Euro-/Europäischer Islam
Die kontroverse gesellschaftliche Debatte zur Frage nach der Zugehörigkeit des Islam zu Europa zeigt, dass sie für viele (noch) keine Selbstverständlichkeit ist. Wäre sie es, bedürfte es keines in der islamischen Theologie ausgeprägten Engagements für einen „europäischen“ Islam und auch keines eigenständigen Stichworts dazu. Dabei hat sich der Islam im Laufe seiner mittlerweile 1400-jährigen Geschichte in einem Maße als anpassungsfähig erwiesen, dass sich die akademische Forschung angesichts seiner in dieser Zeitspanne gewachsenen Vielgestaltigkeit in der Bestimmung eines übergreifend „Islamischen“ sehr zurückhaltend zeigt. Und auch in Europa entwickelte der Islam, trotz seines durch die Reconquista 1492 u. Z. erzwungenen Rückzugs aus Spanien, eine besondere Identität, so dass sich ein „europäischer“ Islam gleichsam als Selbstverständlichkeit erweist. Warum sollte es nicht, ebenso wie es einen Afro-, Indo- und Sino-Islam gibt, auch einen „europäischen“ Islam geben? Aus religionshistorischer und -geographischer Sicht besteht an dessen Existenz ohnehin kein Zweifel: Seit der Eroberung der iberischen Halbinsel durch einen Umayyadenspross im Jahre 711 u. Z. und der Einverleibung Konstantinopels und des Balkans durch die Osmanen im 15. Jahrhundert gehört zu dem „Europa“ genannten Appendix Asiens eben auch die Religion des Islam und, wie insbesondere bosnische Muslime sagen würden, eine gut etablierte islamisch-europäische Tradition (vgl. Bektovic 2017, 85). Doch bilden die in Europa zu beobachtenden Entwicklungen und Wandlungen der islamischen Religion auf der strukturellen (Institutionalisierung) und der praktischen Ebene (Individualisierung islamischer Glaubenspraxis) nicht den Gegenstand dieses Stichworts. Es streift diese nur am Rande und widmet sich stattdessen, nach einführenden Bemerkungen zum Kontext des islamischen Diskurses in Europa, ausgewählten hermeneutischen Ansätzen zur Formulierung eines „Euro“- bzw. „europäischen“ Islam.
Vom Islam in Europa zum europäischen Islam
Herausforderung europäische Säkularität
So richtig es ist, dass sich der Islam im Laufe seiner Ausbreitungsgeschichte an die unterschiedlichsten Kontexte zu akkommodieren wusste: Die um 1800 u. Z. einsetzende, mit Säkularisierung und Kolonialisierung verbundene Moderne hat den Islam insbesondere in Europa vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Die sich dort ausbildende säkulare Ordnung mit ihrer grundsätzlichen Trennung von Staat und Religion und ihren Axiomen der Selbstbestimmung der Persönlichkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz stellt ein spezifisch europäisches und der muslimischen Welt zunächst fremdes Phänomen dar. Hinzu kommt, dass das klassische islamische Recht einen dauerhaften Aufenthalt von Muslimen in der nichtmuslimischen Welt nicht vorsieht: „Nur bitterste Notwendigkeit“ (Lewis 1996, 79) könne einen Muslim dazu bewegen, unter nichtmuslimischer Herrschaft zu leben. Der klassische Religionsgelehrte al-Ġazālī (gest. 1111) war sich mit der muslimischen Gelehrsamkeit darin einig, dass dem Koran entsprechend nur ein islamischer Herrscher die Durchsetzung der islamischen Lebensordnung (šarīʿa) und damit den Schutz der fünf „Notwendigkeiten“ (ḍarūriyyāt) des islamischen Rechts – d. h. Kultordnung (dīn), Leben (nafs), Verstand (ʿaql), Fortpflanzung/Nachkommenschaft (nasl) sowie materiellen Besitz (māl) der Muslime – garantieren könne.
