Esoterik unter Christen so verbreitet wie im Bevölkerungsdurchschnitt
Jeder, der sich in den großen Kirchen ein wenig umsieht, Gemeindebriefe und Fortbildungsprogramme kirchlicher Träger studiert, kennt das Phänomen, dass da aus Erfahrungssehnsucht, aus Experimentierfreude und Sinnsuche heraus neben christlicher Verkündigung allerlei anderes praktiziert, gelehrt und gelebt wird. Das geht von Reiki im Gemeindehaus über Indianerrituale im Konfirmandenunterricht und heidnische Jahreszeitenfeste im Frauenkreis bis zur reformierten Pfarrerin, die sich selbst als „Schamanin“ und als „Hexe“ bezeichnet.
Eine Umfrage des amerikanischen Pew-Forschungszentrums1 hat nun unter Amerikanern Zahlen erhoben. Sie maßen die Zustimmung zu verschiedenen esoterischen Weltanschauungselementen bei Christen (vier Unterkategorien), Agnostikern, Atheisten und Menschen, die sich keiner dieser Gruppen zuordnen. Die Ergebnisse zeigen, dass esoterische Überzeugungen – Pew benutzt den älteren Begriff „New Age“ – unter Christen ungefähr ebenso weit verbreitet sind wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Unterschiede gibt es aber zwischen verschiedenen Konfessionen bzw. Frömmigkeitstypen.
Konkret wurde die Zustimmung zu vier esoterischen Vorstellungen abgefragt: a) Glaube an spirituelle Energien in physischen Objekten, b) an Channel-Medien (psychics), c) an Reinkarnation und d) an Astrologie. In der Gesamtbevölkerung lag die Zustimmungsrate von a bis d abnehmend bei 42 % bis 29 %. Unter Christen waren die Zahlen jeweils 3 bis 5 % niedriger. Maß man allerdings, wie viele Menschen mindestens einen dieser vier Aspekte bejahten, lag die Gesamtbevölkerung bei 62 % – und die Christen deutlich darüber: „Mainline“ Protestanten 67 %, Historische Schwarze Kirchen 72 % und Katholiken 70 %.
Unter den Christen stach aber eine Gruppe heraus, die sich ganz im Gegenteil stark unterdurchschnittlich auf esoterisches Denken einlässt: Die Zustimmungsrate der Evangelikalen lag 11 bis 20 Prozentpunkte unter dem gesamtgesellschaftlichen und 5 bis 15 Prozentpunkte unter dem christlichen Durchschnitt.
Agnostiker sind hingegen typischer Mainstream, sie liegen z. B. beim Glauben an Reinkarnation und an spirituelle Energien genau im Schnitt, nur bei Astrologie und Channelmedien sind sie ähnlich zurückhaltend wie Evangelikale. Fast völlig aberglaubenresistent waren allein selbsterklärte Atheisten, die auch bei Addition aller vier Alternativen nur auf 22 % kamen.
Am höchsten waren die Zustimmungswerte in einer Gruppe, die sich soziologisch schwer fassen lässt: Menschen, die sich keiner christlichen, aber auch keiner atheistischen oder agnostischen Weltsicht zuordnen wollen. Sie waren in allen Einzelbereichen die Gläubigsten und lagen in der Summe aller vier Kategorien insgesamt bei fast 80 %. Mit einer Zusatzfrage, bei der Menschen sich zwischen „religiös“ und „spirituell“ einordneten, offenbarte die Umfrage zudem, was man ohnehin vermutete: Die Selbstbeschreibung „spirituell, nicht religiös“ ist fast immer ein Euphemismus für eine Beheimatung in „esoterischer“ oder „New Age“-Weltanschauung.
Früher sagte man über den Esoterik-Boom in der westlichen Welt (der vielleicht eher ein Aufmerksamkeitsboom war): „Wenn der Glaube geht, kommt der Aberglaube.“ Das scheint einen allzu großen Graben zwischen Weltdeutungen vorauszusetzen, den viele Menschen so nicht sehen. Eher muss man vielleicht mit Georg Christoph Lichtenberg konstatieren: „Wenn Religion der Menge schmecken soll, so muss sie notwendig etwas vom hautgoût des Aberglaubens haben.“
Kai Funkschmidt
Anmerkungen
- Claire Gecewicz: „New Age“ beliefs common among both religious and nonreligious Americans (October 2018), www.pewresearch.org/fact-tank/2018/10/01/new-age-beliefs-common-among-both-religious-and-nonreligious-americans.