„Evangelikale sind auch sozialdiakonisch engagiert“
Ein Interview mit Hartmut Steeb
Die evangelikale Bewegung hat ihre Wurzeln im Pietismus und in der Erweckungsbewegung. Heute ist sie sowohl in den klassischen Freikirchen als auch in Teilen der Landeskirchen präsent, wenn auch regional unterschiedlich ausgeprägt. Das evangelikale Netzwerk „Deutsche Evangelische Allianz“ (DEA) unterhält zu ca. 350 überregionalen Werken und Verbänden Kontakte. Mehr als 1000 örtliche Allianzkreise, deren Teilnehmer aus verschiedenen Kirchen und Gemeinschaften stammen, wissen sich durch gemeinsame Überzeugungen, die „Glaubensbasis“ der DEA, verbunden (www.ead.de/ueber-uns). In der Öffentlichkeit bestehen häufig Unkenntnis und Vorurteile gegenüber dieser konservativen Strömung des Protestantismus, die transkonfessionell ausgerichtet ist. Immer wieder haben auch Weltanschauungsbeauftragte kritische Rückfragen an bestimmte Tendenzen in dieser Bewegung gestellt. Über drei Jahrzehnte, bis 2019, war Hartmut Steeb Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz. Im folgenden Interview beantwortet er Fragen von Michael Utsch.
Versteht sich die evangelikale Bewegung als eine lebendigere Alternative zu den traditionellen Landeskirchen, deren Mitgliederzahlen zurückgehen und die manche auf einem sterbenden Ast wähnen?
Manche Kritiker behaupten, bei den Evangelikalen geriete die Kirche als vielfältiger Leib Christi aus dem Blick. Doch das ist falsch. Denn gerade in der Deutschen Evangelischen Allianz, unbestritten noch die Hauptströmung innerhalb der gewiss pluralen evangelikalen Bewegung in Deutschland, ist völlig klar, dass die Zugehörigkeit zum Leib Christi wichtiger ist als die Zugehörigkeit zu einer einzelnen Kirche oder Konfession. Es gibt wenige christliche Gremien, in denen das Leitungsgremium – bei der Deutschen Evangelischen Allianz trägt es die Bezeichnung „Hauptvorstand“ – Mitglieder aus 14 verschiedenen Konfessionen bzw. Denominationen ausweist. Wir sind keine Kirche, deshalb auch keine Alternative zu Kirchen. Wir suchen vielmehr im Sinne unseres Auftrags als Einheitsbewegung die Gemeinschaft der Christen aus den verschiedenen Kirchen.
Immer wieder wird Evangelikalen ein zu enges, dogmatisches Schriftverständnis vorgeworfen. Gilt das auch heute noch?
In unserer Glaubensbasis haben wir das Schriftverständnis klar formuliert: „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ Dabei ist das Bemühen, die Schrift von ihrer Mitte her, von Jesus Christus aus zu verstehen. Erst von da aus gelingt ein Verständnis der Gebote und Ordnungen Gottes, wie sie etwa in der Bergpredigt formuliert sind. Die Bibel ist die „Norm der Normen“. Auf ihren Aussagen gründen die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz und die Lausanner Erklärung für Weltevangelisation.
Wie harmonisiert die evangelikale Bewegung denn etwa eine historisch-kritische Lesart der Auferstehung Jesu von den Toten als ein symbolisches Geschehen mit der wortwörtlichen Auslegung?
Bei der Auferstehung des Gottessohnes Jesus Christus geht es nicht um eine Deutungsfrage, sondern um eine historische Tatsache. Paulus hat erkannt: Ohne die Wirklichkeit der Auferstehung als geschichtliche Tatsache bräuchten wir keine Kirche, der Glaube an Jesus Christus wäre eine Verführung. Wir hätten keinen Grund, mit der Wiederkunft von Jesus Christus zu rechnen. Auch die Frage unseres Weiterlebens nach dem Tod hinge in der Luft (1. Kor 15,1-34). Darum gibt es hier auch keine Möglichkeit der Harmonisierung. Das Apostolische Glaubensbekenntnis ist in seinen Inhalten nicht verhandelbar.
Stimmen Sie der Einschätzung zu, dass Teile der evangelikalen Bewegung mit rechtspopulistischen Strömungen sympathisieren? Sehen Sie Handlungsbedarf, dort in Ihren Kreisen Grenzen aufzuzeigen?
Die Frage signalisiert, dass schon klar wäre, was denn „rechtspopulistisch“ ist. Manche werfen den „Bekenntnis-Evangelikalen“ vor, dass sie die Autorität der Bibel zur Begründung rechtskonservativer Politik und Moral benutzen. Das ist ein unbegründeter Vorwurf. Hier stellt sich die Frage, was denn mit „rechtskonservativer Politik“ gemeint ist. Ich selbst habe erlebt, dass mein Einsatz für das unbedingte Recht des Menschen auf Leben, von der Zeugung an bis zum natürlichen Tod, mein Einsatz für die Ehe und Familie als einer verbindlichen Liebes- und Treuegemeinschaft eines Mannes mit einer Frau und Kindern, aber auch der Einsatz gegen die Ideologie des Genderismus und für die Unterscheidung von Toleranz und Akzeptanz als „rechts“ dargestellt wurden. Aber hier geht es um den Einsatz für biblische Werte. Die Überzeugung, dass die Heilige Schrift die „Norm der Normen“ ist, führt uns zu solchen Positionen. Als Konsequenz dieses Grundsatzes haben wir uns als Deutsche Evangelische Allianz aber schon vor der sogenannten Flüchtlingskrise klargemacht, dass für uns die Freundlichkeit gegenüber Fremden ein klares biblisches Gebot ist. Wir werden Menschen in Notlagen selbstverständlich zu Hilfe eilen! Allerdings müssen sich die christlichen Gemeinden noch stark anstrengen, um auch Christen anderer Kulturen und anderer Sprachen in unserem Land integrationsförderlich zu begegnen und einzubeziehen. Natürlich können wir nicht ausschließen, dass es auch in „unseren Kreisen“ andere Positionen gibt. In der Deutschen Evangelischen Allianz besteht aber ein klarer Konsens, dass rassistische und geschichtsverfälschende Positionen in ihren Reihen keinen Platz haben. Im Übrigen darf man eine Bewegung als Ganzes nicht von einzelnen Äußerungen her bewerten, sondern muss sie von ihrer Mitte her betrachten. Man kann und darf ja auch nicht jede Äußerung eines Amtsträgers in einer evangelischen Landeskirche oder in der EKD selbst nehmen und darauf schließen, dass das nun die Position der EKD sei.
