Evolutionary Processes in the Natural History of Religion. Body, Brain, Belief
Unvergleichlich religiös
Hansjörg Hemminger: Evolutionary Processes in the Natural History of Religion. Body, Brain, Belief, Springer Nature, Berlin / Heidelberg 2021, 367 Seiten, 95,41 Euro.
Haben Sie schon einmal die These gehört, Religion sei ein Nebenprodukt der Evolution? Die frühen Menschen hätten hinter jeder Bewegung eine potenzielle Gefahr durch ein Wesen mit bösen Absichten gesehen und deshalb den Animismus als Frühform der Religion entwickelt? Oft wird mit solchen plausibel klingenden Hypothesen gleichzeitig die Botschaft vermittelt, Religionen hätten keinen Wahrheitsgehalt, sondern seien ein Überbleibsel aus einer Frühphase der Menschheit, das inzwischen überflüssig oder gar schädlich geworden ist.
Wer eine fachkundige Einordnung dieser Thesen möchte und eine kritische Übersicht über das, was man tatsächlich über die Entwicklung der Religiosität weiß, wird in dem Buch von Hansjörg Hemminger fündig. Als habilitierter Verhaltensbiologe und langjähriger Referent für Weltanschauungsfragen ist Hemminger ideal für dieses Thema qualifiziert, zu dem sich sonst überwiegend Geisteswissenschaftler äußern, die über die Evolutionsbiologie wenig Fachwissen haben.
Die Hauptbotschaft von Hemmingers Buch ist: Die Entwicklung der menschlichen Religiosität ist ein untrennbarer Bestandteil der allgemeinen kulturellen Entwicklung der Menschheit, die mit einer Modernisierung des Denkens und Verhaltens insgesamt einhergeht. Zu dieser Modernisierung gehören Sprache, Symbolgebrauch, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, Kooperation und komplexe soziale Strukturen. Verschiedene Beschreibungsebenen sind nötig, um diese Entwicklung wissenschaftlich zu erfassen, denn genetische, physiologische, kognitive, individuelle, soziale und ökologische Aspekte beeinflussen einander wechselseitig. Einfache evolutionäre Erklärungen über die Entwicklung von Religion werden diesem komplexen Kausalzusammenhang nicht gerecht, da sie nur Teilaspekte aufgreifen und ihnen einen angeblichen Selektionsvorteil zuschreiben, während sich doch die menschliche Kultur als Ganzes in ihrer Umwelt entwickelt.
Das Buch ist in fünf Teile mit insgesamt 16 Kapiteln untergliedert. Teil I („Religion mit den Augen eines Biologen“) stellt gleich zu Beginn klar, dass die wissenschaftliche Untersuchung der Entwicklung von Religion nichts über den Wahrheitsgehalt von Religionen aussagt. Hemminger hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass es keine äußere Realität gibt, die den religiösen Ideen entspricht, doch der Wahrheitsgehalt von Religionen ist nicht Thema des Buchs. Dieses befasst sich auch nicht mit den Inhalten der verschiedenen Religionen, sondern mit dem Phänomen der menschlichen Religiosität an sich. Dazu gehören sowohl die Neigung zum Religiösen samt dem Sinn für das Transzendente als auch Rituale und Traditionen, die die religiöse Praxis darstellen. Religion liefert eine umfassende Interpretation der alltäglichen Lebenswelt und hilft so, das Leben mit seinen vielen Ungewissheiten zu bewältigen.
Auch mit einer zweiten falschen Vorstellung räumt der erste Teil des Buchs auf, nämlich dass es eine umfassende evolutionäre Schau gibt, die die gesamte Entwicklung der Menschheit auf natürliche Ursachen zurückführt. Derartige Theorien gehen weit über das hinaus, was Wissenschaft leisten kann. Sie sind reduktionistisch und werden mit vielen plausiblen Geschichten angereichert. Deshalb findet man bei Experten oft einander widersprechende Meinungen. Einige haben Träume als die frühesten spirituellen Erfahrungen vorgeschlagen, andere Totemismus. Viele halten Animismus für die erste Form von Religion. Doch wir wissen das nicht wirklich, denn wir haben nur sehr wenige prähistorische Funde, aus denen wir etwas über die frühe Religiosität lernen können, und sollten uns daher eher an heutigen Jägern und Sammlern orientieren, um eine Vorstellung über die Glaubenswelt der prähistorischen Menschen zu bekommen. Bei heutigen Jägern und Sammlern findet man keinesfalls immer nur Animismus, sondern manchmal sogar den Glauben an einen Schöpfergott.
Hier kommt eine dritte falsche Vorstellung ins Spiel, gegen die Hemminger sich wendet: Das ist die Vorstellung, dass unsere altsteinzeitlichen Vorfahren ganz anders getickt haben als wir. Doch in den letzten 20 000 Jahren hat sich das menschliche Gehirn nicht verändert, und wahrscheinlich nicht einmal in den letzten 70 000 Jahren. Später in dem Buch wird das konkreter ausgeführt und gefragt: Warum sollen unsere Vorfahren unsichtbare Agenten hinter Pflanzen und Steinen etc. vermutet haben, wenn sogar kleine Kinder nicht darauf hereinfallen? Schon Fünfjährige können zwischen erfundenen und realen Wesen unterscheiden. Um Religion zu verstehen, sollten wir unsere eigenen Anlagen und Erfahrungen und die unserer Zeitgenossen einbeziehen.