Institutionalisierung und Domestizierung
Im Jahr 1923 lief mit dem Ende des (osmanischen) Kalifats dieses zentrale, das muslimische Selbstverständnis mitfundierende Garantieversprechen aus. Zeitgleich kam es, verstärkt nochmals in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu einer zunehmenden Migration von Muslimen nach Europa. Weil der Islam keine zentralen Lehrinstanzen kennt und sich somit jeder Gläubige grundsätzlich einer eigenen Lesart von Islam verschreiben kann, sahen sich die europäischen Aufnahmeländer spätestens in den 1990er Jahren dazu veranlasst, die Institutionalisierung und Verwaltung des Islam selbst zu übernehmen. Die Etablierung nationaler islamischer Konferenzen wie der spanischen Comisión Islámica de España (1992), dem französischen Conseil du culte musulman (2003) oder der Deutschen Islam Konferenz (2006) ist ein Zeichen dafür, dass sich europäische Regierungen mit einer einfachen Toleranz des Islam in Spanien, Frankreich oder Deutschland nicht begnügen, sondern bestrebt sind, einen „einheimischen“ Islam zu befördern und die Abhängigkeit muslimischer Gemeinschaften von den Regierungen ihrer Herkunftsländer aufzubrechen.
Zwar versucht auch der 1997 von der Föderation der Islamischen Organisationen in Europa gegründete European Council for Fatwa and Research (ECFR) auf die Probleme der Muslime in (West-)Europa zu reagieren, doch betrachtet er sie nach wie vor als eine Minderheit in der Diaspora, die sich vor einer Assimilation an die nichtmuslimische sowie nicht- oder gar areligiöse Mehrheitsgesellschaft schützen muss. Mit seinen Rechtsentscheiden/Fatwas trägt das ECFR daher zur Entwicklung eines ausgesprochenen Minderheitenrechts (fiqh al-aqalliyāt) bei, nicht aber zu einer Integration der Muslime in die säkulare Gesellschaft.
Weil Religion nicht „zum trennenden Element der Gesellschaft“ werden dürfe, wie es in einem Sammelband zum „Islam europäischer Prägung“ heißt, bedürfe es zur Gewährleistung der „Übereinstimmung der Glaubensinhalte des Islam mit unserem europäischen Wertefundament“ einer „Auslegung religiöser Schriften in Einklang mit Grundsätzen wie der Gleichberechtigung von Mann und Frau, dem Vorrang staatlicher Gesetze vor religiösen Normen und der Trennung staatlicher und religiöser Institutionen“ (Österreichischer Integrationsfond 2018, 3). Sehen manche Migrationsforscher in diesen Bestrebungen „die Verwestlichung der religiösen Praxis“ (Laurence 2012, 149)1 befördert, kritisieren andere das sich darin äußernde hegemoniale Bestreben einer Disziplinierung und Domestizierung des Islam. Die durch Zentren für islamische Theologie geförderte Ausbildung von Imamen, Lehrern und Seelsorgern zu einer den Vorgaben des Staates entsprechenden islamischen Religionskunde und Seelsorge sei nichts weiter als ein regulatives Instrument zur europagerechten Modernisierung des Islam.
Individualisierung und fragmentierte Autorität
Inmitten der besagten Spannung zwischen der von Muslimen wahrgenommenen domestizierenden Fremdbestimmung einerseits und der von ihnen beanspruchten Selbstbestimmung muslimischen Glaubens andererseits setzen die seit 9/11 verstärkt vorangetriebenen Bemühungen der europäischen Länder um die Integration ihrer muslimischen Mitbürger eine neue Entwicklung in Gang. Wenngleich unter dem vom deutsch-syrischen Politologen Bassam Tibi erstmals 1992 verwendeten Begriff „Euro-Islam“ sehr unterschiedliche Denkmodelle verhandelt werden und der Begriff selbst – als obrigkeitliche Fremdbestimmung, paternalistische Vereinnahmung oder gar Domestizierung des Islam verstanden – unter Muslimen auf starke Ablehnung stößt (vgl. Eißler/Borchard 2019), entsteht in der heterogenen und hoch komplexen Gemengelage religiös pluraler Zivilgesellschaften so etwas wie ein „europäischer Islam“: Auf der Basis neuer hermeneutischer Ansätze wird versucht, die traditionelle Spannung zwischen islamischer Glaubenspraxis und säkularer Gesellschaft aufzulösen oder zumindest zu verringern.
