Arnulf von Scheliha / Catharina Jacob

Fortschritt in der Religionspolitik?

Beobachtungen aus Anlass des Regierungswechsels

Der Koalitionsvertrag der Parteien, die seit dem 8. Dezember 2021 die Bundesregierung stellen, trägt den Titel „Mehr Fortschritt wagen“. Während die Schlagworte des Untertitels „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ unschwer der jeweiligen Grundausrichtung der beteiligten Regierungspartner, SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP, zugerechnet werden können, verblüfft die Verwendung des Begriffs „Fortschritt“ im Haupttitel etwas.1  Zwar dürfte es sich bei dem ganzen Term um eine Anspielung auf Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ aus der ersten Regierungserklärung der sozialliberalen Koalition von 1969 handeln. Aber der Rekurs auf die Fortschrittskategorie ist deswegen erstaunlich, weil es doch vor allem der industrielle und wirtschaftliche Fortschritt gewesen ist, der für die gegenwärtige Klimakrise, zu deren Bekämpfung die Ampelkoalition sich prioritär zusammengefunden hat, verantwortlich ist. Die Einsicht in die Dialektik der Aufklärung und des von ihr propagierten Fortschritts, nichts weniger als ein wichtiger Ertrag des philosophischen Diskurses des 20. Jahrhunderts, scheint die neue Koalition mit ihrer Affirmation vergessen machen oder doch hinter sich lassen zu wollen.

Wie dem auch immer sei: Alle programmatischen Äußerungen der neuen Regierung dürften unter dem Vorzeichen des Fortschrittsbegriffs und seiner Merkmale „Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ zu lesen sein. Das dürfte auch für die Religionspolitik gelten.

1  Kirchen und Religionsgemeinschaften im Koalitionsvertrag der „Ampel“

Die einschlägige Passage zur Religionspolitik findet sich im Kapitel „VI. Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie“. Die knapp zwölfzeiligen Ausführungen stehen unter der Überschrift „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ innerhalb des Abschnittes über „Innere Sicherheit, Bürgerrechte, Justiz, Verbraucherschutz, Sport“. Der vorherige Unterabschnitt thematisiert die SED-Opfer, der nachfolgende das Unternehmensrecht. Stellung und Länge signalisieren, dass das Thema Religionspolitik für die neue Regierung eine eher minder ausgeprägte Priorität hat. Die Passage beginnt mit zwei wertschätzenden und in der Sache angemessenen Sätzen:

„Kirchen und Religionsgemeinschaften sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens und leisten einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft. Wir schätzen und achten ihr Wirken“ (111).

1.1  Keine Egalisierung der Religionskultur

Mit der Unterscheidung von „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ heben die Parteien die besondere Prägekraft der christlichen Kirchen hervor und verzichten auf eine egalisierende Haltung gegenüber der Religionskultur als Ganzer. Allerdings wird die Bedeutung des „jüdischen Lebens“ und des „muslimischen Lebens“ an anderer Stelle eigens thematisch. Diese Passagen stehen in dem Abschnitt „Vielfalt“. „Muslimisches Leben“ wird im Anschluss an „Migration, Teilhabe und Staatsangehörigkeitsrecht“ aufgerufen, was zeigt, dass – jedenfalls im Duktus des Koalitionsvertrages – für die Koalitionäre der Islam noch nicht wirklich zu Deutschland gehört. In den beiden Sätzen zum „muslimischen Leben“ finden sich drei bemerkenswerte Aussagen. Erstens: „Wir wollen der Vielfalt des muslimischen Lebens Rechnung tragen“ (119). Dieser Satz zielt auf ein plurales Verständnis des Islam und akzentuiert damit implizit die progressiven Kräfte. Dem Minderheitenschutz dient, zweitens, der Hinweis auf „umfassenden Schutz, Prävention und bessere Unterstützung der Betroffenen“ (119). Zu begrüßen ist sicherlich auch die an dritter Stelle angekündigte Förderung von Kooperation und Dialog aller Religionsgemeinschaften, mit dem der Abschnitt endet.

Ein im Vergleich dazu stärkerer Akzent liegt auf dem „jüdischem Leben“, dem immerhin neun Zeilen gewidmet werden (vgl. 119). Diese Akzentuierung wird freilich dadurch etwas relativiert, dass die folgende Passage zu „Queerem Leben“ 28 Zeilen umfasst (vgl. 119f). Auch beim „jüdischen Leben“ soll Vielfalt gefördert werden. Im Vordergrund stehen indes die Bekämpfung des Antisemitismus, der Schutz, der vor allem durch Prävention gewährleistet werden soll, und die Intensivierung der Gedenkkultur. Das ist sicherlich dringend erforderlich, unbedingt zustimmungsfähig und dürfte bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die nun die größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag stellt, auf Zustimmung stoßen. Eine nachhaltige Bekämpfung des grassierenden Antisemitismus und die Stärkung des jüdischen Lebens bedeuteten in der Tat einen wichtigen religionspolitischen Fortschritt.