Teil II vergleicht biologische Evolution mit der Evolution von Religion. Allzu oft verwenden Theorien über die Evolution von Religion Begriffe und Ideen aus der Evolutionsbiologie, obwohl sie sich meist schwerlich übertragen lassen. Dies zeigt der Autor, indem er die Bausteine der modernen Evolutionstheorie erklärt und dann jeweils die Unterschiede zur Entwicklung von menschlicher Kultur und Religion diskutiert. So gibt es zum Beispiel keine sich selbst replizierenden Bausteine in der menschlichen Kultur, auch keine Rekombination und kein Ei- und Samenzellenstadium in jeder Generation. Die Autonomie der kulturellen Entwicklung gegenüber der genetischen lässt sich nicht mit der phänotypischen Plastizität in biologischer Evolution vergleichen. Die Sozialisierung eines Individuums ist viel weniger eingeschränkt als die biologische Embryonalentwicklung. Während biologische Evolution keine Neukonstruktionen vornehmen kann, sondern das Vorhandene abwandeln muss, sind kulturelle und religiöse Innovationen viel freier. Sie geschehen sogar oft planvoll und beabsichtigt, und hier können einzelne Individuen einen großen Einfluss haben.
Theorien über die Evolution von Religion basieren oft auf Analogien mit einer einfach verstandenen biologischen Evolution. Doch biologische Evolution ist sehr viel komplexer, als diese einfachen Theorien es annehmen. Die aktuelle Version der Evolutionstheorie, die Erweiterte Synthese, bezieht neben schon genannten Bausteinen auch Epigenetik, Nischenkonstruktion, Systemtheorie und Spieltheorie ein. Es scheint dem Autor wichtig zu sein zu betonen, dass er in diesen neuen Entwicklungen weder einen Pradigmenwechsel noch eine Rückkehr zur Lamarckschen Idee von der Vererbung erworbener Eigenschaften sieht. Die Rezensentin hat hier eine etwas andere Position, doch das ist weder ein zentraler Punkt des Buchs noch das Thema der Rezension.
Das beliebte Konzept der Gen-Kultur-Koevolution kritisiert Hemminger mit guten Gründen: Erstens bedeutet Koevolution zweier biologischer Einheiten, dass beide auf Vererbung und Mutation beruhen, was auf die Kultur nicht zutrifft. Zweitens sind kulturelle Veränderungen um Größenordnungen schneller als genetische Veränderungen. Daher ist es angemessener, von komplexer Koadaption zu sprechen statt von Koevolution.
Teil III befasst sich mit paleolithischer Religion und betont, dass aus den vereinzelten Funden von Figuren, Höhlenmalereien und Gräbern nur sehr begrenzte Rückschlüsse über die damalige Religion gezogen werden können. Der Autor konzentriert sich daher auf die schon oben erwähnte Argumentation, dass die Entwicklung von Religion und Kultur mit dem gesamten Prozess der Modernisierung untrennbar verbunden gewesen sein muss. Zu dieser Modernisierung gehört auch, dass wir Menschen verhaltensmäßige Generalisten wurden, die viele Dinge relativ gut machen können. Daher ist Kultur nicht ein Ausgleich für biologische Mängel, sondern Teil dieses Generalistenseins. Kultur lässt sich auch nicht unterteilen in religiöse und nichtreligiöse Bereiche. Außer in unserer modernen Zivilisation waren Alltag und Religion immer untrennbar miteinander verwoben.
Teil IV diskutiert die Kognitive Religionswissenschaft, die Religion als Nebeneffekt von kognitiven Mechanismen betrachtet, die adaptiv waren. Hemminger weist darauf hin, dass einige bekannte Erklärungen der Kognitiven Religionswissenschaft dem widersprechen, was wir von historischen Religionen wissen. Sie sind zu einfach und gehen davon aus, dass sich verschiedene Untereinheiten des Gehirns getrennt voneinander verändern können. Um der Auffassung zu begegnen, dass Religion ihrem Wesen nach zum Fanatismus neigt, analysiert Hemminger das Phänomen des religiösen Fanatismus und betont, dass man indigene Religionen nicht in die Kategorien tolerant / intolerant einordnen kann. Die magische Komponente der Religion lässt sich nicht von den moralischen Aspekten trennen, denn Verpflichtungen gegenüber Göttern und Mitmenschen sind zwei Seiten derselben Sache: Harmonie mit der kosmischen Ordnung verlangt harmonisches Verhalten auch unter Menschen.
In Teil V schließlich geht es um die oben schon erwähnte Schlussfolgerung, dass zum Modellieren der Evolution von Kultur und Religion mehrdimensionale oder mehrschichtige Modelle nötig sind. Das dreidimensionale Modell der Evolution und Expansion kultureller Kapazitäten (EECC Modell) wird als ein erster Ansatz hierfür beschrieben.
Dieses Buch bietet also eine Fülle von Informationen und sehr inspirierende Diskussionen bestehender Theorien. Die 200 Seiten zu lesen, ist allerdings keine leichte Arbeit, da viele Themen angesprochen werden und zumindest mir nicht immer klar war, welche Rolle das gerade Gesagte in der Gesamtargumentation spielt. Diese Arbeit lohnt sich jedoch, ich habe einen sehr großen Gewinn durch die Lektüre gehabt. Als nächstes wünsche ich mir ein Buch darüber, was all diese Erkenntnisse für die Sicht auf unseren eigenen, den christlichen Glauben bedeuten.
Barbara Drossel, 13.05.2022