Evangelische Orientierung inmitten weltanschaulicher Vielfalt. Basisinformationen - Argumentationshilfen - Handlungsempfehlungen
Andreas Hahn / Reinhard Hempelmann / Oliver Koch / Matthias Pöhlmann: Evangelische Orientierung inmitten weltanschaulicher Vielfalt. Basisinformationen – Argumentationshilfen – Handlungsempfehlungen, erarbeitet im Auftrag der Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der EKD, 2020, mehrere Links zum Download.1
In der bunten religiös-weltanschaulichen Welt der Gegenwart kommen Gemeinden häufig mit Personen und Gruppen in Kontakt, die ganz anders „ticken“ als ein evangelischer „Normalchrist“ oder eine katholische „Normalchristin“. Besonders häufig sind in Corona-Zeiten die Raumanfragen geworden: Eine Gruppe meldet sich im Pfarramt und bittet darum, am Wochenende für zwei Stunden die Kirche nutzen zu dürfen, weil die eigenen Räume für den Gottesdienst oder andere Treffen nach Maßgabe der Hygieneregeln zu klein sind. Aber was ist das für eine Gruppe? Handelt es sich vielleicht um eine aggressiv-antikirchliche Sondergemeinschaft oder gar um eine „Sekte“, die da beherbergt werden will? Oder um eine dubiose Psychogruppe, die die kirchlichen Räume für irgendwelche manipulativen und/oder kommerziellen Zwecke nutzen will? Ähnliche Fragen stellen sich etwa im Zusammenhang von Patenschaften, Trauungen oder Beerdigungen, aber auch im Rahmen der Seelsorge. Mit wem haben wir es zu tun? Das religiös-weltanschauliche Feld ist unübersichtlich geworden und verlangt mitunter schnelle Orientierung.
Eine solche Orientierung sucht eine gut achtzigseitige Handreichung zu geben, die im Auftrag der Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der EKD von vier Personen aus ihrem Kreis mit langjähriger Forschungs- und Beratungserfahrung (Andreas Hahn, Reinhard Hempelmann, Oliver Koch und Matthias Pöhlmann) erstellt worden ist und die im Internet, in je nach Landeskirche unterschiedlicher Aufmachung, unter mehreren Adressen heruntergeladen werden kann (Internet-Links s. Fußnote 1).
Nach einleitenden Bemerkungen zum weltanschaulichen Pluralismus der Gegenwart und zum problematischen Terminus der „Sekte“ bietet die Informationsschrift eine Überschau verschiedener Strömungen und Gemeinschaften, beginnend im Bereich des Christentums. Es werden die evangelikale und die pfingstlich-charismatische Bewegung beschrieben, die innerhalb wie außerhalb der großen Kirchen begegnen, außerdem die wachsende Gruppe der unabhängigen „Migrantengemeinden“. Es folgen zwei christliche Religionsgemeinschaften, die sich nach ursprünglich großer Distanz auf den Weg ökumenischer Annäherung begeben haben: die „Siebenten-Tags-Adventisten“ und die „Neuapostolische Kirche“. Schließlich werden eine Reihe von Sondergemeinschaften mit christlicher Herkunft vorgestellt, allen voran die wohlbekannten „Zeugen Jehovas“, aber auch weniger bekannte Gruppierungen wie der „Bruno-Gröning-Freundeskreis“ und die „Unitarier“.
Sodann wendet sich die Schrift esoterischen und okkulten Phänomenen zu wie der alltäglich begegnenden Astrologie und dem – glücklicherweise – weniger alltäglichen Satanismus. Es werden Einflüsse asiatischer Spiritualität (Zen, Yoga, Ki-Bewegungen, Ayurveda) und spirituelle Selbstoptimierungsangebote erörtert, die in Deutschland inzwischen einen großen (und auch ökonomisch nicht unbedeutenden) Lebenshilfemarkt bedienen. Aber auch eine dezidierte Religionsdistanz und ihre Interessenverbände werden thematisiert, um schließlich noch die – in jüngster Corona-Zeit unerfreulich prominent hervorgetretene – Erscheinung des Verschwörungsdenkens zu charakterisieren. Einige Notizen zu Methoden und Institutionen weltanschaulicher Beratung runden die Schrift ab.
Wer sich einen Überblick über die relevanten Bewegungen auf dem religiös-weltanschaulichen Feld verschaffen will (abgesehen von den Weltreligionen Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, die ausgeklammert bleiben), sollte zu dieser Handreichung greifen. Auch wer sich rasch – auf jeweils zwei Seiten – über Geschichte und Gegenwart einer religiös-weltanschaulichen Gruppierung informieren will und wer dazu noch einen orientierenden Hinweis zum Umgang aus evangelisch-kirchlicher Perspektive sucht, wird hier fündig. Allerdings ist eine gewisse theologische Vorbildung hilfreich, jedenfalls darf man sich als theologischer Laie von manchen unerläuterten Formulierungen nicht irritieren lassen („Tendenz zum Dualismus“, „rite getauft“, „gnostisierende Tendenzen“, „konstantinische Gestalt des Christentums“).
