Marcus Wegner

Exorzismus heute. Der Teufel spricht deutsch

Marcus Wegner, Exorzismus heute. Der Teufel spricht deutsch, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009, 318 Seiten, 19,95 Euro.


Im Mai 2008 machte eine Hörfunksendung des WDR von sich reden: „Beten auf Teufel komm raus“. Dem Autor war mehr gelungen als vielen Journalisten vor ihm: Er hatte an (nicht offiziell genehmigten) Exorzismen teilgenommen, und er hatte sowohl mit betroffenen „Empfängern“ reden können als auch mit den – kirchenrechtlich oft nicht legitimierten – Exorzisten. Noch ausführlicher als im Hörfunk wird das nach zweijähriger Recherche entstandene Material jetzt in diesem Buch vorgestellt.

Auffällig sind zunächst die Zahlen, die an mehreren Stellen genannt werden. Etwa 30 katholische Priester in Deutschland seien regelmäßig – ohne offiziellen Auftrag oder bischöfliche Genehmigung – exorzistisch tätig. Etwa 40 bis 50 Exorzismen jährlich will einer davon, ein namentlich nicht genannter Limburger Pfarrer, vorgenommen haben. Von 400 Exorzismen in zwei Jahren wiederum ist bei einem polnischen Pater die Rede, der als „Reise-Exorzist“ in Deutschland unterwegs ist. Die Szene soll den Namen kennen und unter der Hand weitergeben. Von 400 Anfragen pro Jahr spricht der Pallottinerpater Jörg Müller aus Freising, der freilich nur bei einem Bruchteil davon „echte“ Besessenheit annimmt. Rechnet man diese unsystematischen Zahlenangaben hoch, kommt man auf Zehntausende von Anfragen und auf Exorzismen im Tausenderbereich. Offiziell erlaubt war davon höchstens eine Handvoll. Aber wo ein Markt ist, finden sich Anbieter.

Einige Fälle, bei denen Wegner anwesend sein konnte, klingen ziemlich spektakulär: Menschen sprechen plötzlich in unterschiedlichen Stimmen, scheue Frauen verfallen in obszöne Schimpf-Tiraden, einem Mann quillt Blut durch die Poren. Trickserei scheint nicht im Spiel zu sein. Demgegenüber steht das alte Ritual des Exorzismus, meist auf Latein gebetet: archaische Geisterkämpfe im 21. Jahrhundert, manchmal auch mit List geführt, wenn etwa ein „Exorzist“ laut lateinische Texte von Vergil zitiert, die „Klientin“ aber exakt so reagiert, wie angeblich nur vom Satan Ergriffene auf heilige Texte reagieren. Was hier offensichtlich ist, legt die Beschreibung auch bei anderen nahe: Es handelt sich um massive Psycho-Pathologien, die sich im Ritus des Exorzismus eher selbst bestätigen und verfestigen, als dass sie gelöst werden. Dafür spricht auch die Tatsache, dass kaum eine der Klientinnen (meist sind es Frauen) nachhaltig geheilt wird; vielmehr wird der Exorzismus ein wiederkehrender Bestandteil des Lebens. Manche ziehen sogar einen offensichtlichen Gewinn aus ihrer Krankheit wie die vom Basler Weihbischof exorzierte Beate H., deren Leben als Erwählte erst Satans, dann Marias endlich eine Bedeutung gewinnt, die ihr im Alltag ansonsten verwehrt bleibt. Unter dem Namen „Heike R.“ hat sie ihre Sicht der Dinge als „Book on Demand“ veröffentlicht (Heike R., Von der Besessenheit zum Glauben. Der Teufel wohnt in mir, Norderstedt 2007).

Es fällt auf, dass nur die „inoffiziellen“ Exorzisten ungebrochen von Besessenheit und Teufel reden. Offizielle Stimmen betonen nachdrücklich die Notwendigkeit medizinischer Expertise, ohne jedoch Exorzismus oder Befreiungsgebete auszuschließen. Leider wird in Wegners Buch die evangelikal-charismatische Theologie und Praxis kaum gestreift. Erstaunlich und erhellend sind der Bericht von einer muslimischen Dämonen-Austreibung durch einen Hodscha und von einer „Befreiung“ durch eine esoterische Magierin und Exorzistin. Diese spricht zwar von „Fremdenergien“ statt von Dämonen, macht aber ansonsten das gleiche wie ihre frommen Brüder: Gebet, Beschwörung, Ritus. Offenkundig ist das Denkmuster der Besetzung der Seele durch fremde Kräfte universal und zeigt sich in unterschiedlichen Sprachspielen; die christlich-religiöse Sprache ist nur eine davon, das religiöse Hilfsangebot ebenso.

Der Autor lässt deutlich erkennen, dass er die psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe für die angemessene hält. Dennoch ist sein Resümee der religiös-spirituellen Erfahrungen erstaunlich milde: „In den meisten Fällen sind diese (vom Autor beobachteten) Teufelsaustreibungen ruhig und beinahe schon friedlich verlaufen. Obwohl in allen Fällen der alte Exorzismus-Ritus von 1614 verwendet wurde, ähnelten die meisten von mir erlebten, kirchenamtlich nicht genehmigten Austreibungen eher einer unspektakulären Krankensalbung. Oft haben die Betroffenen nur schwer geatmet oder leise gezittert und fühlten zumindest unmittelbar nach dem Exorzismus für kurze Zeit eine Erleichterung ihrer Qualen“ (223). Auf der anderen Seite macht der Schweizer Psychiater Gerhard Dammann im Gespräch deutlich, dass der religiöse Ritus auch zum Ausweichen vor den psychischen Problemen der Klienten führen kann. „Es ist im Interesse von bestimmten Patienten, nicht wirklich mit dem Problem konfrontiert zu werden. Und so gesehen, um es vielleicht etwas spöttisch zu sagen, wird durch einen massiven Exorzismus das Fell des Bären etwas weniger nass gemacht als durch eine intensive Psychotherapie“ (80). Umso mehr bleibt ein Postulat, was in diesem Buch weniger thematisiert wird: nicht die Alternative „Ritus oder Therapie“, sondern die intensive Kooperation von Seelsorge und Therapie.

Fazit: Markus Wegner hat eine Situationsbeschreibung zum Exorzismus unterschiedlicher Prägung in Deutschland vorgelegt, die in solcher Ausführlichkeit bisher fehlte. Deshalb lohnt es sich, das Buch zu lesen. Der gelegentlich fast reißerische Reportage-Stil mag nicht jedermanns Sache sein, sichert aber gute Lesbarkeit. Das Buch ersetzt keine theologische Analyse (am aktuellsten immer noch: Ulrich Niemann / Marion Wagner [Hg.], Exorzismus oder Therapie? Regensburg 2005), fordert sie aber heraus. Die Diskussion über Exorzismus / Befreiungsdienst in Deutschland sollte jedenfalls die hier vorgelegten Fakten aufmerksam zur Kenntnis nehmen.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.