Grundig Stadion teil. Mehrheitlich kamen sie aus Deutschland, teilweise auch aus anderen, vor allem europäischen Ländern.

Initiatoren des Kongresses waren zwei US-Amerikaner, der Straßenevangelist und internationale Konferenzsprecher Todd White (Pennsylvania), zu dessen Biografie eine längere Zeit der Drogenabhängigkeit gehört, und der ursprünglich aus Melbourne kommende Pastor Ben Fitzgerald, der vom Drogendealer zum Pastor wurde und u. a. für den Bereich „Übernatürlicher Dienst“ (Supernatural Ministry) der Bethel Church in Redding (Kalifornien) zuständig ist. Beide waren im vergangenen Jahr bereits zu einer Veranstaltung des God Encounter Teams in Nürnberg gewesen. Sie begründeten ihr Engagement mit göttlichen Eingebungen im Zusammenhang eines Besuches des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes. 70 Jahre nach Kriegsende soll Vergangenes korrigiert und eine neue Heils- und Errettungsgeschichte mit Nürnberg als Ausgangspunkt geschrieben werden können: „Europe will be saved“.

In Ansprachen wurde unterstrichen, der Kongress sei Startpunkt für eine neue Jesusbewegung, die das Gesicht Europas verändern werde. Erweckung sei nicht allein das, wofür gebetet und worauf gewartet werde, vielmehr habe sie bereits begonnen. Durch eine neue Generation von jungen und alten Christinnen und Christen werde „eine Welle der Errettung über ganz Europa ausgelöst“ werden, „die nicht mehr verebbt“, so formulierte Fitzgerald bereits im Vorfeld im Magazin Charisma. Die Veranstaltungen wurden durch bekannte charismatische Musikgruppen mitgestaltet, u. a. „Jesus Culture“, „God Encounter Band“, „Gospel Forum Band“.

Pentekostale Erweckungsrhetorik ist laut, selbstbewusst und bestimmt von der Erwartung bald eintretender Massenerweckungen. Sie kann sich militanter Metaphorik bedienen, wenn etwa gesagt wird, es gehe darum, Deutschland und Europa „einzunehmen“. Erweckungsversammlungen sind darauf ausgerichtet, starken Gefühlen und emotionalen Ergriffenheitszuständen Raum zu geben, die das Wunder nicht nur erhoffen, sondern erleben und demonstrieren. Peter Wenz vom Gospel Forum Stuttgart, einer Megakirche in Deutschland, sprach von sensationellen Heilungen, die dokumentiert und von Ärzten bestätigt seien. Zu den Präsentationen von Daniel Kolenda vom Missionswerk „Christus für alle Nationen“ (CfaN) gehörte die Überbringung der Grüße des Afrika-Missionars Reinhard Bonnke, seines Vorgängers. CfaN wirbt mit dem Hinweis auf die Errettung von Millionen von Menschen durch eigene Evangelisationskampagnen vor allem in Afrika.

Unabhängige charismatische Bewegungen setzen auf die Sichtbarkeit des christlichen Lebens, auf die Evangelisierung mit Zeichen und Wundern, auf den Gottesbeweis durch paranormale Erfahrungen. Das Wirken Gottes und seines Geistes ist auf das „Übernatürliche“ und die vorzeigbaren Resultate konzentriert. Das verband die unterschiedlichen Akzente, die in den Ansprachen etwa von Paul Manwaring (Bethel Church, Redding), Walter Heidenreich (Freie Christliche Jugendgemeinschaft Lüdenscheid, FCJG), Peter Wenz (Gospel Forum Stuttgart) und Matthias Kuhn (Generation Postmodern Church, Thun/CH) artikuliert wurden.

Der Kongress in Nürnberg erinnerte an die Feuerkonferenzen Reinhard Bonnkes (vgl. MD 12/2007, 466-469), an die Tradition der Jesusmärsche mit ihrer Praxis der geistlichen Kriegführung, an Gebetsexpeditionen und an die gesteigerte Ekstatik des sogenannten Toronto-Segens (Toronto Blessing). In der säkularen und kirchlichen Presse fand die Veranstaltung kaum Erwähnung. Insider mögen die Erweckungssprache mit den beiden Höhepunkten Bekehrungsruf und Einladung zur Geistestaufe und Glossolalie bzw. Sprachengesang verstehen. Die endzeitlich bestimmte Perspektive einer bereits beginnenden Massenerweckung ist für distanzierte Betrachterinnen und Betrachter in einer durch Säkularisierungsprozesse und religiösen Pluralismus geprägten Gesellschaft nicht nachvollziehbar. Die Wirklichkeit, von der nicht alle, aber doch zahlreiche pfingstlich-charismatisch geprägte Christinnen und Christen reden, ist offensichtlich nur für sie selbst erkennbar. Die artikulierten Erweckungsprophetien gehören zum Repertoire pentekostaler Spiritualität wie auch die dazugehörigen Narrationen über übernatürliche Heilungen, exorzistische Rituale, dramatische Bekehrungen und Erfüllungen mit dem Heiligen Geist.

In ökumenischer Hinsicht war der Kongress kein Brückenschlag. Die örtlichen Kirchen artikulierten Distanz zu dem Projekt. Die örtliche Evangelische Allianz äußerte sich zwar anerkennend, euphorische Erweckungsprophetien sind allerdings auch im evangelikalen Spektrum umstritten. Ein starker pentekostaler Enthusiasmus hat in Nürnberg von seiner eigenen glorreichen Zukunft gesprochen. Nur Erinnerungslosigkeit im Blick auf das gestern und vorgestern Prophezeite ermöglicht es, den bevorstehenden Anbruch einer pfingstlichen Erweckung erneut anzusagen. In Europa haben sich solche Ansagen längst an der Realität verschlissen.


Reinhard Hempelmann