Forschungsfreiheit und Lebensschutz
Die Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Stammzellenforschung
In Deutschland darf künftig an embryonalen Stammzellen aus dem Ausland unter strengen Bestimmungen geforscht werden. Das entschied der Deutsche Bundestag am 30. Januar 2002 nach mehrstündiger kontroverser Debatte. Die längerfristige Perspektive dieser Forschung ist es, zur Behandlung bisher unheilbarer Krankheiten beizutragen. Eine generelle Freigabe des Imports von Stammzellen wurde abgelehnt. Immer wieder wurde in der Debatte darauf hingewiesen, dass die zu entscheidenden Fragen und die zur Abstimmung gestellten Anträge elementare Grundwerte der Gesellschaft und fundamentale Fragen menschlichen Selbstverständnisses berühren. Individuelle Antworten waren gefragt. Wenn es um Gewissensentscheidungen geht, kann es keinen Fraktionszwang geben. Fragen menschlichen Lebensschutzes können nicht allein aus biologischen Sachverhalten beantwortet werden, wenngleich jede Antwort auch biologische Entwicklungsprozesse berücksichtigen muss. Dass andere europäische und nichteuropäische Länder zur Stammzellenforschung politische Entscheidungen bereits getroffen haben, spielte in der Diskussion immer wieder eine Rolle, wurde jedoch von niemandem im Sinne einer faktischen Entscheidungsabnahme verstanden. Vielmehr dürfte es eine zentrale Aufgabe sein, auf europäischer und internationaler Ebene gemeinsame ethische und rechtliche Standards weiter zu entwickeln und zu stärken.
Durch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin" und durch den "Nationalen Ethikrat" gab es eine intensive Vorbereitung zur Frage des Imports embryonaler Stammzellen. Die gefundene Entscheidung stellt einen Kompromiss auf der inhaltlichen Linie der Vorarbeiten der genannten Gremien dar. Weder die "Totalverweigerer" des Imports noch die engagierten Befürworter fanden eine Mehrheit.
Unmittelbar vor der Bundestagsentscheidung (vom 28. bis 29. Januar 2001) veranstaltete die Evangelische Kirche in Deutschland in Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und der Evangelischen Akademie zu Berlin in der Französischen Friedrichstadtkirche einen Kongress unter dem Motto "Zum Bild Gottes geschaffen. Bioethik in evangelischer Perspektive". Er dokumentierte mit Ablauf, Programm und Referentenauswahl in m. E. überzeugender Weise, dass es in der evangelischen Kirche eine offene und niveauvolle Diskussion über die Frage der Beurteilung von Chancen und Risiken auf dem Feld bioethischer Forschung - u. a. auch der Stammzellenforschung - gibt. Der Rat der EKD stellte das von ihm in der gesellschaftlichen Diskussion vertretene "Nein" zur Forschung an embryonalen Stammzellen zur öffentlichen Diskussion. Das war befreiend, geschah von allen Seiten mit Fairness und brachte Erkenntnisgewinn vor allem in der Wahrnehmung der Argumente der jeweils anderen Position. Der ins Grundsätzliche gehende Streit wurde freilich nicht aufgehoben. Die zeitliche Positionierung unmittelbar vor der Entscheidung des Deutschen Bundestages verschaffte dem Kongress zusätzliche Beachtung und Resonanz. Die Behauptung, in die EKD habe ein ökumenischer Dogmatismus Einzug gehalten, der keine offene Diskussion mehr erlaube, wurde jedenfalls Lügen gestraft.
Während beider Debatten zeigte sich, dass ethische Entscheidungen und Orientierungen in einem engen Zusammenhang mit religiös-weltanschaulichen Überzeugungen stehen. Wer sagt, dass "zwischen dem Leben existierender oder werdender Menschen" und "menschlichem Leben, das nicht einem existierenden oder werdenden Menschen zugeordnet werden kann" (Johannes Fischer) ein grundlegender Unterschied besteht, hat mit dieser Auffassung die Basis für eine die Stammzellenforschung legitimierende ethische Urteilsbildung gelegt. Ebenso haben diejenigen, die den Schutz menschlicher Embryonen in uneingeschränkter Weise betonen, mit dieser Orientierung die Nutzung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken ausgeschlossen. Die eine Perspektive legitimiert Grundlagenforschung an Stammzellen durch Heilungsaussichten und Forschungsfreiheit, die andere rückt Menschenwürde, Lebensschutz von Anfang an in den Vordergrund und verneint jede Verzweckung des menschlichen Lebens.