1.2  Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen

Mit Blick auf die christlichen Kirchen sieht die Koalition den Fortschritt im Gesetz zur Ablösung der Staatsleistungen nach Art. 138 Abs. 1 WRV, der über GG Art. 140 noch immer Teil der gegenwärtigen Verfassung ist. Hierbei handelt es sich um ein Verfassungsgebot, das seit 1919 besteht und bis zur Stunde nicht eingelöst wurde. Zur Ablösung der Staatsleistungen, bei denen es sich vorwiegend um Entschädigungszahlungen für säkularisierungsbedingte Vermögensverluste im Zuge der Reformation und des Reichsdeputationshauptschlusses (1803) handelt, hatte es in den beiden zurückliegenden Legislaturperioden bereits drei parlamentarische Gesetzentwürfe gegeben (von der Fraktion „Die Linke“, von der AfD und einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen „Die Linke“, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen), die jeweils mit den Stimmen der Regierungsmehrheit von CDU/CSU und SPD abgelehnt wurden. Insofern haben sich im Koalitionsvertrag die ReligionspolitikerInnen der kleinen Partner gegen die SPD durchgesetzt. Zu diesem Vorhaben hat sich bereits der Staatsrechtslehrer Hans Michael Heinig, Direktor des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD in Göttingen, geäußert und den Kirchen geraten, diesbezüglich am Ball zu bleiben.2  Auch die EKD selbst äußerte sich offen für Gespräche und Kooperation.3

1.3  Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechts

Fortschritt soll es auch bei der Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechtes geben. Positiv zu bewerten ist, dass die Koalitionäre das bestehende „kooperative Trennungsmodell“ anerkennen und als bewährt auffassen. Die angekündigte Weiterentwicklung zielt mit guten Gründen auf „die Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden“ (111). Was sich hinter der Formulierung der in Aussicht genommenen „Ergänzungen des Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften“ (111) verbirgt, ist indes nicht klar. Jenseits des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes gibt es keinen genuinen Rechtsstatus für Religionsgemeinschaften, denn das Vereinsrecht ist für jeden Zweck offen. Man könnte an ein Verfahren zur Anerkennung einer (irgendwie organisierten) Religionsgemeinschaft als Religionsgemeinschaft denken. Dabei wären schwerwiegende grundrechtliche, öffentlich-rechtliche, privat- und steuerrechtliche Fragen zu klären. Die Gefahr, dass dabei ein bürokratisches Monster entsteht, wäre abzuwenden. Die vorgesehene „enge Abstimmung mit den betroffenen Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (111) kann dafür sicherlich hilfreich sein.

Auch in diesem, die Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechtes betreffenden Absatz begegnet die Formulierung, dass die Regierungskoalition „[n]euere, progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften“ (111) fördern und in den Prozess der Weiterentwicklung des Religionsrechtes einbinden will. So sehr dies in der Sache auch zu begrüßen sein mag, so ist doch zu fragen: Ist dieses Vorhaben mit der Religionsfreiheit vereinbar? Darf der Staat progressive islamische Gemeinschaften herauspicken und bevorzugen? Welche Art von Progressivitätsnachweis wäre dafür zu erbringen und entscheidet darüber nach welchen Kriterien? Anders gewendet: Droht hier nicht ein staatlicher Eingriff in das theologische oder religionsgelehrte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften?

Zuletzt wird in diesem Zusammenhang der Ausbau der „Ausbildungsprogramme für Imaminnen und Imame an deutschen Universitäten in Zusammenarbeit mit den Ländern“ (111) erwähnt. Hier setzt man fort, was die Vorgängerregierungen angeschoben haben, und diese Maßnahme dürfte der seit 2010 erfolgenden akademischen Etablierung der islamischen Theologie Zukunftsfestigkeit verleihen. Der auf dem Gebiet der Akademisierung der islamischen Theologie bislang erreichte Fortschritt dürfte dadurch stabilisiert werden.

1.4  Weitere Bezugnahmen auf Religion und Kirchen

Das Thema Religion begegnet auch im Abschnitt über „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“. Hier liest man von einer Stärkung des Bereichs „Religion und Außenpolitik“ (126). Es handelt sich wohl um die Fortschreibung der Initiative des damaligen Bundesaußenministers Sigmar Gabriel, in dessen Amtszeit das Projekt „Friedensverantwortung der Religionen“ angeschoben wurde.4  Das zuständige Referat 612 „Religion und Außenpolitik“ ist in der Abteilung „Kultur und Kommunikation“ im Auswärtigen Amt angesiedelt. Überdies fördert das Auswärtige Amt den interreligiösen Konsultationsprozess „Religionen, Diplomatie und Frieden“ an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.5

