Patricia Schüler

Flucht in eine andere Welt

Besuch einer Gnostischen Messe des Ordo Templi Orientis

Weltanschauungsarbeit befasst sich mit den Lehren und Lebensformen religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften. Eher selten wird beschrieben, wie die alltäglichen Kultvollzüge aussehen, die das religiöse Erleben einer Gemeinschaft ausmachen und die in der Mitgliederperspektive meist zentraler sind als die offiziellen Lehren. In einer losen Folge berichten wir daher von Besuchen im Kultus verschiedener Gemeinschaften. Es handelt sich dabei um Momentaufnahmen und persönliche Impressionen, die nicht den Anspruch erheben, die geistliche Praxis einer Gemeinschaft repräsentativ darzustellen.

Während eines Praktikums bei der EZW ergab sich die Möglichkeit, an einer „Gnostischen Messe“ des Ordo Templi Orientis (O.T.O.) teilzunehmen, einer neugnostischen, teilweise auf Aleister Crowley zurückgehenden Gruppe.

Gnostische Messen finden in Berlin zwar regelmäßig und nicht im Geheimen statt, werden aber nicht öffentlich beworben. Wenn man jedoch erst einmal Kontakt zu der Gruppe hat, wird man über E-Mails auf dem Laufenden gehalten und zu diesen und anderen Veranstaltungen des O.T.O. eingeladen. Schon die erste E-Mail, die meinen Besuch ermöglichte, überraschte mich, da in einer angehängten Datei mit Informationen rund um die Messe ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass jeder Gast gern gesehen sei: „Unsere Feier der Gnostischen Messe teilen wir freudig mit unseren Freunden und allen, die nach Weisheit suchen.“ Aufgrund des Bildes, welches ich vom „(Neo-)Satanismus“ hatte, zu dem die okkulte, ursprünglich sexualmagische Gruppierung gezählt wird, kam das unerwartet.

Am Telefon wurden mir nach einer kurzen Rückfrage zu meinem Interesse Ort und Zeit der Veranstaltung mitgeteilt. Die Messe sollte samstags um 15 Uhr in Berlin-Tempelhof stattfinden.

Erste Eindrücke

Erst als ich vor Ort war, wurde mir klar, dass es sich beim Veranstaltungsort um eine private Wohnung handelte. Da der O.T.O. zu den ältesten und bekanntesten okkulten Gruppen gehört, war ich eher auf eine Art Vereinshaus, Kirche oder Ähnliches als zentralen Ort der Zusammenkünfte eingestellt gewesen. Anscheinend ist aber die Mitgliederzahl dafür viel zu gering.

Die Begrüßung an der Tür war herzlich, aber nicht unangenehm überschwänglich. Die Wohnung wirkte gemütlich und nicht sehr außergewöhnlich: Es hingen ein paar altägyptische Figuren an der Wand, die sonstige Einrichtung bestand aus zusammengewürfelten, meist älteren Möbelstücken. Persönlich angesprochen fühlte ich mich, als ich entdeckte, dass im Wohnzimmer zwei Wände mit einer beeindruckenden Sammlung von Fantasy-Büchern bedeckt waren, von denen ich selbst ebenfalls die meisten besitze. Zum Wohlfühlen trugen auch die beiden herumliegenden „Tempel“-Katzen bei, die mir schon im Vorfeld angekündigt worden waren.

Nach und nach trafen die Besucher und Besucherinnen ein, bis wir zehn Personen waren. Die Gruppe bestand je zur Hälfte aus Männern und Frauen und reichte altersmäßig von Mitte 20 bis etwa 60. Jeder war auffallend freundlich, einige waren neu, nicht alle kannten sich, und so tauschten sich die Teilnehmer untereinander aus. Interessiert, aber unaufdringlich wurden mir im Kreis von fünf Teilnehmern Fragen zu meinem Religionswissenschaftsstudium gestellt. Die anderen fünf bildeten das Team, das derweil das Ritual vorbereitete und später durchführte. Die meisten Anwesenden, so erfuhr ich, kommen nicht zu jeder Gnostischen Messe oder jedem Ritual, sondern nur gelegentlich. Auch die generelle Aktivität im O.T.O. schwanke, wie mir erklärt wurde, zwischen Flauten und Aufwind. Es scheint alles völlig unverbindlich und frei zu sein, entweder man kommt oder man kommt nicht – wie man möchte.