Bei aller unterschiedlichen Einschätzung der transformativen Dynamiken muslimischer Selbstauslegung besteht kein Zweifel, dass sich deren Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben: Die zunehmende Pluralisierung religiöser Autorität, die zum einen mit der beschriebenen strukturellen Integration, zum anderen mit der Digitalisierung sozialer Kommunikation einhergeht, lässt neue Räume und Typen islamischer Assoziationen und Gemeinschaften entstehen, die eine Individualisierung islamischer Glaubenslehren und Glaubenspraxis befördern: Der einzelne Gläubige entscheidet nunmehr ganz autonom oder eben in Anknüpfung an Heerscharen von Cyber-Imamen, welche Elemente des Islam er für verbindlich hält oder nicht. Säkulare Kulturmuslime, kritische, progressive, liberale und sogenannte Reformmuslime konkurrieren seither mit mystisch-sufischen, konvertierten, (neo)orthodoxen Muslimen und quietistischen oder aktivistischen Salafisten, Fundamentalisten und Extremisten um die Deutungshoheit über den „wahren“ Islam und stellen dabei ganz nebenbei die Autorität der Moschee-Imame größerer und kleinerer Islamverbände in Frage. Ein deutscher Islamgelehrter beschreibt denn auch die „durch ein traumatisches Rückständigkeitsgefühl ausgeprägt[e]“ moderne Phase des Islam als „eine der chaotischsten Epochen der islamischen Geistesgeschichte“ (Özsoy 2023, 48).
Refigurationen des Islam im europäischen Kontext
Akademisierung und Intentionalisierung
Die neuen Hermeneutiken, die dabei entstehen, lassen – wie im Folgenden kursorisch zu zeigen sein wird – so etwas wie einen Paradigmenwechsel in Richtung auf eine „anthropologische Wende“ (Sejdini 2018, 104) erkennen, deren innerislamische Legitimation mit einem mehr oder weniger reflektierten Rückgriff auf den islamischen Kanon vorgenommen wird. Was die hier exemplarisch zur Sprache gebrachten Konzeptionen eines spezifisch „europäischen“ Islam verbindet, ist das Eingeständnis einer bereits im 19. Jahrhundert einsetzenden und tiefgreifenden Verunsicherung islamischer Selbstauslegung durch die moderne religionsgeschichtliche und bibelwissenschaftliche Forschung. Deren völlig anders gelagerter methodischer Zugriff auf die Texte und Traditionen der sogenannten „Weltreligionen“ hat die klassische Imagination des Koran als unvergleichliches Gotteswort tiefgreifend herausgefordert. Die sich dann im 20. Jahrhundert entwickelnde moderne Bibelexegese gab mit ihren Prinzipien der wissenschaftlichen Schriftauslegung eine immer noch unhintergehbare Grundierung, der sich auch muslimische Gelehrte schwerlich entziehen können.
