Fachtagung zum Thema „Der Islam in Europa“
Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates in Sachen Religion sei eine Fiktion. Diese Ansicht vertrat der bosnische Großmufti Mustafa Ceric auf einer Fachtagung zum Thema „Der Islam in Europa – Das Verhältnis von Religion und Verfassung", die am 27.9.2012 von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kooperation mit der EZW in Berlin veranstaltet wurde. „Ich glaube nicht an einen neutralen Staat. Ich glaube an die wohlorganisierte Beziehung zwischen Religion und Staat“, sagte der islamische Religionsgelehrte. Wie diese Beziehung aussehen soll, führte er entlang den Linien aus, die er u. a. 2005/06 in seiner „Declaration of European Muslims“ und 2007 in einem aufsehenerregenden Aufsatz in dem Brüsseler Magazin „European View“ dargelegt hatte (vgl. MD 8/2008, 310-311; 11/2010, 435-437). Demnach kann keine Gesellschaft dauerhaft ohne Moral bestehen. Moralität aber wird durch die Anerkennung und Durchsetzung von Prinzipien gewährleistet, die mit universaler Gültigkeit das Rechte vom Verwerflichen scheiden. Prinzipien solcher Art können nur einer „göttlichen Quelle“ entspringen, sie sind ewig und unveränderlich. Ceric spricht daher vom „Bund“ Gottes mit den Menschen, wobei er den biblischen Begriff kurzerhand auf die „Scharia“ als „kollektive islamische Identität“ überträgt, um die Kontinuität in den prophetischen Offenbarungsreligionen zu betonen. Der genuine Auftrag der Gemeinschaft der Muslime (umma) bestehe darin, diese Moral – d. h. die Scharia – als Instanz des gesellschaftlichen Lebens zu wirksamer Geltung zu bringen. Denn es steht schon im Koran (Sure 3,110; vgl. 2,143): „Ihr [die Muslime; F.E.] seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah.“ Ceric zufolge steht das nicht im Widerspruch zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Denn die Anwendung der (unveränderlichen) Prinzipien sei Sache des gesellschaftlichen Aushandelns und der daraus resultierenden Gesetzgebung. Nur müsse akzeptiert werden, dass Recht und Freiheit niemals allein auf menschlichen Willen oder menschliche Vernunft bauen könnten. Diese Einsicht habe der „Westen“ verloren, während darin die Bedeutung und die Herausforderung des Islam liege. Genau hier setzt der Begriff des „Gesellschaftsvertrags“ an, der für Ceric zentral ist: An der Schnittstelle (oder nur Berührungspunkt!, „meeting point“) der „muslimischen Gemeinschaft“ und der „europäischen Zivilgesellschaft“ werden nach der Vorstellung des Oberhauptes der bosnischen Muslime die Geltungsspielräume der islamischen Schariaprinzipien quasi-vertraglich festgelegt, damit diese ihren Beitrag für Europa leisten können.
Dass nach dem Begriff des Bundes nun auch der des Gesellschaftsvertrags umgedeutet und islamisch gefüllt wird; dass unklar bleibt, wer die potenziellen Vertragspartner sein könnten; wie hier mit der islamischen Vielfalt umgegangen wird (wer ist mit „muslimische Gemeinschaft“ gemeint?) – all dies hat brisante Implikationen, sei aber einmal dahingestellt. Doch klar ist, dass Ceric zwar von Integration spricht, damit aber explizit die integrative Kraft des Islam bzw. der Muslime meint, das Weltliche und das Göttliche, menschliche Gesetzgebung und „Moral“, Scharia und westliche Gesellschaft zusammenzubringen, zu integrieren. Ceric denkt komplementär – „der Westen“ braucht die mit Offenbarungsqualität versehene Moral der Scharia – und unterläuft damit bewusst den Begriff der Säkularität, der in die Grundvoraussetzungen westlicher Rechtsordnungen eingeschrieben ist. Damit steht er Seite an Seite mit islamistischen Autoritäten, die einen islamischen „Mittelweg“ gerade für Muslime im Westen propagieren (vgl. MD 5/2010, 163-170).