Das Ritual

Kurz bevor die Messe anfing, brachte uns die „Diakonin“ (eine der Ritualrollen) das Buch „Liber Al vel Legis“ (Buch des Gesetzes) von Aleister Crowley, welcher den O.T.O. vor 100 Jahren leitete und ihn stark beeinflusst hat. Jeder sollte ein paar Verse zur Einstimmung vorlesen. Dabei war es jedem selbst überlassen, ob er das etwas schwierige, altertümelnde Englisch oder die deutsche Übersetzung lesen wollte. Danach gingen wir in den vorbereiteten Zeremonienraum, um die Gnostische Messe – nach dem ebenfalls auf Crowley zurückgehenden Wortlaut und Verlauf – durchzuführen.

In der E-Mail, die mir die Teilnahme eröffnet hatte, war darauf hingewiesen worden, dass der Ablauf in Crowleys Buch „Magick“, Band 2, als Liber XV zu finden sei, dessen Kenntnis nicht erforderlich, aber wünschenswert wäre. Ebenso war betont worden, dass alle Besucher, auch die, die zum ersten Mal dabei seien, eine Teilnehmerrolle haben würden, also an den entsprechenden Stellen Worte mitzusprechen oder Handlungen durchzuführen hätten. Eine Zuschauerrolle ist beim O.T.O. – wie generell bei den Ritualen auch anderer (neu)heidnischer, schamanischer und ähnlicher Gruppen – nicht vorgesehen. Diese Teilnahmevoraussetzung war also vorher transparent, und man hatte mich mehrfach schriftlich und mündlich darauf hingewiesen und sie erläutert. Da auch der Ritualtext schriftlich fixiert ist, weiß man als Besucher also genau, worauf man sich einlässt. Mir hätte es besser gefallen, nur zuschauen zu können, da ich es unangenehm finde, Verse mitzusprechen, an die ich nicht glaube. Der O.T.O. erklärt aber, dass Glaube nicht erforderlich sei, man solle nur bereit sein, das Glaubensbekenntnis etc. zu sprechen. Dies und der Umstand, dass ich keiner Religion angehöre und somit nicht in innere Konflikte gerate, machte es weniger unangenehm für mich.

Der Zeremonienraum wurde von der Ritualeinrichtung dominiert, stand aber auch voller Bücher. Wir Teilnehmer setzten uns an die gegenüberliegenden Wände auf kleine Hocker, sodass zwischen uns Platz für ein Pult des „Diakons“ und ein Tischchen war sowie für die Imitation eines stehenden Sarges, in dem sich zu Beginn der „Priester“ befand. Der ganze Raum war durch schwarze Vorhänge abgedunkelt. An bestimmten Stellen der Messe wurde mystische Musik in moderater Lautstärke eingespielt. Da die genaue Beschreibung der Messe im Buch 25 Seiten umfasst, kann hier nur ein Überblick gegeben werden. Die Messe wurde an diesem Tag auf Englisch abgehalten, zum besseren Verständnis werde ich die deutsche Übersetzung verwenden.

Auch im Ritual selbst spielte das „Buch des Gesetzes“ eine große Rolle. Es wurde zuerst von der Diakonin geküsst und offen auf den Altar gestellt. Anfangs sprachen alle zusammen einen der Kernsätze der Messe und der O.T.O.-Lehre: „Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen“ – gefolgt von dem recht langen Glaubensbekenntnis. Vor Beginn hatte jeder Teilnehmer ein Textblatt mit allen zu sprechenden Stellen bekommen.

Danach traten die sogenannte „Jungfrau“ (Priesterin) und die „Kinder“ auf – beides sind Ritualrollenbezeichnungen, es handelt sich um Erwachsene. Ein „Kind“ war schwarz gekleidet, das andere weiß. Eines trug Salz und Wasser, das andere Weihrauch und Parfum herein. Die Jungfrau „erweckte“ den Priester mit einem Schwert und einer Lanze, welche an den Priester übergeben wurden, und setzte sich auf den Altar, der daraufhin von einem dunkelroten Vorhang verdeckt wurde. Wenig später wurde dieser wieder aufgezogen, und die Jungfrau war unbekleidet, saß aber mit geschlossenen Beinen und langen Haaren über dem Oberkörper da.

