Fast jeder sechste Berliner Schüler besucht den Lebenskundeunterricht
(Letzter Bericht: 12/2010, 467ff) In Berlin ist der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach. Er ist hier nur ein freiwilliges Angebot der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Verschiedene Faktoren erschweren den Stand des Religionsunterrichts. So gibt es seit 2005 das Pflichtfach Ethik, das von allen Schülern besucht werden muss. Ferner finden wir, nahezu einmalig im Bundesgebiet, ein Konkurrenzfach zum Religionsunterricht: Aus den Wurzeln der Freidenker-Bewegung ist der Weltanschauungsunterricht des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), die „Humanistische Lebenskunde“, hervorgegangen.
Dieses Unterrichtsfach hat in Berlin eine lange Tradition. Es wurde 1918 als Alternative zum Religionsunterricht erstmals eingeführt. Nach einer wechselvollen Geschichte mit zeitweiligen Verboten konnten die Freidenker 1984 im damaligen Westteil der Stadt das Fach neu etablieren. Vorausgegangen waren heftige Diskussionen. Bis 1989 führte die Humanistische Lebenskunde jedoch ein „Schattendasein“ mit ca. 1000 Teilnehmern pro Schuljahr. Erst mit der Wiedervereinigung gewann das Unterrichtsfach zunehmend an Bedeutung.Inzwischen liegen die aktuellen Zahlen für das laufende Schuljahr vor. Danach besucht etwa jeder zweite Schüler (51,4 Prozent) einen freiwilligen Religions- und Weltanschauungsunterricht. Die Teilnahmequote ist in den letzten Jahren leicht gestiegen. Entgegen manchen Befürchtungen hat das Pflichtfach Ethik den Religions- und Weltanschauungsunterricht also bisher nicht verdrängt.Derzeit nehmen 15,56 Prozent der Schüler (49 813) am Humanistischen Lebenskundeunterricht teil. Es lohnt ein Vergleich: 25,12 Prozent (80 393) der Kinder in Berlin besuchen den evangelischen Religionsunterricht, 7,82 Prozent (25 021) den katholischen Religionsunterricht. Während die beiden großen Kirchen eine geringe Abnahme ihrer Teilnehmerzahlen vermerken, weist der HVD auf eine leichte Steigerung hin. Diese Steigerung ist beachtlich, da die absoluten Schülerzahlen aufgrund der demografischen Entwicklung rückläufig sind. Wenig verwunderlich ist, dass der Lebenskundeunterricht in den östlichen Stadtteilen überproportional stark besucht wird. Spitzenreiter ist dabei der Bezirk Pankow mit einer Teilnahme von 28,14 Prozent. Der katholische Religionsunterricht wird in diesem Bezirk von weniger als 5 Prozent der Schüler besucht.Je nach Schultyp lassen sich interessante Unterschiede benennen. An den öffentlichen Grundschulen nimmt fast jeder dritte Schüler am Weltanschauungsunterricht des HVD teil (31,93 Prozent). Das entspricht fast der Quote, die der evangelische Religionsunterricht an den Grundschulen erreicht (33,23 Prozent). Der katholische Religionsunterricht wird an diesen Schulen mit lediglich 8,4 Prozent deutlich schwächer besucht. Anders ist der Befund an den Privatschulen. An den privaten Gymnasien besuchen überdurchschnittlich viele Schüler (mehr als 85 Prozent) den Religionsunterricht. Diese Zahl ist leicht zu erklären, denn es gibt in Berlin zahlreiche Gymnasien in der Trägerschaft der evangelischen oder der katholischen Kirche. Folglich gibt es praktisch keinen Humanistischen Lebenskundeunterricht an privaten Gymnasien. Dem HVD ist dieses Phänomen nicht entgangen. Es dürfte also nur eine Frage der Zeit sein, bis er sich um die Gründung eines freidenkerisch-humanistischen Gymnasiums bemühen wird. Nebenbei illustrieren die Zahlen ein dramatisches Problem unserer Bildungslandschaft: das Auseinanderdriften der Gesellschaft. So schicken christliche Eltern ihre Kinder bevorzugt auf private Schulen, während Schüler aus kirchenfernen Familien eher öffentliche Schulen besuchen. Erstaunliche 30 Prozent der Teilnehmer am evangelischen Religionsunterricht finden wir an einer privaten Schule; das gilt ebenso für 11 Prozent der Teilnehmer