Die Kirchen werden im Koalitionsvertrag noch zweimal eigens erwähnt – und zwar in für sie kritischen Kontexten. Einmal wird im Abschnitt über „Mitbestimmung“ (im Kapitel „Arbeit“) angekündigt, dass geprüft werden soll, „inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann“ (71). Diese religionspolitische Initiative war erwartbar und hat Rückenwind durch die europäische Rechtsprechung, die das kirchliche Arbeitsrecht unter Druck gesetzt hat. Der angekündigte Vollzug der Angleichung hätte wohl gravierende Folgen für die kirchlichen und kirchennahen Unternehmungen. Er steht jedoch unter zwei Vorbehalten. Die Koalition will das Vorhaben gemeinsam „mit den Kirchen prüfen“ (71), also zumindest ein Benehmen herstellen. Überdies sollen von einer solchen Angleichung ausdrücklich sog. „verkündungsnahe Tätigkeiten“ (71) ausgeschlossen werden. An dieser Stelle ergibt sich erheblicher Definitions- und Verhandlungsbedarf, auf den die betroffenen Kirchen offensiv und durch theologische Klärung ihrer Beschreibung vom kirchlichen Amt reagieren sollten. Gerade für die evangelischen Kirchen entsteht hier die Aufgabe, sich im Gegenüber zu einem in der öffentlichen Wahrnehmung zuweilen dominierenden katholischen Amts- und Verkündigungsverständnis zu positionieren und ekklesiologisch über die zentrale reformatorische Denkfigur des Priestertums aller Gläubigen zu reflektieren und zu bestimmen, welche Tätigkeiten in dieser Linie als verkündigungsnah zu bestimmen sind. Eine Restriktion auf Wort und Sakrament im Sonntagsgottesdienst liegt dabei nicht nahe. Vielmehr dürfte auch der diakonische Dienst am Nächsten als genuiner Bestandteil verkündigungsnaher Tätigkeit zu verstehen sein. Von hier aus wären dann Linien zu der Arbeit in der institutionalisierten Diakonie zu ziehen, die eine zentrale Rolle im wohlfahrtstaatlichen Gebilde einnimmt und in der das kirchliche Arbeitsrecht eine erhebliche Rolle spielt.

Solche Fragen des theologischen Selbstverständnisses des eigenen Handelns betreffen nicht nur die christlichen Kirchen, sondern – womöglich noch schärfer – andere Religionsgemeinschaften. Denn zu klären wäre, welche Auswirkungen eine Angleichung des kirchlichen Arbeitsrechtes auf die anderen Religionsgemeinschaften hätte. Ist es einem muslimischen Kindergarten zuzumuten, eine atheistische Erzieherin einzustellen? Muss eine jüdische Gemeinde nicht weiterhin das Recht haben dürfen, bevorzugt ein eigenes Gemeindeglied als Hausmeister einzustellen? Religionspolitisch ist die Gefahr zu vermeiden, dass eine mit den Kirchen ausgehandelte Lösung in Sachen Arbeitsrecht am Ende vor allem zu Lasten der Selbstbestimmung der religiösen Minderheiten geht.

Sodann wird im Abschnitt zum „Kampf gegen Kindesmissbrauch“ auf die „Aufarbeitung struktureller sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in gesellschaftlichen Gruppen, wie Sportvereinen, Kirchen und der Jugendarbeit“ (108), hingewiesen, die begleitet, gefördert und durch neue gesetzliche Grundlagen ergänzt werden soll. Angesichts der Komplexität des Themas ist dieses Vorhaben sicherlich zu begrüßen. Die Anstrengungen, die die Kirchen auf diesem Gebiet schon unternommen haben, werden allerdings nicht erwähnt. Dass andere gesellschaftliche Gruppen, insbesondere die Sportvereine, ebenfalls in den Fokus genommen werden, ist wegen der mutmaßlichen Vielzahl an Opfern sehr zu begrüßen, kann aber diese Gruppen und ihre gesellschaftliche Bedeutung schwächen – mit schwerwiegenden Folgen für die Gesamtgesellschaft, die dann wiederum politisch aufgefangen werden müssten. Denn dass die Zivilgesellschaft gerade „in fragilen Kontexten“ (152) handlungsfähige Akteure benötigt, zu denen neben Vereinen und Gewerkschaften auch die Kirchen gehören, wird an anderer Stelle im Koalitionsvertrag mit guten Gründen eingeräumt.

2  Positionierung der „Ampel“ zu ethischen Themen

Mit Blick auf das Engagement der Religionsgemeinschaften in den großen ethischen Diskursen ist relevant, dass die Koalition es ausdrücklich begrüßt, „wenn durch zeitnahe fraktionsübergreifende Anträge das Thema Sterbehilfe einer Entscheidung zugeführt wird“ (113). Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar 2020, das die seit 2015 geltenden gesetzlichen Bestimmungen zum assistierten Suizid (§ 217 StGB Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung) für nichtig erklärt hatte,6  führte der Deutsche Bundestag im April 2021 eine erste Orientierungsdebatte und sichtete dabei verschiedene Gesetzesvorschläge, die teils innerhalb, teils außerhalb des Parlamentes erarbeitet worden waren. Die neue Regierungskoalition hat sich offenbar nicht auf eine gemeinsame Gesetzesinitiative verständigen wollen, sondern unterstützt eine erst zu findende parlamentarische Mehrheit, die wohl auf der Basis eines aufgehobenen sog. Fraktionszwanges zustande kommen soll. Dieses Vorgehen ist angesichts der schwerwiegenden Bedeutung des Themas sehr angemessen. Es spiegelt auch die diesbezüglich im evangelischen Spektrum erkennbare ethische Vielfalt und gibt ihr auf diese Weise Raum zur politischen Entfaltung.