Es folgten einige Wortwechsel zwischen dem Priester und der Priesterin. Sie drehten sich um die Themen Liebe, Begehren und Vereinigung, Feste und Rituale, die gefeiert werden sollen, Geheimnisse, Energien, höhere Wesen und Schöpfungen. Die Formulierungen waren feierlich, anbetend und trotz des altertümelnden, der King-James-Bibel aus dem 16. Jahrhundert nachempfundenen Englisch durchaus verständlich, wenn auch gleichzeitig in ihrer Bedeutung etwas kryptisch. Dies entsprach in etwa dem, was ich mir vorher vorgestellt hatte. Priester und Priesterin sahen sich dabei sanft, hingebungs- und liebevoll an, und so wurden auch über die ganze Zeit die Bewegungen ausgeführt. Am Ende kniete der Priester vor der Priesterin, die Hände an ihren Schenkeln und den Kopf an ihrem Schoß.

Nun sprach die Diakonin die weiteren Gebete, bei denen die Versammelten nach jedem Abschnitt mit „So sei es“ antworteten. Im Anschluss folgte die Weihung der Elemente, welche wiederum vom Priester durchgeführt wurde. Dabei wurden viele Kreuzzeichen über einem Weinkelch, einem Teller voller Kekse und über der Priesterin geschlagen.

Anschließend wurde ein Gebet gesprochen, das mit der Versammlung rezitiert wurde, zum Teil auch von Frauen und Männern im Wechsel. Was nun folgte, erinnerte an ein christliches Abendmahl. Alle standen nach und nach auf, gingen im Uhrzeigersinn um Pult und Tischchen herum zum Altar und nahmen einen Keks. Man führte damit ein Kreuzzeichen aus und aß ihn. Danach nahm man einen Kelch mit Wein, schlug ein Kreuz über der Priesterin auf dem Altar aus, drehte sich zur Gemeinschaft und sprach: „Es gibt keinen Teil an mir, der nicht von den Göttern ist.“ Dann nahm man wieder Platz. Nach ein paar Abschlussworten des Priesters war dann die Messe beendet, und es folgte ein gemütliches Beisammensein bei selbstgekochtem Essen.

Als ich im Gespräch erwähnte, dass der O.T.O. in der Literatur bisweilen als Neosatanismus bezeichnet wird, stieß das eher auf Unverständnis. Die Anwesenden fanden, dass Begriffe wie „Satanismus“ und „Neosatanismus“ sehr breit verwendet und dabei immer schwammiger würden, während das damit verbundene Image gleichbleibend negativ sei. Tatsächlich sind kategoriale Zuordnungen bei vielen neuheidnischen Gruppen schwierig, da sie sich oft personell überschneiden, sich gegenseitig beeinflussen und von den Teilnehmern bzw. Mitgliedern unterschiedlich erlebt und gesehen werden. Der Priester etwa erklärte, dass er das Ritual als „Psychodrama“ sehe, durch das er besser mit anderen Menschen in Kontakt treten könne, denn er halte Menschen nicht für die rationalen, vernunftgesteuerten Wesen, die sie zu sein glauben. Für ihn sei der O.T.O. keine Religion und kein „Satanismus“.

Fazit

Insgesamt hinterließ die Veranstaltung einen positiven Eindruck. Es herrschte von Anfang an Transparenz über den Ablauf und die Erwartungen an die Besucher. Vorerwartungen wurden teils bestätigt, teils korrigiert. So waren die Besucher keineswegs düster, mystisch und „dunkel“, wie sich vermutlich viele Außenstehende die Klientel des O.T.O. vorstellen, wenn auch der Stil der Kleidung und der Tattoos zum Teil in diese Richtung ging. Die Menschen wirkten vielmehr aufrichtig, warmherzig, freundlich und aufgeschlossen, dabei aber „echt“, nicht verstellt oder übertrieben. Die Erfahrung gefiel mir in dieser Hinsicht besser als die meisten Besuche in anderen religiösen Gemeinschaften.

Unklar blieb in der Kürze der Begegnung das weltanschauliche Element, das die Besucher einte. Was ist es, das die verschiedenen Deutungen des Geschehens als „Psychodrama“, als Glaubensakt, als magischer Vollzug oder einfach als Flucht in eine andere Welt zusammenhält? Hier bleibt wie oft im (Neo-)Paganismus eine Leerstelle, die sich aus dem ausgeprägten weltanschaulichen Individualismus ergibt – jeder deutet das Geschehen auf seine eigene, möglicherweise auf jeweils sehr unterschiedliche Weise.


Patricia Schüler, Hamburg