Im zweiten Hauptreferat erläuterte der in Berlin lehrende Staatsrechtler Christian Waldhoff die „fördernde Religionsneutralität“ des Grundgesetzes auf dem Hintergrund unterschiedlicher Entwürfe im europäischen Kontext. Interessant, dass auch in diesem Plädoyer für das deutsche Modell die Erkenntnis eine zentrale Rolle spielte: Recht (im Sinne von Normen aus politischen Entscheidungsprozessen im demokratischen Verfassungsstaat) ist weder „neutral“ noch wertfrei. Es gibt keine „vorgelagerte Neutralität“, vielmehr fließen selbstverständlich (politische, religiöse ...) Wertungen in die Entscheidungen der verfassunggebenden Gewalt ein. In der Folge und insofern wird das Christentum in unserer Rechtsordnung in gewisser Weise privilegiert, ohne dass jedoch gegen den Neutralitätsgrundsatz verstoßen wird. Denn demokratietheoretisch ebenso bedeutsam ist, dass die Überzeugungen eben in Rechtsnormen transformiert und damit im Rahmen des Rechtsstaats neutralisiert werden. Die Wertvorstellungen der „alles andere als ‚wertfreien’ Verfassungsordnung“ werden als Rechtsnormen in die juridische Sachlogik überführt. Es gilt kein religiöses Bekenntnis, keine moralische Metaebene: „Herrschaft legitimiert sich unter dem Grundgesetz ausschließlich säkular.“ Eine religiös-moralische Instanz kann sich nur demokratisch vermittelt präsentieren, sie bildet keinesfalls ein – zudem unveränderliches – Gegenüber zum Rechtsbildungsprozess.
Die Wiener Islamwissenschaftlerin Liselotte Abid versuchte aus der frühislamischen Tradition und der islamischen Geschichte ein genuines islamisches Potenzial für demokratische Gesellschaftsstrukturen aufzuzeigen und verwies dabei auf Konzepte wie die im Koran erwähnte schura (Beratung, Sure 42,38; 3,159) oder die anthropologische Bestimmung des Menschen zur Entscheidungs- und Handlungsfreiheit aufgrund der „Statthalterschaft“ des Menschen (Sure 2,30ff), auf den Vertrag von Medina, auf „demokratische“ Ansätze bei der Bestimmung von islamischen Herrschern und auf hermeneutisch-rechtliche Prinzipien wie den idschtihad, die vernunftorientierte und fallbezogene Rechtsfindung im islamischen Recht.
Der Politikwissenschaftler Marwan Abou-Taam (Mainz) bestritt grundsätzlich die Option, die frühislamische Geschichte und ihre Quellen mit „demokratietheoretischer Brille“ zu interpretieren. Religion sei einer demokratischen Reinterpretation in aller Regel weder fähig noch bedürftig. Vielmehr bedürfe es einer aktiven „Versöhnung“ religiöser Subjekte (hier: der Muslime) mit der demokratischen Verfasstheit eines Staates und einer Gesellschaft. Die demokratische Ordnung müsse aus der Mitte der jeweiligen religiösen Tradition bejaht und legitimiert werden, nicht mehr, aber auch nicht weniger. In einer außerordentlich kenntnisreichen Darstellung verstand es Abou-Taam, die historischen Linien der Debatte über eine islamische Säkularitätstheorie von der frühislamischen Zeit bis in die Gegenwart aufzuzeigen. Ab etwa dem 12. Jahrhundert wurden die Ansätze dieses Diskurses marginalisiert (al-Ghazali) und schließlich zugunsten einer theologischen Vorrangstellung zum Schweigen gebracht, wodurch letztlich die Souveränität Gottes gegenüber der Volkssouveränität als religiös essenziell festgeschrieben worden sei. Die islamische Geschichte biete jedoch genügend Anknüpfungspunkte, beispielsweise bei dem wichtigen Staatstheoretiker Ibn Khaldun (14. Jahrhundert). Dieser entfaltet das Konzept der asabiyya (esprit d’accord) eben nicht als ein religiös begründetes kommunitaristisches Selbstverständnis einer gesellschaftlichen Gruppe (gegen Ceric), sondern als das von einer plural angelegten Gemeinschaft produzierte Wertebewusstsein, in dem die Religion ein wichtiges, aber doch nur ein produktives Element unter anderen darstellt.
Die Tagung hat erneut offenbart, wie unterschiedlich, teilweise gegensätzlich mit Begriffen wie „Neutralität“, „Säkularität“, „Integration“, „demokratische Ordnung“ in den verschiedenen Diskursen operiert wird. Die Divergenzen und ihre gesellschaftliche Bedeutung bedürfen weiterhin und verstärkt juristischer, politischer und theologischer Aufmerksamkeit.
Mustafa Ceric (60) wird am 18.11.2012 nach fast 20 Jahren im Amt des Oberhaupts der Muslime in Bosnien-Herzegowina vom Tuzlaer Mufti Husein Kavazovic abgelöst. Im europäischen Kontext dürfte er dennoch weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Der Neue, ein Ceric-Adept, will nach Presseberichten vor allem „ein Großmufti des Volkes“ sein.
Friedmann Eißler