Mit Blick auf das von den christlichen Kirchen – freilich in stark unterschiedlicher Akzentuierung – vertretene Familienverständnis sind zwei weitere Vorhaben der neuen Regierung von erheblicher Relevanz. Im gleichen Kapitel findet sich im Abschnitt „Gleichstellung“, dort im Unterabschnitt „Reproduktive Selbstbestimmung“, das Vorhaben einer Verbesserung der Schwangerschaftskonfliktberatung, verbunden mit dem kurzen Satz: „Daher streichen wir § 219a StGB“ (116). Diese Norm enthält das Verbot der Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch, das in jüngster Zeit Gegenstand von aufsehenerregenden Prozessen war. In den einschlägigen Diskussionen waren die Kirchen für die Beibehaltung dieser Norm mit dem neu eingeführten Abs. 4 eingetreten, die nun zur Abschaffung ansteht. Sie dürften vor allem diejenigen Frauen als Fortschritt ansehen, die im Werbeverbot eine Behinderung ihres Rechtes auf selbständig zu beschaffende Informationen gesehen hatten.

Die von den Regierungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbarte Unterstützung von ungewollt Kinderlosen bei reproduktionsmedizinischen Maßnahmen und die vorgesehenen Reformen im Familienrecht dürften bei den evangelischen ChristInnen und der EKD auf Zustimmung stoßen. Die EKD hatte sich in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ schon 2013 auf das moderne Familienverständnis eingelassen und das darin eingelagerte Selbstbestimmungsmotiv bejaht. Dies gilt nicht für die römisch-katholische Kirche, der die schon unter den alten Mehrheiten beschlossenen Innovationen in der Reproduktionsmedizin und im Familienrecht zu weit gingen.

Anders wiederum dürfte es sich bei den nun vereinbarten Vorhaben zur Migrations- und Einwanderungspolitik verhalten. Hier gibt es insbesondere bei den Themen Familienzusammenführung, Erleichterung der Einwanderung und Asylverfahren beachtliche Konvergenzen mit denjenigen Forderungen, die der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in ihrem gemeinsamen Wort „Migration menschenwürdig gestalten“ erst im Herbst 2021 vorgelegt hatten.7

3  Eher Fortschreibung als Fortschritt

Insgesamt wird man die religionspolitischen Ambitionen der neuen Regierungskoalition als gedämpft einstufen können. Das Label „Fortschritt“ passt auf diesem Gebiet nicht wirklich, angemessener wäre es, von „Fortschreibung“ zu sprechen. Die Ablösung der Staatsleistungen und die Reform des kirchlichen Arbeitsrechtes dürften aber, wenn sie erfolgt sein werden, die finanzielle Ausstattung der Kirchen langfristig stark beeinflussen. Bei der gegenwärtigen Einschätzung der religionspolitischen Lage ist zu berücksichtigen, dass der Bund auf diesem Gebiet nur geringe Zuständigkeit hat. Die Länder sind hier vor allem federführend und haben mit den Landeskirchen und Diözesen auch regionale Ansprechpartner, mit denen Lösungen auszuhandeln sind. Die Durchführung der Ablösung der Staatsleistungen, die Feiertage, der schulische Religionsunterricht und akademische Theologien – all das fällt in die Zuständigkeit der Bundesländer. Auf dieser Ebene könnten sich in den nächsten Jahren weitere Spielräume auftun, die wiederum bundespolitisch ausstrahlen würden.

4  Religionspolitische Positionierungen der „Ampel-Jugend“

Für eine solche Entwicklung gibt es mehrere Indikatoren. Auf einen Indikator soll hier noch genauer eingegangen werden. Denn aus den programmatischen Positionen der Jugendorganisationen derjenigen Parteien, die die Ampel-Regierung stellen, geht hervor, dass die NachwuchspolitikerInnen erheblich mehr religionspolitischen Reformbedarf sehen als diejenigen PolitikerInnen, die den jetzigen Koalitionsvertrag ausgehandelt haben. Sie drängen deutlich stärker auf Fortschritt.

Allerdings ist für die Jugendverbände die Religionspolitik weder prioritär noch überhaupt ein Thema, das ihr politisches Profil bemerkenswert prägt. Auf ihren Homepages sind religionspolitische Positionen schwer bis gar nicht zu finden. Allein die Jungen Liberalen (JuLis) haben im Jahr 2021 ein religionspolitisches Grundsatzprogramm durch ihren Bundesvorstand verabschiedet. Bei den Bundeskongressen aller drei Jugendverbände werden dagegen schon immer wieder Anträge gestellt, bei denen sich ein roter Faden durchzieht: Der Eigenwert der Religionen und die Bedeutung ihrer Ethiken für das Gemeinwesen werden kaum gewürdigt, die zivilgesellschaftliche Bedeutung der religiösen Akteure und ihre Bedeutung für die Generierung moralischer Ressourcen werden nicht anerkannt. Im kritischen Fokus steht vielmehr die institutionelle Form der Religion, die man als traditionalistisch bis repressiv ansieht und wogegen kritisch-emanzipativ die individuelle Selbstbestimmung zur Geltung gebracht wird.