am katholischen Religionsunterricht. Wie angedeutet, besuchen lediglich 2 Prozent der Teilnehmer am Humanistischen Lebenskundeunterricht eine Privatschule. Es wäre zu fragen, ob diese Trennung für die Gesellschaft förderlich ist und ob der kirchliche Bildungsauftrag sich wirklich überwiegend an kirchliche „Eliten“ richtet. Der Erfolg des Unterrichtsfachs Humanistische Lebenskunde an öffentlichen Schulen hat verschiedene Gründe: Vieles spricht dafür, dass Eltern das Fach weniger aus weltanschaulicher Überzeugung wählen, sondern weil es einen guten Namen hat; „Lebenskunde“ klingt gut. Dazu kommt, dass Entscheidungen in Bezug auf Schule oft nach Rücksprache mit Freunden und Nachbarn getroffen werden, und offensichtlich hat der Lebenskundeunterricht einen guten Ruf, wird positiv wahrgenommen und empfohlen. In der Schulwirklichkeit ist er wohl auch weniger weltanschaulich aufgeladen, als die Veranstalter das gern hätten. Viele Eltern kennen zudem die weltanschaulichen Implikationen gar nicht. Schließlich ist nicht zu unterschätzen, dass es in Berlin durchaus heftige antikirchliche Affekte gibt. Der Streit um den Religionsunterricht im Kontext des Volksentscheids vom April 2009 hat diesem Fach geschadet.Die Diskussion um Religions- und Lebenskundeunterricht und um die Teilnehmerzahlen wird oft so geführt, als ginge es um Einflussgebiete, Machtbereiche und „Claims“, als ginge es darum, wie die Kirchen oder der Humanistische Verband ihren Einflussbereich geltend machen. Das verkennt jedoch das Wesen der schulischen Bildung, bei der die Schüler im Mittelpunkt des Engagements stehen müssen. Der Religionsunterricht soll helfen, die Kinder in religiösen Fragen sprach- und auskunftsfähig zu machen. Sie benötigen diese Kompetenz, weil unsere Kultur auf christlichem Fundament ruht und weil der interreligiöse Dialog ständig an Bedeutung gewinnt. Religiöse Bildung wird gebraucht. Leider betrachten viele Eltern diese Kompetenz als nachrangig und sind stark auf sogenanntes „Faktenwissen“ fixiert. Schulleistungsuntersuchungen wie PISA und TIMS verstärken diese Tendenz, weil der Eindruck befördert wird, Bildung erschöpfe sich in abfragbarem Wissen.Die Erfolgsgeschichte des Humanistischen Lebenskundeunterrichts von einem abseitigen Unterrichtsfach zum zweitgrößten Anbieter eines Weltanschauungsunterrichts innerhalb von 20 Jahren zeigt, wie sehr die Kirchen in der Hauptstadt in die Defensive geraten sind. Der HVD hat die Absicht, das Fach in den nächsten Jahren schrittweise in weiteren Bundesländern anzubieten. Erste Erfahrungen sammelt man derzeit in Brandenburg, wo der HVD Lebenskunde bereits 2007 einführen konnte. Hier sind die aktuellen Teilnehmerzahlen zwar vorerst bescheiden, aber ebenfalls steigend.In Nordrhein-Westfalen haben die Bemühungen zur Einführung von Lebenskunde vorerst einen Rückschlag erlitten. Am 19. Januar 2011 hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf eine Klage des HVD auf Anerkennung des Lebenskundeunterrichts als ordentliches Unterrichtsfach abgewiesen (AZ: 18 K 5288/7). Da im NRW-Schulgesetz ausdrücklich nur von Religionsunterricht, nicht aber von Weltanschauungsunterricht die Rede ist, besteht nach Meinung der Kammer kein Anrecht auf einen solchen Unterricht. In der schriftlichen Urteilsbegründung heißt es: „Im Rahmen Art. 7 Abs. 3 Satz 1 (GG) hat der Verfassungsgeber seine weltanschaulich-religiöse Neutralität verlassen, indem er – historisch bedingt durch die allgemeinen Verhältnisse im unmittelbaren Anschluss an das Ende des 2. Weltkriegs – Religionsgemeinschaften gegenüber Weltanschauungsgemeinschaften privilegiert hat.“ Der HVD wird im bevölkerungsreichsten Bundesland in Berufung gehen und auf Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gemäß Art. 4 Grundgesetz drängen. Im Bundesland Brandenburg war man mit dieser Taktik bereits erfolgreich (vgl. MD 2/2006, 70f).
Andreas Fincke, Berlin