Muslimische Gelehrte haben auf die damit verbundene hermeneutische Herausforderung seit Ende des 19. Jahrhunderts reagiert, indem sie die Denktradition des Islam und mit ihr die koranische Verkündigung auf ihre grundlegende „Intention“ (maqṣad) zurückführten, um so den Islam von allen legalistischen Konzeptualisierungen und kulturellen Akzidenzien zu befreien. Stilbildend wurde dabei der legitimatorische Rückbezug auf den Rechtsgelehrten aš-Šāṭibī (gest. 1388), der in seinem epochemachenden rechtstheoretischen Werk Al-muwāfaqāt („Konkordanzen“) die mit der „originalen“ Intention des koranischen Diskurses (qaṣd al-ḫiṭāb) kongruierenden „Intentionen“ bzw. „Universalien des Rechts“ (kulliyāt aš-šarīʿa) zur höchsten Instanz der islamischen Normen erhob. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die bereits von aš-Šāṭibī eingeführte Unterscheidung zwischen mekkanischer und medinensischer Verkündigung. Sie wurde im 20. Jahrhundert von dem sudanesischen Gelehrten Maḥmūd Muḥammad Ṭaha (1909–1985) nochmals radikalisiert, der in seinem einschlägigen Werk zur „zweiten Botschaft des Islam“ (1967) die bindende Autorität des Koran auf dessen mekkanische Suren reduziert. Weil die zu Zeiten des Propheten beduinisch geprägte Stammesgesellschaft deren grundlegende Botschaft, die Offenbarung der ewigen Gottesliebe, aus mentalitätsgeschichtlichen Gründen noch nicht aufzunehmen vermocht habe, sei in Medina eine Akkommodation an die vorislamischen Sitten der Araber des 7. Jahrhunderts notwendig gewesen. Der in der Moderne erreichte zivilisatorische Fortschritt der Menschheit hingegen gebiete es – so argumentiert auch Abdullāhi an-Naʿīm (2008), ein den Reformislam maßgeblich mitbestimmender Schüler Ṭahas –, wieder die humanistisch-ethischen „Grundintentionen“ (maqāṣid) der mekkanischen Offenbarungszeit zur Geltung zu bringen.
Modernistische Trennungen: Spirituelle Religion und kulturelles System
Angestoßen von der Frage, warum die Bedingungen, unter denen die muslimische Umma in der Welt lebt, nicht im Einklang mit ihrer koranischen Beschreibung als „beste jemals erschaffene Gemeinschaft“ (Q 3,110) stünden, sprach sich Bassam Tibi (geb. 1944) Anfang der 1990er Jahre für die Etablierung eines „Euro-Islam“ aus. Ähnlich wie an-Naʿīm nimmt auch Tibi mit Blick auf den Islam eine scharfe Trennung vor: zwischen der als Wertsystem verstandenen spirituellen Religion und dem noch zutiefst von arabischer Kultur und politischer Ideologie beeinflussten kulturellen System (Tibi 2009). Ist die gegenwärtige Krise des Islam und der muslimischen Gesellschaften primär eine kulturelle, wie Tibi meint, so ist sein „Euro-Islam“ eine von den kulturellen Merkmalen des alten Arabiens befreite Form, den Islam in Europa zu leben. Als Gegenbild zur „Shariatisierung“ des Islam wirbt Tibi für dessen Säkularisierung, wobei seine Agenda kultureller Modernität vor allem auch Subjektivität, Pluralismus und Rationalismus betont:
Der Euro-Islam würde den Anspruch auf islamische Dominanz aufgeben und wäre, so definiert, mit der liberalen Demokratie, den individuellen Menschenrechten und den Anforderungen einer Zivilgesellschaft vereinbar. (Tibi 2002, 37f.)
Auch Tareq Oubrou, der sich als Direktor der großen Moschee von Bordeaux und Selfmadetheologe zu einem weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannten Fürsprecher eines europäischen Islam gemacht hat, möchte, vom Gefühl der Liebe zu Frankreich und Europa bewegt, „den Islam als Spiritualität und den Westen als Zivilisation“ miteinander versöhnen, hält aber, um die „kanonische Ehe zwischen dem Islam und dem Westen ohne Scheidung“ zu verwirklichen, ebenfalls eine „theologische Säkularisierung des Islam“ (Oubrou 2009, 216) für notwendig. Ihr müsse es, wie er formuliert, darum gehen, im Kontext der Moderne den untrennbar mit dem Korantext verbundenen „ursprünglichen Diskurs“ („original discourse“, ebd., 131) zu reproduzieren und die dem Koran innewohnenden universellen Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Respekt und Menschenwürde offenzulegen. In dem Moment, in dem der Islam sich von allen politischen Systemen emanzipiert bzw. – das ist hier mit Säkularisierung gemeint – sich entpolitisiert, gewinnt er „seine ursprüngliche und wesentliche religiöse Dimension“ zurück, wobei hier das Religiöse mit dem Ethischen konvergiert: „Auf die ethische Dimension reduziert“ („reducted to its ethical dimension“) kann der Islam „zur Prosperität nichtmuslimischer Gesellschaften“ (ebd., 37f.) beitragen.