  • Die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD(Jusos) bildet als sozialistischer, feministischer, internationalistischer und antifaschistischer Verband eine eher religionskritische Strömung in ihrer Mutterpartei, die in anderen parteiinternen Gruppen auch große Übereinstimmungen mit dem Christentum aufweist und viele ChristInnen in ihren Reihen hat. Dieses parteiinterne Spannungsfeld zeigt sich immer wieder: Anträge aus den Reihen der Jusos, die auf eine radikale Trennung von Staat und Kirche abzielten, wurden wiederholt eingebracht, aber nicht beschlossen. Es fanden verschiedene parteiinterne religionspolitische Diskussionsveranstaltungen statt.8
  • Die JuLis haben 2021 unter dem vielsagenden Titel „Zehn Gebote für einen Liberalen Staat“9  einen Beschluss gefasst, der ihre religionspolitischen Positionen kompiliert. Programmatisch im Vordergrund stehen individuelle Freiheit und Selbstbestimmung, Glaube wird als Privatsache angehen. Dementsprechend wird eine Staatsreligion abgelehnt. Die bestehenden Kooperationen von Staat und Kirche gelten als Erbe der „Verzahnung von weltlicher und geistlicher Obrigkeit“, das „vor allem den Kirchen besondere historisch gewachsene Privilegien“ sichere. „Der Staat darf nicht zum Sittenwächter im Auftrag der Religionen werden. Wir wollen gegenüber einengenden Moralvorstellungen einzelner Gruppen wieder stärker die persönliche Freiheit aller Individuen in den Vordergrund stellen.“ Religiöse Moralvorstellungen gelten bei den JuLis zwar als durch das Religionsverfassungsrecht gestützt, dürfen aber die Freiheitsrechte Dritter nicht einschränken. Folgerichtig wird vor allem die negative Religionsfreiheit betont, während die positive Religionsfreiheit eher als zu überwindendes Relikt gilt. Das „Ideal eines weltanschaulich neutralen Staates“ bedeutet für die JuLis die völlige Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften. Eine „Sonderrolle im Gemeinwesen“ für die Religionen wird verneint.
  • Auch die Grüne Jugend möchte Religion als Privatsache behandeln. Während die grüne Mutterpartei ein kritisch-anerkennendes Verhältnis zum aktuellen Religionsverfassungsrecht etabliert hat,10  ausgrenzende Traditionen zwar überdenkt, aber z. B. den Wert der Sonn- und Feiertage als „Tage der Arbeitsruhe, die den Lebensrhythmus der Menschen strukturieren und der Erholung sowie des familiären und sozialen Miteinanders dienen“11, würdigen kann, ist in der Jugendorganisation mehr Druck auf dem religionspolitischen Kessel. Gefordert wird in bemerkenswerter Schärfe „die Streichung des Gottesbezuges im Grundgesetz und dessen Ersatz durch die Festschreibung einer laizistischen Grundordnung, die Abschaffung staatlicher Leistungen, die Umwandlung theologischer Fakultäten zur Vermittlung von Religionswissenschaften“12.

4.1  Entflechtung und vollständige Trennung von Staat und Kirche

Einhellig fordern die Jugendorganisationen der Parteien das Entfernen von religiöser Symbolik aus dem öffentlichen Raum, was nicht nur den Gottesbezug in der Verfassung, Eidesformeln im staatlichen Raum sowie eine Abschaffung der §§ 166, 167 StGB (Blasphemieparagrafen) und religiöser Symbole an öffentlichen Einrichtungen umfasst, sondern bei JuLis und Grüner Jugend auch die Forderung nach einer Abschaffung der christlich geprägten Feiertage einschließt. Während die Grüne Jugend angesichts einer zunehmend entchristlichten Gesellschaft eine Kommission für die Reform der Feiertage fordert,13  gehen die JuLis noch einen Schritt weiter. Unter der eingängigen Überschrift „Gott raus aus dem Kalender“ werden nicht nur die sog. stillen Feiertage, sondern es wird auch der Sonntagsschutz zur Disposition gestellt. Die Regelungen entstammten einem „Moralsystem einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe“ und sollten besser durch ein flexibles und individualisiertes Urlaubssystem ersetzt werden.

Diese radikale Forderung übersieht indes, dass die ursprünglich religiösen Feiertage durch die Adaption in einer modernen Gesellschaft ihren religiösen Charakter teils vermindert, teils vollständig verloren haben und heute vor allem eine wichtige kulturelle, den gesellschaftlichen Rhythmus strukturierende und auch die soziale und familiäre Gemeinschaft schützende Funktion haben. Man kommt nicht umhin festzustellen, dass hier jede Sensibilität für die Bedeutung von Sonn- und Feiertagen als gemeinsame Zeit für die Regeneration der gesellschaftlichen Ressourcen fehlt. Die geforderte Regelung mit flexiblen Mindesturlaubstagen ist indes Ausdruck des steilen Liberalitätsverständnisses der JuLis, das sich grundsätzlich gegen starre Vorschriften richtet und vom Individuum her denkt: „Ruhe und Erholung soll jeder frei wählen dürfen“.

Weitere Forderungen der „Ampel-Jugend“ beziehen sich auf den Rückbau der öffentlichen Präsenz von Religion und Religionsgemeinschaften. Dazu gehören die Entfernung kirchlicher Vertreter aus den Rundfunkräten und das Ende kirchlicher Senderechte, wobei in diesem Fall die generell kritische Haltung der JuLis, die diese Forderung erheben, gegenüber dem öffentlichen Rundfunk zu erwähnen ist. Überdies fordert man das Ende der finanziellen Unterstützung von innerkirchlichen Zwecken wie die Zuschüsse für Kirchen- und Katholikentage. In diesem Zusammenhang ist ein Beschluss der Landesversammlung der Grünen Jugend NRW zum Lutherjahr 2017 interessant, in dem die Ablehnung der finanziellen Unterstützung inhaltlich – über Luthers Antisemitismus – und mit Verweis auf die organisatorische Trennung von Staat und Kirche begründet wird.14  In dem Beschluss heißt es:

„Martin Luther ist seines Zeichens Wegbereiter des modernen Antisemitismus und (Proto-)Antisemit, auch wenn die Kampagne Luther 2017 und Kirchenwissenschaftler*innen anderes behaupten. Neben seinem Antisemitismus enthält Luthers Theologie weitere unemanzipatorische Elemente.“

Der theologische Gedanke weitergeführt:

„Luther unterscheidet sich durch diese Äußerungen von der Mehrheit seiner Zeitgenoss*innen. Seine Aussagen sind mitnichten unreflektiert übernommen, sondern nehmen durch seine Interpretation eine deutliche Eigenständigkeit an.“

Die Einordnung und kritische Diskussion der angeblichen Unterwerfungstheologie Luthers, die lose an seine Obrigkeitslehre und an die Freiheitsschrift angedockt wird, erfolgt hier ohne die gebotenen theologischen Differenzierungen. Die Auseinandersetzung über Luthers Stellung zu den Juden, die es in der akademischen Theologie und in den evangelischen Kirchen gegeben hat, wird als unzutreffende Apologie der „Kirchenwissenschaftler*innen“ abgetan. Dies ist ein Indikator für den Ansehensverlust der akademischen Theologie. Man sieht aber auch, dass die religionspolitisch aufgeworfenen Fragen wissenschaftlich fundierte Antworten benötigen, die die Parteien sich nicht selbst geben können.

Die Forderung nach einer Entflechtung der Kooperation von Staat und Kirche wird bei den Jusos mit Blick auf die Theologischen Fakultäten und Institute an den Universitäten konkretisiert. Hier fordert man die Abschaffung der – im Einzelnen sehr unterschiedlich geregelten – kirchlichen Mitwirkung an bzw. Zustimmung zu der Besetzung von theologischen Professuren. Die Umsetzung eines solchen Beschlusses hätte die Änderung einer Vielzahl von Staatskirchenverträgen und Konkordaten zur Folge.

Deutlich spricht sich die „Ampel-Jugend“ für die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichtes nach Art 7 Abs. 3 GG aus, der als verengend und doktrinär wahrgenommen wird. So heißt es bei den JuLis:

„Die Vermittlung unterschiedlichster religiöser und weltanschaulicher Konzepte gehört für uns in den Schulunterricht. Religiöse Erziehung in einer bestimmten Konfession ist dagegen Privatsache. Deshalb wollen wir den konfessionellen Unterricht an staatlichen Schulen aufheben und durch einen Ethikunterricht ersetzen.“

Ob dieser Ethikunterricht die von ihm erwartete Funktion für eine individuelle Wertebildung, die zugleich als Grundlage gesellschaftlicher ethischer Diskurse dienen soll, überhaupt erfüllen kann und ob eine standpunktunabhängige Vermittlung von Ethik überhaupt möglich ist, bleibt hier offen.

Insgesamt fordert die „Ampel-Jugend“ die vollständige organisatorische wie finanzielle Trennung von Staat und Kirche: das Ende des Systems der Kirchensteuer und die Ablösung der Staatsleistungen. Das spricht aus allen religionspolitischen Beschlüssen der Jugendorganisationen, so auch aus einem – allerdings nicht beschlossenen – Antrag von den Jusos Baden-Württemberg auf dem Bundeskongress 201915  mit dem programmatischen Titel „Eine Kirche für und mit den Armen – Echte Trennung von Staat und Kirche“. Darin werden die Offenlegung aller kirchlicher Immobilienwerte und die Vorlage von Bilanzen nach dem Vorbild von Wirtschaftsunternehmen gefordert. Die Kirchen werden damit in die Nähe von gewinnerwirtschaftenden Unternehmen gerückt. Dagegen wird in dem Antrag das Bild einer diakonischen Kirche für die Armen gestellt, die sich selbstlos auf die Seite der Armen stellt und deren „caritative und soziale Aufgaben“ ausdrücklich (auch finanziell) unterstützt werden sollen.

Die nunmehr im Koalitionsvertrag verankerte Prüfung des kirchlichen Arbeitsrechts findet sich als klare Forderung bei allen Jugendorganisationen. Sie wird mit unterschiedlichen Argumenten (Gleichstellung, Vermeidung von Diskriminierung, Zeitgemäßheit) begründet und als Teil des Abbaus sämtlicher kirchlicher Sonderstellungen aufgefasst. Zur Forderung nach Abbau der religionsgemeinschaftlichen Privilegien gehört schließlich die Idee der JuLis, die Religionsgemeinschaften privatrechtlich (z. B. als Vereine) zu organisieren. Dahinter steht die Intention, Selbstbestimmung zu ermöglichen („Dein Glaube, deine Entscheidung“) und den Austritt zu vereinfachen, insbesondere durch die Abschaffung der aktuell dabei anfallenden Verwaltungsgebühr. Das ist eine Position, die die Grüne Jugend verschärft mit ihrer Forderung, dass dem Staat keinerlei Auskunft mehr über die Religionszugehörigkeit gegeben werden darf.16

4.2  Inhaltliche Übereinstimmungen und deren Bewertung

Jenseits der Kritik am engen Verhältnis von Staat und Kirche freuen sich die Parteien und ebenso auch ihre Jugendorganisationen, wenn die Kirchen die eigenen Positionen vertreten. Exemplarisch sei dafür das Statement der ehemaligen Vorsitzenden der Grünen Jugend, Ricarda Lang, in einem Interview mit der FAZ zitiert:

„Ich würde tatsächlich sagen, dass die Kirche sich in den letzten Jahren gerade bei der Migrationspolitik und bei der Frage nach sozialer Gerechtigkeit sehr progressiv aufgestellt hat. Wir als Grüne Jugend treten für einen säkularen Staat ein und haben auch immer wieder Kritik an den Kirchen, gerade was gesellschaftspolitische Fragen angeht. Trotzdem freuen wir uns, wenn die Kirchen sich für eine menschenrechtsbasierte Geflüchtetenpolitik oder eine gerechte Sozialpolitik einsetzen.“17

Trotz dieser Zustimmung in einzelnen Politikfeldern werden die Übereinstimmungen von politischer Willensbildung und kirchlichen Anliegen sehr unterschiedlich eingeschätzt. Während auf kirchlicher Seite (und in Teilen der Mutterparteien) solche Übereinstimmungen geschätzt werden und dies sich auch in gemeinsamem zivilgesellschaftlichem Engagement auf lokaler Ebene äußert, überwiegt bei den Jugendorganisationen gegenüber „der Kirche“ bzw. „den Kirchen“ die kritische Sicht auf die religiösen Institutionen. Allerdings kann das Vorliegen von Gemeinsamkeiten ein wichtiger Hebel für die Einsicht werden, dass solche inhaltlichen Übereinstimmungen und zivilgesellschaftlichen Partnerschaften nur auf der Basis institutioneller Strukturen erreichbar sind. Über die Sachthemen und die gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung für Akteure, die sich in diesen Bereichen engagieren, ergibt sich ein Argument für starke intermediäre Institutionen der Zivilgesellschaft, zu denen auch die Religionsgemeinschaften – in ihrer institutionellen Verfasstheit – gehören.

4.3  Fortschritt als individuelle Selbstbestimmung gegenüber Institutionen

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass für die politischen Jugendorganisationen der Regierungsampel religionspolitischer Fortschritt eine starke Veränderung des Status quo bedeutet. Das gegebene Religionsverfassungsrecht ebenso wie die kirchlichen Traditionen und Moralvorstellungen werden als überholt wahrgenommen, sie sind am Maßstab individueller Selbstbestimmung zu überwinden. Im Vergleich zu den Programmen der Parteien und zum Koalitionsvertrag ist die Sprache bei den Jugendorganisationen deutlich kritischer und schärfer, bis hin zu einer kämpferischen Rhetorik. Das darin liegende Fortschrittsdenken, das sich aus einer kritischen Wahrnehmung von Religion und Religionsgemeinschaften speist, sollte von Theologie und Kirchen ihrerseits kritisch diskutiert werden. Dabei wäre nicht nur deutlich zu machen, dass Religion ein hohes Selbstbestimmungspotenzial enthält, sondern dass sie auch eine institutionelle Gestalt annehmen kann, die nicht repressiv ist, sondern die individuelle Religionsfreiheit überhaupt erst substanziell ermöglicht. Dies setzt wiederum ein Selbstverständnis voraus, das die Fähigkeit zur Selbstkritik und zum Dialog einschließt.

5  Gegen eine reduktionistische Wahrnehmung von Kirche und Religion

Die Analyse von Hans Michael Heinig, dass „in den vergangenen Jahrzehnten … die Kirche häufig als eine Art Bundeswerteagentur wahrgenommen“18  worden sei, wird durch Positionierungen der Ampel-Jugendorganisationen bestätigt, sehr kritisch bewertet und mit der Forderung nach Rückbau des öffentlichen Einflusses beantwortet. Diese Kritik ist ernst zu nehmen. Ihr kann man auch mit guten Gründen entgegentreten. Vor allem aber liegt in ihr die Chance, die zugeschriebene „Reduktion der Kirche auf Wertevermittlung“ und die Verbuchung der „Religionsgemeinschaften unter einer gewissen Zweckdienlichkeit“19  zu beenden und das Bild von der Kirche wieder freier, breiter und offener zu gestalten.

Ob und inwiefern die Wahrnehmung der Kirche als Werteagentur Produkt kirchlicher Selbstdarstellung oder politisch-gesellschaftlicher Fremdzuschreibung ist, muss dabei gar nicht Gegenstand der Diskussion sein. Vielmehr dürfte die Aufgabe für die evangelischen Kirchen darin bestehen, die Reduktion ihres Wirkens auf Wertebewahrung und -vermittlung zu überwinden und die geistigen Ressourcen in ihrer Breite und Vielfältigkeit in der Zivilgesellschaft präsent zu machen und zu halten. Dazu gehören nicht nur die ethischen Grundeinsichten, sondern auch die vielfältigen spirituellen Impulse, die im Sinne der Reformatoren dazu dienen, die Freiheit und Individualität der Akteure zu stärken und sie für eine reflektierte Mitgestaltung am Gemeinwesen zu motivieren.