Was die theologisch-apologetische Orientierungsfunktion angeht, so erweist sich die an sich verdienstliche Knappheit freilich mitunter auch als Problem. Ein Beispiel: „Theologisch problematisch wird die Astrologie darin, dass sie aus außerbiblischen Traditionen entsprungen ist und sich faktisch immer wieder mit solchen verbindet“, heißt es im betreffenden Abschnitt 4.3 (Ausgabe für Bayern, 44). Aber gilt solches nicht ebenso für die Astronomie und die Naturwissenschaften überhaupt? Sind diese Disziplinen daher ebenso problematisch? Das ist sicher nicht die Ansicht der Autoren, aber die Nachfrage zeigt die Unklarheit des Arguments.
Im Übrigen finden sich auch theologische Aussagen in der Handreichung, die zwar klar sind, denen man aber gleichwohl nicht zwingend zustimmen muss. „Ein neues christliches Nachdenken über die Existenz von Geistern (und Dämonen) ist … eine von evangelischen Kirchen noch zu leistende Aufgabe“, wird im Spiritismuskapitel 4.5 eingeräumt (Ausgabe für Bayern, 49). Wirklich? Müsste die fragliche Aufgabe nicht eher so bestimmt werden, dass die Funktion des Glaubens an die Existenz von Geistern (und Dämonen) näher zu erhellen wäre: Warum ist dieser Glaube auch im 21. Jahrhundert nicht totzukriegen und wie funktioniert er? Denn dieser Glaube ist doch unter den Bedingungen der Moderne durchweg als „esoterisch“ oder „okkultistisch“ zu bezeichnen – und der schlichte Umstand seiner mannigfachen Bezeugung in der Bibel kann ja kaum hinreichen, ihm theologische Plausibilität und Legitimität zu verleihen. So gesehen wäre etwa in Hinsicht auf gewisse Zweige der Pfingstbewegung durchaus anzumerken, dass sie sich mit ihrer Fixierung auf die zu brechende Macht von Teufel und Dämonen sowie mit ihrer Praxis von „Befreiungsdienst“ oder Exorzismus offenkundig mit Erscheinungsformen des Okkultismus berühren – einschließlich der religionspsychologischen Abgründe, die damit verbunden sind.
Es deutet sich mit alledem eine Grundsatzfrage kirchlicher Apologetik an, nämlich die Frage des Stellenwertes einer aufgeklärten Rationalität für die Bewertung religiöser Richtungen. Im Blick auf die vorliegende Orientierungsschrift wird man sagen können, dass die Vernunft und das in Europa im Großen und Ganzen geltende Wahrheitsbewusstsein darin jedenfalls nicht explizit als apologetische Kriterien zur Geltung gebracht werden. Es dominiert die Bibel als das schlechthin maßgebliche Kriterium. Das scheint gut protestantisch zu sein, dennoch ist damit, wie angedeutet, eine Problematik protestantischer Apologetik markiert, die auch interkulturelle Fragen berührt.
Die Beispiele zeigen, dass die Handreichung auch zu Nachfragen und ab und an auch zum Widerspruch herausfordert. Das ist, wie gesagt, mit der Kürze teils notwendig gegeben und muss insgesamt kein Mangel sein. Außerdem findet, wer noch eingehendere Informationen und Reflexionen wünscht, jeweils Angaben zu weiterführender Literatur, häufig aus dem großen publizistischen Fundus der Autoren selbst. Für den Profi in der Sphäre von Religion und Weltanschauung dürfte es sich indessen über kurz oder lang empfehlen, sich das einschlägige Handbuch zuzulegen, auch wenn man dafür etwas tiefer in die Tasche greifen muss: Matthias Pöhlmann / Christine Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen.2
Martin Fritz
Anmerkungen
- Links zum Download: www.amd-westfalen.de/aktuelles-detailansicht/datum/2020/04/06/evangelische-orientierung-inmitten-weltanschaulicher-vielfalt ; www.zentrum-oekumene.de/fileadmin/redaktion/Weltanschauungen/Weltanschauliche_Vielfalt_A5.pdf; www.weltanschauungen.bayern/sites/www.weltanschauungen.bayern/files/WAS%20Sonderausgabe%201%20-%20Evangelische%20Orientierung%20-%20Stammteil.pdf; www.kirchliche-dienste.de/arbeitsfelder/weltanschauungsfragen/evangelische-orientierung
- Hg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, Gütersloh 2015.