Rezeptionshermeneutik: Universale Werte und kulturübergreifende Sozialethik
Unter dem Eindruck der Terroranschläge in New York, Madrid und London verfasste der bosnische Mufti und Religionsgelehrte Mustafa Cerić, einer der bekanntesten Fürsprecher eines autochthonen europäischen Islam, 2005 eine Erklärung europäischer Muslime (A Declaration of European Muslims), in der er den Islam aufgrund seiner natürlichen Verbindung von Transzendenz und Immanenz, von Diesseits und Jenseits als „integrative Kraft in Europa“ (Cerić 2019, 21) beschreibt. Als eine „universelle Gemeinschaft inmitten der weltlichen Angelegenheiten“ vermöge die islamische Gemeinde „die unermessliche Größe des Göttlichen und die unermessliche Vielfalt des Menschlichen aktiv einander anzunähern, sie zu verbinden und in Einklang zu bringen“ (ebd., 19). Der rechtsintentionalistische Ansatz, dem sich auch Cerić verpflichtet sieht, liest die „Absichten“ und „Notwendigkeiten“ des islamischen Rechts – nach klassischer Lesart Grundvoraussetzungen zur Erlangung des eschatologischen Heils im Jenseits – nun als Grundaspekte einer modernen islamischen Ethik.
Der Cerićs Ansatz kennzeichnende Fokus auf religionsübergreifende Topoi wie Spiritualität, Frömmigkeit und Humanität sowie auf „Würde“ und „Mündigkeit“ des Menschen begegnet auch in der „humanistischen“ Lesart des zuletzt an der Universität Utrecht lehrenden ägyptischen Korangelehrten Naṣr Ḥāmid Abū Zaid (1943–2010). Im Horizont einer „offenen demokratischen Hermeneutik“ eröffne der Koran „die Möglichkeit der Aneignung der beabsichtigten Bedeutung in ein jedes Paradigma der Bedeutung“, übersetzt: den Freiraum zur eigenständigen, an der modernen Lebenswelt orientierten Bedeutungszuschreibung. Das Hindernis für die Modernisierung sei nicht der Islam, sondern „der zeitgenössische Muslim“ (Abū Zaid 2004, 95f.99).
Letzterer müsse nur daran erinnert werden, so betonen an Abū Zaid anknüpfende Vertreter einer humanistischen Hermeneutik wie Mouhanad Khorchide, dass der Koran keine unabhängig vom Leser existierenden „objektiven Einsichten“ vermittelt, sondern seine Botschaft „in ständiger Interaktion“ (Khorchide 2019, 102) mit ihm entwickelt. Zugleich diene er der Ableitung ethischer Prinzipien, die mit den „zentrale[n] Werte[n] der Französischen Revolution“ konvergieren, die „für ein friedliches und konstruktives Zusammenleben unentbehrlich [sind]: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Mehr noch: Mit seiner natürlichen Verbindung mit dem Göttlichen könne der „Geist eines humanistischen Islam“ den Mangel an Spiritualität, an dem Europa leidet, beheben und „einen Beitrag dafür leisten, dass Europa spiritueller wird“ (Khorchide 2018, 15.18f). Zugleich trage er so zur „Erweiterung der europäischen Identität“ als nicht mehr nur „jüdisch-christlich“, sondern als „jüdisch-christlich-muslimisch“ (ebd., 25f.) bei.
