Werner Thiede

Evangelische Kirche. Schiff ohne Kompass? Impulse für eine neue Kursbestimmung

Werner Thiede, Evangelische Kirche. Schiff ohne Kompass? Impulse für eine neue Kursbestimmung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017, 280 Seiten, 29,95 Euro.

Der Publizist und Theologe Werner Thiede hat ein klar gegliedertes Buch verfasst, das im ersten Teil (A. Herausforderungen, 13-94) seine Sorge über den gegenwärtigen Kurs der evangelischen Kirche zum Ausdruck bringt. Im Teil zwei (B. Vergewisserung, 95-195) entfaltet er Grundorientierungen der reformatorischen Lehre von der Kirche. Im dritten Teil (C. Perspektiven, 196-208) werden 95 Thesen formuliert, die auf eine Profilerneuerung des Protestantismus abzielen und auf die erörterten Themen zusammenfassend und programmatisch eingehen. Das Geleitwort zum Buch schrieb der Kirchenhistoriker, ehemalige Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig und langjährige Hauptherausgeber der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) Gerhard Müller. Die Ausführungen des Verfassers werden durch Anmerkungen umfangreich belegt (209-273) und durch Bezugnahme auf wissenschaftliche Literatur (vgl. die zahlreichen Zitationen im Text) dargelegt. Ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister runden das Buch ab.

Thiede zeichnet ein düsteres Bild von der evangelischen Kirche. Säkularisierung und Technisierung haben zu einer problematischen Verweltlichung geführt. Die Stichworte heißen „Kirche ohne Volk“, „Kirche ohne Mission“, „Kirche ohne Bekenntnis“, „Kirche ohne Heiligkeit“. Der Verfasser sieht die evangelische Theologie hauptsächlich auf einem kulturprotestantischen Kurs, den er nicht für zukunftsorientiert hält. „Evangelische Theologie und Kirche tun sich entsprechend schwer, das reformatorische Christus allein zwischen historisch-kritischen und christentumspolemischen Infragestellungen noch substantiell hochzuhalten“ (78). Seine Kritik trägt er nicht abstrakt vor, sondern verdeutlicht sie an zahlreichen Beispielen.

Die Skizze reformatorischer Theologie und Ekklesiologie greift auf Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin zurück und hat durch die Erinnerung an verschiedene reformatorische Traditionen auch den Charakter einer Einführung in die protestantische Konfessionsvielfalt, wobei der religiöse Nonkonformismus der radikalen Reformation weitgehend unerwähnt bleibt. Thiede plädiert für ein sakramentales Verständnis von Kirche, wobei sich ihr „sakramentaler Grundcharakter“ in der konkret existierenden Ortsgemeinde zeigt, wo Wort und Sakrament (Taufe, Abendmahl und „das Sakrament der Absolution“, 206) gefeiert werden und im Zentrum stehen. Trotz der Nähe zu Anliegen neuerer katholischer Ekklesiologie ist Thiede skeptisch im Blick auf die evangelisch-katholische Ökumene. Anders als es in der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zum Ausdruck kommt, geht er davon aus, dass aus römisch-katholischer Perspektive das „sola gratia und das sola fide im reformatorischen Sinn … weiter bestritten werden“ (86). Das ordinierte Amt versteht er deutlich herausgehoben aus dem allgemeinen Priestertum. Der Lektoren- und Prädikantendienst hat „ein Stück weit am geistlichen Amt teil“, bleibt jedoch zugleich „weder theoretisch noch praktisch außerhalb der Verantwortung des ordinierten Amtes“ (205). Im Blick auf virtuelle Gemeinschaftsformen plädiert der Verfasser dafür, die „Face-to-face-Begegnung“ nicht zu vernachlässigen. „Kein digitales Medium kann die Lebendigkeit der Ortsgemeinde … angemessen ersetzen“ (208).

Der Krise der Kirche in der modernen Welt begegnet der Verfasser mit kritischen Anmerkungen zu kulturprotestantischen Relativierungen der christlichen Botschaft. Konservative und liberale Kräfte sieht er auseinanderdriften. Durch die Besinnung auf zentrale Anliegen reformatorischer, vor allem lutherischer Theologie, durch Hervorhebung der Ortsgemeinde als Zentrum kirchlichen Lebens, durch Kritik und Skepsis im Blick auf den Umgang mit neuen Medien im kirchlichen Kontext sieht er Chancen für den Weg der Kirche in die Zukunft. Visitation soll als geistliche Leitung verstanden werden und im kirchlichen Leben stärkere Beachtung finden. Thiede plädiert für die Erneuerung der Kirche aus dem Zentrum der Rechtfertigungsbotschaft und für einen Kurs der Nichtanpassung gegenüber gesellschaftlichen Trends, zum Beispiel in Fragen von Ehe und Familie. Ein kirchliches Lehramt soll zur Profilschärfung genauso beitragen wie eine aus seiner Perspektive notwendige Kultur- und Medienkritik. „Wer die Kirche liebt, wird sie auch kritisieren“, so heißt es in der These 95. In manchen Passagen, u. a. zum Thema Digitalisierung und zum Thema Amt, sind die Aussagen meines Erachtens zu rückwärtsgewandt. Mit dem Verfasser ist zugleich die anspruchsvolle Aufgabe zu unterstreichen, Kirche in der Situation fortschreitender Säkularisierung und religiöser Pluralisierung neu zu profilieren und dabei das reformatorische Erbe zu pflegen und als eine Ressource für Erneuerungsimpulse zu entdecken.


Reinhard Hempelmann