Die Entscheidung des Deutschen Bundestages suchte den Kompromiss. Ich glaube allerdings nicht, dass in den zur Diskussion stehenden Fragen ein Kompromiss möglich ist. Die innere Widersprüchlichkeit der Entscheidung liegt darin, dass zur Herstellung embryonaler Stammzellen menschliches Leben getötet werden muss, so dass jetzt vereinzelt Forschung an solchen Stammzellen geschehen darf, deren Herstellung in Deutschland verboten ist und durch das Embryonenschutzgesetz missbilligt wird. Mit Recht hat Jürgen Habermas bereits im Vorfeld der Entscheidung des Bundestages darauf hingewiesen, dass wir auf eine "schiefe Ebene" geraten sind (Jürgen Habermas, DIE ZEIT Nr. 5, 24. Januar 2002, 33). Im Kern geht es um die Frage, welche Folgen sich aus der Dynamik der jetzt ermöglichten Entwicklung ergeben, deren grundlegende Voraussetzung das Konzept eines abgestuften Lebensschutzes für vorgeburtliches menschliches Leben ist. Welche Folgewirkungen wird ein instrumentalisierender Umgang mit menschlichen Embryonen nach sich ziehen? "Der Therapeut kann sich zu dem behandelten Lebewesen auf der Grundlage eines begründet unterstellten Konsenses so verhalten, als sei es schon die zweite Person, die es einmal sein wird. Hingegen nimmt der Designer gegenüber dem genetisch zu verändernden Embryo mit dem Ziel der Optimierung von Lebensfunktionen eine ganz andere, instrumentalisierende Stellung ein" (Habermas, ebd., 34).
Bereits mit der Rede des Bundespräsidenten vom 18. 5. 2001 ("Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß") und der Antwort von Hubert Markl, dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft vom 22. Juni 2001 ("Freiheit, Verantwortung Menschenwürde: Warum Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie") wurden die großen Linien dieser Debatte in charakteristischer Weise deutlich. In der Kontroverse geht es immer auch um einen Streit unterschiedlicher Welt- und Menschenbilder, um ein christliches bzw. kantianisches Verständnis des Menschen einerseits und ein szientistisch-pragmatisches, das sich freilich auch bei einzelnen Vertretern aus dem christlichen Heilungsauftrag begründet.
Bemerkenswert ist es schon, dass noch vor wenigen Jahren ein wichtiges Paradigma für die Verständigung in wissenschaftlichen Diskursen verschiedener Disziplinen lautete: Die Dialektik der Aufklärung muss wahrgenommen werden und die Zwiespältigkeit des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts muss Folgen haben für den Umgang des Menschen mit der Natur und allem Lebendigen. Dem Zugriff der instrumentellen Vernunft mit ihrer Verdinglichungssucht ist etwas entgegen zu setzen. Hans Jonas schrieb seine Ethik der Verantwortung und forderte pointiert eine "Heuristik der Furcht" und die Selbstbeschränkung menschlicher Freiheit mit dem Ziel, auch für kommende Generationen Freiheitsräume offen zu halten. Die heutige Debatte hat andere Leitbegriffe, die nicht selten pragmatisch sind und mit dem Pathos der Ideologiefreiheit vorgetragen werden. Der wissenschaftliche Fortschritt nährt wieder Visionen vom optimierten Menschen. Dass wissenschaftliche Forschung immer neue Grenzen überschreitet, ist ein in der Natur der Sache liegendes Geschehen. Zugleich vollzieht sich die Forschung freilich nicht unabhängig von religiös-weltanschaulichen Überzeugungen. Weltanschauliche Neutralität ist insofern eine Illusion. Jedenfalls können und dürfen nicht "hochrangige Ziele medizinischer Forschung … darüber bestimmen, ab wann menschliches Leben geschützt werden soll" (Johannes Rau). Es erstaunt schon, dass eine ganze Reihe evangelischer Sozialethiker von ihrer Kirche in dieser Debatte vor allem eines erwarten und einfordern: Modernitätskonformität. Vor der Entscheidung des Bundestages meldeten sie sich mit einem Positionspapier in der FAZ zu Wort, in dem die Meinung vertreten wird, dass der Schutz des frühen Embryos in Konkurrenz zu der Pflicht treten könne, Leiden zu lindern. Sie plädierten für eine Ethik des Heilens und distanzierten sich vom "Naturalismus" kirchlicher Stellungnahmen. Vorgänge wie diese zeigen, dass die Debatte über ethische Fragen im Zusammenhang der Lebenswissenschaften weiter gehen wird und muss, in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, aber auch in der Kirche. Die Kirche aber wird nur in dem Maße auf Gehör und Resonanz rechnen können, in dem sie etwas Eigenes zu den anstehenden Fragen zu sagen in der Lage ist, also erkennbar ist in ihrer Orientierung an christlicher und evangelischer Wahrheit.
Reinhard Hempelmann