Theosophische Mystik: Überwundene Religion und bewahrte Transzendenz
Noch weiter als Abū Zaid und Khorchide geht der französische Gelehrte Abdennour Bidar (geb. 1971), der die antagonistische Konstellation von Euro- und Islamozentrismus und das klassische dichotome Denken (religiös vs. säkular, heilig vs. profan) durch eine existentialistisch-theosophisch „erweiterte Sicht des Heiligen“ (Hashas 2019, 140) zu überwinden sucht. In dem Moment, in dem sich in jedem Anblick, jeder Handlung und jedem Gedanken Gott als das „Große Leben“ („la Grande Vie“) manifestiere, sei der Islam als „Religion“ überwunden; es sei daher jedem muslimischen Gewissen freigestellt, in einem „islam personnel“ seinen eigenen Kodex der Zugehörigkeit zur islamischen Kultur auszubilden. Den Raum zur Entwicklung eines solchen „Self Islam“ biete allein Europa, weil es „der einzige Raum in der Welt zu sein scheint, der wirklich säkular ist, d. h. der die Religion überwunden hat“. Der „Genius eines nichtreligiösen Islam (génie de l'islam non religieux)“ bedarf des „Genius Europas (le génie de l'Europe)“ (Bidar 2006, 41.207f.), um sich manifestieren zu können. Zugleich könne dieser nichtreligiöse Islam mit seinem spezifischen Potential zur Konvergenz von religiöser und weltlicher Sphäre zu einer integrierenden Kraft in Europa werden. Denn mit der von der Aufklärung angestoßenen Trennung vom Heiligen habe Europa, so die Überzeugung, mit der Religion zugleich auch Gott „geopfert“ (Hashas 2019, 149). Wolle der Westen nicht seinen nihilistischen Weg fortsetzen, werde er einen Weg finden müssen, beides, das Heilige und das Profane, wieder miteinander zu versöhnen:
Der europäische Islam integriert die Werte der Moderne und bereichert sie, indem er sie wieder mit dem Göttlichen verbindet […]. Er bewahrt das Göttliche in seiner Modernität. (Hashas 2019, 459)
Kritischer Ausblick zum Topos „europäischer Islam“
Universale Spiritualität und Identität
Die Schlaglichter auf Konzeptionen eines „europäischen“ Islam lassen nicht nur eine Liberalisierung hermeneutischer Prinzipien der Schriftauslegung erkennen, sondern auch eine Tendenz zur Verbindung der Religion des Islam mit dem modernen Topos der Spiritualität. Die in mannigfachen Schattierungen begegnende Rede von den spirituellen Ressourcen und dem „Geist“ des Islam knüpft an eine mit der Moderne verbundene Entwicklung an, die bereits mit dem durch den Kolonialismus nochmals mitbeförderten Religionskontakt im 19. Jahrhundert einsetzt: Unter dem Einfluss einer zunehmenden Verinnerlichung im Verständnis von „Religion“ kommt es zu einer Privilegierung von „Erfahrung“ als Kategorie einer möglichst unbestimmten, als universale Ressource fungierenden Spiritualität. Doch dient der auf eine Versöhnung divergenter Traditionen hinzielende Rekurs auf kaum konkretisierte Konzepte wie Erfahrung und Spiritualität andererseits zugleich dazu, den besonderen, d. h. inklusivistischen und integrierenden „spirit“ des Islam zu markieren. Das säkulare Europa, das eine Spiritualisierung und Ethisierung des Islam ermöglicht, bedürfe zugleich einer Rückbindung an das im Zuge der säkularen Trennung von Religion und Staat verloren gegangene „Göttliche“.