In den USA vermeiden immer mehr „fromme“ Christen die Selbstbezeichnung „evangelikal“, um nicht politisch in eine rechtskonservative Ecke gerückt zu werden. Gibt es solche Tendenzen auch in Deutschland?
Viele „Bekenntnis-Evangelikale“ lieben den Begriff „evangelikal“ nicht, weil sie sich z. B. eher als Lutheraner verstehen wollen und auch den auf Mission und Bekehrung zielenden Impetus nicht teilen. Das sind also gar nicht in erster Linie politische Gründe. Evangelikale haben keine grundsätzliche Distanz zur Politik. Gerade die Evangelische Allianz hat immer sehr deutlich gemacht, dass sie auch einen gesellschaftspolitischen Auftrag hat. Das betont sie schon seit ihrer internationalen Gründung im Jahr 1846, aber auch in den letzten 30 Jahren. Dabei stehen wir allerdings für sachliche Überzeugungen und nicht für bestimmte politische oder gar parteipolitische Richtungen.
Findet die AfD einen günstigen Nährboden bei den Evangelikalen?
Ich bin kein guter Beobachter der AfD. Unter deren führenden Köpfen befinden sich auch keine Evangelikalen. In den öffentlichen Äußerungen ist die Deutsche Evangelische Allianz parteipolitisch aus den schon genannten Gründen sehr zurückhaltend. Darüber hinaus will der Verband nicht in die Gewissensfreiheit des Einzelnen eingreifen. Darum haben wir den Einzug der AfD in den Bundestag ebenso wenig in unserer Erklärung nach der Wahl kommentiert wie den Wiedereinzug der FDP. Uwe Heimowski, der Politikbeauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz, hat in einer persönlichen Erklärung geschrieben, dass der Erfolg der AfD vor allem in Ostdeutschland ein Schock für ihn gewesen sei. Das ist kein Widerspruch zu dieser Grundhaltung.
Aber gibt es in einer sich pluralisierenden evangelikalen Bewegung nicht auch die Notwendigkeit, Grenzen zu markieren?
Freilich macht der Pluralismus ein genaues Hinschauen und Differenzieren nötig. Dann wird man wahrnehmen, dass die von manchen behauptete Beschränkung und Engführung der Evangelischen Allianz auf die „heißen“ Themen Homosexualität, Genderideologie und Abtreibung einer nüchternen Betrachtung nicht standhält. In der Erklärung der Deutschen Evangelischen Allianz zur „Ehe für alle“ aus dem Jahr 2017 haben wir uns positioniert. Das Thema wurde aber nie von uns auf die Tagesordnung der Öffentlichkeit gesetzt! Es gibt vielmehr eine kleine, aber gut vernetzte Gruppe von Lobbyisten und Medien, die diese Themen permanent auftischen. Es entspricht auch einer Schieflage des Beobachters, wenn behauptet wird, dass das Thema des Schutzes ungeborenen Lebens in eine sekundäre Rolle gedrängt worden sei. Wir haben zum Thema Homosexualität nie öffentliche Veranstaltungen gemacht und darum auch nicht so viel Gegenwind erzeugt wie zu dem von uns jährlich mitgetragenen „Marsch für das Leben“ mit einigen Tausend Menschen in Berlin. Leider nehmen Kritiker auch unser starkes Engagement für Flüchtlinge und die damit verbundenen Herausforderungen gar nicht zur Kenntnis. Die Deutsche Evangelische Allianz ist sehr wohl sozialdiakonisch engagiert! Wir haben zu keinem anderen Aufgabengebiet einen eigenen Referenten eingestellt. Außerdem haben wir uns schon sehr frühzeitig, im März 2014, zum Thema Migration und Einwanderung mit unserer Stellungnahme „Fremde willkommen“1 positioniert, aber auch zu den aktuell bleibenden Herausforderungen, bis hin zum Einwanderungsgesetz.2
Anmerkungen
- Fremde Willkommen – Stellungnahme zu Fragen der Integration, www.ead.de/fileadmin/DEA_Allgemein/Stellungnahmen/Fremde_willkommen.pdf (Abruf: 10.3.2020).
- Vgl. Stellungnahme des Geschäftsführenden Vorstands der Deutschen Evangelischen Allianz zur Flüchtlings- und Integrationspolitik, www.ead.de/fileadmin//DEA_Allgemein/Stellungnahmen/Migration_Integration_Fluchtursachen-bekaempfen.pdf (Abruf: 10.3.2020).