Wenn das gelingt, kann man auch die politischen Kritiker der Kirchen davon überzeugen, dass institutionelle Traditions- und Religionspflege nicht eo ipso konservativ-rückwärtsgewandt ist und in moralischer Besserwisserei endet, sondern die Einzelnen stärkt und zugleich pluralitätstauglich macht. Denn die „Freiheit eines Christenmenschen“ hat eine religiöse und eine ethische Seite, ist nicht hierarchisch, sondern dialogisch orientiert und stellt sich aus freien Stücken in den Dienst des Gemeinwesens. Dieser Gemeinsinn schließt die Anerkennung der innerprotestantischen Vielfalt ein, die wiederum ein wichtiges Fundament für die im politischen Raum zunehmend wichtiger werdende gesellschaftliche Ambiguitätstoleranz sein dürfte.


Arnulf von Scheliha / Catharina Jacob, 01.01.2022

 

Anmerkungen

1  Der Koalitionsvertrag ist bequem auf den Homepages der betreffenden Parteien herunterzuladen. Wörtliche Anführungen aus dem Vertrag werden mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text belegt.

2  Vgl. „Die Kirchen sollten am Ball bleiben“. Gespräch mit Kirchen- und Staatsrechtler Hans Michael Heinig über den Ampel-Koalitionsvertrag und die Religionen, http://zeitzeichen.net/index.php/node/9428 (Abruf der Internetseiten: 22.12.2021).

3  Vgl. Evangelische Kirche offen für Ablösung der Staatsleistungen, www.evangelisch.de/inhalte/193498/26-11-2021/evangelische-kirche-offen-fuer-abloesung-der-staatsleistungen.

4  Vgl. Religion und Außenpolitik. Die Öffnung der deutschen Außenpolitik für mehr Impulse aus der Zivilgesellschaft ergänzt die klassische Außenpolitik zwischen Staaten um eine Außenpolitik der Gesellschaften, www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/kulturdialog/religion-und-aussenpolitik.

5  Vgl. Der interreligiöse Konsultationsprozess „Religionen, Diplomatie und Frieden“. Potenziale für ein Zusammenwirken von Diplomatie und Religionen nutzbar machen,https://religionen-diplomatie-frieden.de.

6  Vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 (2 BvR 2347/15; BVerfGE 153, 182–310).

7  Vgl. Migration menschenwürdig gestalten. Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Hannover 2021 (Gemeinsame Texte 27).

8  Vgl. Religion und Gesellschaft. Die Bedeutung bleibt,https://spd-ub-goettingen.de/meldungen/religion-und-gesellschaft-die-bedeutung-bleibt; „Hat die Kirche zu viel Macht im Staat?“ Jugendkonferenz der Jusos Osnabrück-Land zur Trennung von Staat und Kirche, www.spd-lkos.de/2016/06/28/hat-die-kirche-zu-viel-macht-im-staat-jugendkonferenz-der-jusos-osnabrueck-land-zur-trennung-von-staat-und-kirche

9  Vgl. 10 Gebote für einen weltanschaulich neutralen Staat in einer pluralen Gesellschaft,www.julis.de/beschlusssammlung/10-gebote-fuer-einen-weltanschaulich-neutralen-staat-in-einer-pluralen-gesellschaft. Alle folgenden Zitate von Positionen und religionspolitischen Forderungen der JuLis stammen aus diesem Beschluss.

10  Vgl. den Abschlussbericht der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ von Bündnis 90 / Die Grünen, in dem die Grünen ihre religionspolitischen Positionen bündeln. Dieser Bericht, der als Ergebnis eines innerparteilichen Diskurses und Aushandlungsprozesses die teils divergierenden Einstellungen der Grünen zur Religion zusammenfasst, ist als Folie, vor der die religionspolitischen Aspekte des Koalitionsvertrages der Ampelkoalition zu lesen sind, instruktiv. Der Bericht bildete die Grundlage für einen Beschluss des Bundesparteitages der Grünen (vgl. Beschluss. Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der offenen Gesellschaft,https://cms.gruene.de/uploads/documents/RW-01_Religions-_und_Weltanschauungsfreiheit.pdf).

11  Abschlussbericht (s. Fußnote 10), 17.

12  Christoph Strack: Auf und Ab. Bewegungen im Verhältnis der Grünen zur katholischen Kirche, in: Herder Korrespondenz 65/3 (2011), 120–125.

13  Vgl. Grüne Jugend stellt christliche Feiertage in Frage,www.katholisch.de/artikel/10614-gruene-jugend-stellt-christliche-feiertage-in-frage.

14  Vgl. Lutherjahr 2017, https://gj-nrw.de/blog/2016/03/13/lutherjahr-2017.

15  Vgl. Eine Kirche für und mit den Armen. Echte Trennung von Staat und Kirche, https://juso-buko.de/cvtx_antrag/eine-kirche-fuer-und-mit-den-armen-echte-trennung-von-staat-und-kirche.

16  Vgl. Beschluss des Landesvorstands der Grünen Jugend NRW. Religion ist Privatsache, https://gj-nrw.de/blog/2014/06/30/religion-ist-privatsache; auch: Die GJK unterstützt offenen Brief an die Landesregierung in NRW, www.gruene-jugend-koeln.de/hp/?p=190.

17  Wie „links-grün-versifft“ sind Weihnachtspredigten?, www.faz.net/aktuell/politik/inland/poschardt-tweet-christmetten-wie-bei-gruener-jugend-15358228.html.

18  „Die Kirchen sollten am Ball bleiben“ (s. Fußnote 2).

19  Ebd.