Evolution des Bewusstseins? Ein Tagungsbericht
Ende November 2019 stieß im Haus am Dom in Frankfurt/Main eine Veranstaltung auf hohe Resonanz, in der Ken Wilbers Denken in Anbetracht seiner enormen Wirkung besonders in den USA, aber auch in Europa, im Mittelpunkt stand. Der autodidaktische Philosoph zählt mit über 20 publizierten Büchern, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden, zu den meistübersetzten akademischen Autoren der Vereinigten Staaten. Im Jahr seines 70. Geburtstags lud ein Thementag zu multiperspektivischen Einschätzungen des schillernden Denkers aus Denver ein.
Wilber versucht in seinen Veröffentlichungen, in den letzten Jahren auch verstärkt in den sozialen Medien, ein umfassendes spirituelles Weltbild zu formulieren, das Wissen und Weisheit aus den verschiedensten religiösen Traditionen integriert. Er will die Stärken und Schwächen diverser weltanschaulicher und philosophischer Richtungen aufzeigen und hat einen theoretischen Rahmen entworfen, in dem verschiedene Traditionen Platz haben. Deshalb trägt diese Denkrichtung die Bezeichnung „Integrale Theorie“. Wilbers Weltbild speist sich primär aus buddhistischen und Yoga-Traditionen, aber in den letzten Jahren hat er auch stärker die mystische Tradition des Christentums mit einbezogen. Mittlerweile gibt es im deutschsprachigen Bereich auch den Ansatz eines „Integralen Christentums“ (www.gott90.de). Für manche erscheint der Weg einer integralen Spiritualität eine universelle Landkarte für das geistliche Wachstum des Menschen zu sein, andere setzen sich eher kritisch und abgrenzend mit ihm auseinander. Im Verlauf des Thementages kam sowohl Faszination an diesem integralen Entwurf als auch Skepsis gegenüber dem übergewichtigen Anspruch zum Vorschein.
Die Pädagogin Sonja Student, Gründerin und Vorstandsmitglied von „Die integrale Akademie“, gab einen Überblick über Wilbers Werk und eine kurze biografische Einführung in sein Leben. Besonders mit Verweis auf ihren persönlichen Werdegang betonte Student, wie bedeutsam Wilbers Denken – vor allem sein Hauptwerk „Eros, Kosmos, Logos“ (dt. 1996) – für das Verständnis einer Verbindung von Spiritualität und Aufklärung sei. Dabei hob sie hauptsächlich die drei Aspekte „Aufwachen“ (nicht allein der Materialismus hat recht), „Aufwachsen“ (das Sein des Menschen ist einem ständigen Entwicklungsprozess ausgesetzt) und „Aufräumen“ (Klarheit gewinnen) hervor.
Thomas Steininger, Herausgeber des Magazins „evolve“, deutete Wilber als Antwort auf die Krise der Spiritualität der Gegenwart. Wilber lege den Finger in die Wunde der postmodernen Ansätze, die nicht mehr in der Lage seien, Wahrheiten zu denken, sondern nur noch Machtverhältnisse bezeichneten. In diese Krise der Wahrheit hinein versuche Wilber, zuerst in enger Anlehnung an C. G. Jung, eine zeitgemäße, Orientierung gebende Spiritualität zu etablieren. Nach Wilber gehe die Menschheit durch Entwicklungsstufen hindurch, die entwicklungspsychologischen Stadien der individuellen menschlichen Entwicklung ähneln. Mit seiner „Integralen Theorie“, die eine „Theory of Everything“ sein möchte, mache Wilber den Versuch, die verschiedenen Perspektiven auf die Wirklichkeit in einem Modell zusammenzudenken und sie so gegenseitig zu vermitteln. Steiniger sparte allerdings nicht mit Kritik an Wilber. Er bezeichnete es als Hybris, alles in einem Modell abbilden zu wollen. Außerdem habe Wilber seinen persönlichen spirituellen Hintergrund, der in seinem Denken sehr präsent sei, zu wenig reflektiert. Schließlich kritisierte er Wilbers mangelnden Blick auf die postkolonialen Forschungen, was Wilber in seinen Augen zu einem „kalifornien-zentristischen“ Denker mache.
Günter Kruck, Philosoph und Professor für katholische Dogmatik in Mainz, stellte Wilbers integralen Ansatz auf einen erkenntnistheoretischen Prüfstand, indem er die Standpunktlosigkeit des integralen Modells als Hauptkritik formulierte. Wilber versuche zwar, alle Perspektiven als gehaltvoll-eigenständige zu sehen, könne aber nicht zeigen, was der dritte Standpunkt, von dem aus er integral denke, genau beinhalte. Ob die unterschiedlichen Standpunkte der Wissenschaften noch von demselben sprechen, wenn sie integriert werden sollen, ist somit nicht klar. Wilber setze – so Kruck – überhaupt kein neues Wissen in die Welt, sondern sortiere nur schon vorhandenes Wissen modellhaft. Von einem inhaltlich unklaren Standpunkt aus, dem integralen, eine Wertung anderer weltanschaulicher Standpunkte (von Spiritualitäten, Religionen, Philosophien etc.) vornehmen zu wollen, komme einem theoretisch-praktischen Kollaps gleich. Zudem könne Wilber allein schon deshalb nicht als Hegel des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden, weil Hegel den Geist im Begriff denke, Wilber hingegen das Höchste des Denkens gerade im nondualen Nichtbegreifen sehe.
Schließlich betonte Michael Utsch, Psychotherapeut und Referent der EZW, die Notwendigkeit eines Blickwechsels innerhalb der deutschsprachigen Psychotherapie, die dem Phänomen der Spiritualität und Religiosität noch zu wenig Gehör verschaffe. Es gehe darum, die positiven Ressourcen von Spiritualität für den Genesungsprozess einzubinden, vor allem auch die transpersonale Sichtweise zu berücksichtigen. Utsch verwies auf Erfahrungszustände mystischer oder transpersonaler Art, die es wahrzunehmen und anzuerkennen gelte. Mit Blick auf Wilber wies er aber auch auf Irrwege des Transpersonalen hin, wenn es von manchen primär zur Bewusstseinssteigerung instrumentalisiert werde. Zudem drohe die dialogische Kraft des Menschen zu kurz zu kommen, die aus christlicher Sicht in der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf zum Ausdruck komme.
Leider war die Zeit im Plenumsgespräch schnell abgelaufen, und viele Teilnehmer wünschten sich eine vertiefende Fortsetzung dieses interdisziplinären Gesprächs.
Johannes Lorenz, Frankfurt a. M.