Der Topos der Spiritualität erfährt somit im selben Moment, in dem er zur universalen interreligiösen Kategorie mutiert, eine der Identitätsfindung dienende Instrumentalisierung. Als „eigene Domäne der Souveränität“ (Partha Chatterjee) stellt er dem Bereich des Materiellen, Ökonomischen und Technischen, all dem also, worin Europa bzw. der „Westen“ als überlegen wahrgenommen wird, einen „inneren“, die „wesentlichen“ Merkmale kultureller Identität beinhaltenden Bereich gegenüber. Das Bestreben, ein Gegengewicht zu jahrhundertealten orientalistischen Essentialisierungen des Islam (als das Nichteuropäische) zu schaffen und dessen Kompatibilität mit den Topoi der säkularen Moderne aufzuzeigen, verführt die Muslime dazu, wie Özsoy (2023, 50) kritisch vermerkt, „in den alten Korantext neue Sinnzuschreibungen hineinzuprojizieren, die ihm substantiell fremd sind“: „Reformistische Überinterpretationen“ suchen mittels „philologischer Schachzüge“ und „unter Missachtung historischer Sachverhalte“ eine „künstliche Verbindung zwischen dem koranischen Wortlaut und dem gegenwärtigen Zustand“ herzustellen, bringen jedoch „nichts als harmlose Bedeutungen hervor“.
Diskursives Wissen und authentische Praxis
Was eine historisch sensibilisierte, die rezente Forschung zum Koran mitaufnehmende Lesart des Islam erschwert, ist das den traditionellen Islam kennzeichnende substantielle Verständnis islamischer Tradition. Es geht von einer „historisch und zeitlich nicht kompromittierbaren Substanz des Islam“ (Dziri 2023, 9) aus und liegt, wie Amir Dziri hellsichtig vermerkt, in einem „dezidiert theologischen Momentum“ begründet: Die eine subjektive Erkenntnisfähigkeit des Menschen restringierende Betonung der Allmacht Gottes hat die muslimische Glaubenspraxis zu einer Nachahmung des Propheten und die prophetische Tradition (sunna) zu einer gleichwertig neben dem Koran stehenden „Erinnerung zweiter Ordnung“ (ebd., 122) werden lassen. Diese bietet den Muslimen nicht nur eine sehr viel elementarere lebenspraktische Orientierung, sondern auch ein deutlich intensiveres Identifikationspotential als der Koran selbst. Und sie perpetuiert mit ihrer sich aus der Vorstellung der Vorbildlichkeit des Propheten entwickelnden Erkenntnislehre eine Oppositionalität, die eine reformerische Hermeneutik erheblich erschwert: Der gottwohlgefälligen, die Gemeinschaft konstituierenden und stabilisierenden sunna („Gewohnheit“) steht die als „Gewohnheitsbruch“ zu übersetzende, die Gemeinschaft spaltende „Neuerung“ (bidʿa) gegenüber. Anders formuliert: Das internalisierte implizite Wissen der Gläubigen sieht den islām vornehmlich in der „tätigen Gottergebung“, so wäre der Begriff präzise zu übersetzen, und damit im aktiven Gehorsam gegenüber dessen fünf „Säulen“ (Glaubensbezeugung, Gebet, Pflichtabgabe, Fasten, Pilgerfahrt) begründet und zeigt an den hermeneutischen Glasperlenspielen muslimischer Reformer wenig Interesse: Es besteht „kein direkter Zusammenhang zwischen der täglichen Praxis der Muslime im europäischen Kontext und der Interpretation des Islam durch die muslimische intellektuelle Elite“ (Bektovic 2017, 86). Zudem begründet der traditionelle Islam den die Überlieferung absichernden Formalismus mit einer der koranischen Botschaft als auch der muslimischen Gemeinde selbst eingeschriebenen eschatologischen Dringlichkeit: Infolge ihres Selbstverständnisses, die letzte durch Gott legitimierte Offenbarungsgemeinschaft zu sein, fürchtet die Umma um den „Verlust der ihr anvertrauten Erlösungsbotschaft“ (Dziri 2023, 126) und sucht diese umso vehementer vor jeglicher Korrumpierung zu bewahren. „Nicht Aktualisierung oder Revision“ ist demnach der Zweck der Reform, sondern „die Überwindung der Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit“: Wenn auf der einen Seite „die Idealität des Islams“, auf der anderen Seite das „Unvermögen des Menschen“ steht, mündet Aktualisierung von Sinn zwangsläufig in eine Form von „Korrektur“ (ebd., 183).
