Feindbild Evangelikale
Zeitgleich mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Bremen fand vom 20. bis 24. Mai 2009 in Marburg der 6. Internationale Kongress für Psychotherapie und Seelsorge statt. Veranstalter war die von der Gemeinschaftsbewegung geprägte „Akademie für Psychotherapie und Seelsorge“ (APS) mit dem organisatorischen Zentrum in der Fachklinik Hohe Mark (Oberursel bei Frankfurt a. M.).
Gegen den Kongress und seine rund 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer richtete sich heftige Kritik seitens der Lesben- und Schwulenbewegung, gefördert von Volker Beck, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen im Bundestag. Das Echo in den Massenmedien reichte bis zur Bildzeitung und etikettierte die Veranstaltung als „Kongress der Homoheiler“. Dass sich der Kongress gar nicht mit dem Thema „Homosexualität“ befasste, wurde ignoriert. Die Kampagne zielte nicht auf missliebige Themen, sondern auf missliebige Personen, besonders Christl Ruth Vonholdt von der Offensive Junger Christen (Reichelsheim), Roland Werner vom Christus-Treff Marburg und Markus Hoffmann von „Wuestenstrom“. Sie dürfen, so Volker Beck, nirgends unbehelligt auftreten, zu welchem Thema oder Zweck auch immer. Das Bündnis „Kein Raum für Sexismus, Homophobie & religiösen Fundamentalismus“ ging darüber noch hinaus. In seinem Aufruf zu einer Demonstration am Himmelfahrtstag hieß es: „Unser Protest richtet sich nicht nur gegen ein, zwei oder drei Workshops oder Referent_innen [sic!] auf dem Kongress, sondern vielmehr gegen die homophobe und religiös-fundamentalistische Ausrichtung der evangelikalen Bewegung ... Wir wollen den Kongress in seiner Gesamtheit verhindern und ihn als Symbol einer rechtskonservativen Meinungsmache bekämpfen.“
Die linken Flügel der Grünen und der SPD sowie die Linkspartei sind seit einiger Zeit dabei, die evangelikale Bewegung zum Feindbild aufzubauen. Dahinter steckt ein simples Machtkalkül: Der Kampf gegen die Religion, der vor 2001 in der alten Bundesrepublik kaum von politischer Bedeutung war, ist inzwischen Anliegen eines Klientels, um das Grüne und SPD mit der Linkspartei konkurrieren. Wer deswegen Radikale dazu ermutigt, den Evangelikalismus, oder gar den Pietismus, gesellschaftlich zu ächten, spielt allerdings das Spiel aus „Biedermann und die Brandstifter“. Faktisch stärkt man dadurch die extremen Ränder des politischen Spektrums.
Die Steilvorlage der Kongressgegner wurde prompt von den üblichen Verdächtigen rechts außen genutzt. Die „Junge Freiheit“ griff das Thema auf ihre Weise auf. Gabriele Kuby, eine rechtskatholische Kulturkritikerin, organisierte eine Unterschriftenliste im Internet. Dabei wurde sie vom Arbeitskreis Christlicher Publizisten (ACP) unterstützt. Diese Kreise entsprechen sehr wohl dem Feindbild eines politisierten christlichen Fundamentalismus. So konnte sich Gabriele Kuby öffentlich als Sachwalterin der Evangelikalen darstellen – aus konfessioneller Perspektive kurios, aber politisch folgerichtig.
Die Kampagne gegen den Marburger Kongress entsprach fast exakt der, die 2008 gegen das Christival in Bremen geführt worden war – mit dem Unterschied, dass es dort das Thema Homosexualität im Programm gegeben hatte und dass die Veranstalter dem Druck nachgegeben hatten. Der Schritt zur allgemeinen Kirchen- und Religionskritik ist für die Randalierer klein. Die Diffamierungen, die sich gegen die Kongressteilnehmer richteten, zielten auf die Mitte des christlichen Glaubens, auf die Person Christi, auf Kreuz und Vaterunser.
Die hilflose Reaktion der Veranstalter bewies, wie wenig der Pietismus dem Feindbild eines politisierten christlichen Fundamentalismus entspricht. Sie versuchten in geradezu rührender Weise, die Gegner von ihren guten Absichten zu überzeugen. Gemäß ihrer Profession agierten sie auf der Beziehungsebene anstatt auf der Sachebene und beschwichtigten, wo Politik nötig gewesen wäre. Der Christus-Treff setzte sich in einer fünfseitigen Erklärung Punkt für Punkt mit den Vorwürfen auseinander, als ginge es darum, Missverständnisse auszuräumen. Kein Versuch, politische Unterstützung aufzubauen, keine PR-Strategie, nichts von dem, was die Fundamentalisten der „moral majority“ in den USA so gut beherrschen.
Allerdings kamen Landeskirche und EKD den überforderten Veranstaltern auch nicht zu Hilfe. Die evangelische Kirche spielte in Marburg keine Rolle. Nicht einmal sie selbst betrachtete sich als zuständige Institution für das Tun und Leiden der evangelikalen Bewegung. Im weltanschaulichen Pluralismus ist sie zu einer Sinnagentur unter anderen geworden. EKD und Landeskirchen sollten angesichts dieser Verschiebungen ihr Verhältnis zum Evangelikalismus neu bedenken. Zur kritischen Solidarität gibt es künftig keine Alternative mehr. Die gewohnten kirchenpolitischen Grabenkriege des Protestantismus sind Sache ewig Gestriger, die es rechts und links gleichermaßen gibt. Der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber gab in der Diskussion um das Christival 2008 und um Pro Christ 2009 eine Richtung vor: „Ich bin außerordentlich irritiert durch diejenigen Stimmen, die uns neue Formen der Abgrenzung, des verweigerten Dialogs nahelegen wollen.“ Im Dialog müssten vielmehr die „inneren Unstimmigkeiten“ der evangelikalen Bewegung bearbeitet werden, zum Beispiel wenn sie „Glaubensaussagen der Bibel zu einer pseudowissenschaftlichen Weltanschauung macht“ (Deutschlandradio 8. August 2008 und 31. März 2009).
Damit ist auch die evangelikale Seite zum Nachdenken über ihre Solidarität mit der evangelischen Kirche (oder den Mangel an Solidarität) gezwungen. Den Windschatten der Volkskirche, in dem man sich politisch unbehelligt fromme Seltsamkeiten leisten konnte, von der Schulverweigerung über die öffentliche Dämonenaustreibung bis zum Kreationismus, gibt es nicht mehr. Politische und theologische Unterscheidungen im Innern der evangelikalen Bewegung und der Dialog mit den Kirchen lassen sich nicht länger vermeiden.
Hansjörg Hemminger, Stuttgart