Strategische Repräsentationen und Teleologie
Wie die Schlaglichter auf ausgewählte Protagonisten eines „Euro“- oder „europäischen“ Islam weiter erkennen lassen, liegt den progressiv-aufklärerischen Relektüren der islamischen Tradition eine hohe gestalterische Dynamik zugrunde: Ihre Perspektiven auf den Islam als gleichsam außerhalb der Zeit stehende ahistorische Größe kennzeichnet das, was Worten, Kategorien und Narrativen seit jeher eigen ist: Sie privilegieren und verleugnen, schaffen Neues und streichen (oder transformieren) Altes. Die alle vorgestellten Ansätze verbindende Orientierung an aš-Šāṭibīs Methode der „Konkordanz“ erlaubt es ihnen, die klassischen Gebote des islamischen Rechts im Begriff eines nicht näher bestimmten Naturrechts aufgehen zu lassen, sie bleibt aber vornehmlich instrumentell: Was sie nicht in den Blick nimmt, ist der epistemologische, im göttlichen Heilswillen begründete Voluntarismus dieser Methode, deren Zweck es war, das ausgesprochen probabilistische Moment des islamischen Rechts, d. h. den hohen Grad an Wahrscheinlichkeitsaussagen, auf ein Mindestmaß zu reduzieren und damit dessen Universalität abzusichern. Und es ist die grundlegend teleologische Dimension des Rechts selbst: Dessen Telos (ġaraḍ) sah aš-Šāṭibī ausdrücklich auf das Ergehen im Jenseits gerichtet, so dass alle irdischen Güter „dem jenseitigen Nutzen der vor Gott Verantwortlichen“ (aš-Šāṭibī o. J., Bd. 2, 295) zu dienen haben bzw. umgekehrt die jenseitigen Güter der dem Funktionieren des Gemeinwesens dienenden „notwendigen Güter“ bedürfen: „Primärer Zweck“ (al-maqṣad al-aṣlī) der göttlichen Sendung von Gesandten ist es, „das Diesseits als Saatfeld für das Jenseits (mazraʿa li-dār uḫra) zu benennen“ (ebd., 195).
Soll die von Muslimen in Europa vorgenommene Auseinandersetzung mit ihrer Glaubenstradition nicht allein von politischen, interkulturellen und interreligiösen Zweckmäßigkeiten bestimmt bleiben oder gar zur theologischen Lobbyarbeit werden, wird sie sich von ideologischen Vorstellungen, was Muslime eigentlich sein könnten oder sollten, lösen und sich stärker mit den real lebenden und glaubenden Menschen beschäftigen müssen, auch mit ihrem Unvermögen, der „Idealität des Islam“ zu entsprechen. Denn die Bedeutung des jenseitigen Heils, das die im Diesseits in einer existentiellen Prüfung vor Gott stehenden Gläubigen für sich erhoffen, wird auch im säkularisierten Europa nicht abnehmen. Zum europäischen Islam werden auch weiterhin nicht nur mystische und liberale, sondern auch salafistische und fundamentalistische Lesarten gehören, und leider auch der manchmal mehr, manchmal weniger gewaltförmige islamisch begründete Extremismus. Der von Bidar erwähnte „Genius Europas“ wäre eingeschränkt, würde er allein die Verinnerlichung, Ethisierung und Spiritualisierung der Religion (des Islam) implizieren. Er steht ebenso für eine selbstreflexive Religionskritik, deren Anwendung auf den Islam dazu verhelfen könnte, ihn vom Odium des Nichteuropäischen zu befreien.
Rüdiger Braun, Berlin, 03. September 2023
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Anmerkungen
- Alle Übersetzungen in diesem Text RB.