Steffen Liebendörfer

Fortschritt oder „Moonwalk“?

Erste Eindrücke vom Katechismus der Neuapostolischen Kirche

Der im Dezember 2012 veröffentlichte neue Katechismus der Neuapostolischen Kirche (vgl. MD 1/2013, 26ff), der unter anderem zwischen verschiedenen Fraktionen in der Kirche vermitteln will, löst innerkirchlich Diskussionen aus. Wir dokumentieren hier eine Reaktion auf den Katechismus, die am 6.12.2012 auf www.religionsreport.de  erschienen ist, einer 2011 gegründeten Internetseite mit Nachrichten, Kommentaren und Diskussionsforen für die „progressiven“ (anti-exklusivistischen) NAK-Mitglieder. Der Redakteur Steffen Liebendörfer, der diesen Beitrag verfasst hat, ist seit seiner Kindheit NAK-Mitglied und diente der Kirche von 2006 bis zu seiner Amtsniederlegung im Mai 2012 als Diakon.

 

Die Neuapostolische Kirche (NAK) hat Ihren Katechismus veröffentlicht. Der erste Eindruck ist vielschichtig. Positiv fällt auf, dass auf der sprachlichen Ebene nun praktisch vollständig auf Polemik gegen andere christliche Konfessionen verzichtet wurde. Man nimmt zur Kenntnis, dass inhaltlich unverändert Exklusivität zentrales Programm ist. Und negativ fällt schließlich auf, dass mit dem langen Entstehungsprozess des Katechismus keine theologische Reflexion aus dem christlichen Rahmen fallender Sonderlehren einhergegangen ist bzw. sich eine solche nicht im Ergebnis niedergeschlagen hat.

Dem eigentlichen Inhalt ist ein Geleit-Artikel des Stammapostels Dr. Wilhelm Leber sowie ein Vorwort vorangestellt. Die beiden sehr kurzen Texte beinhalten zwei wesentliche Botschaften: Erstens den ausdrücklichen Wunsch nach der Auseinandersetzung mit dem neuapostolischen Glauben – sowohl individuell, als auch im Dialog. Der Katechismus soll kein Werk für das Bücherregal oder Ämterstunden sein, sondern die Masse der Kirchenmitglieder fortwährend zur Beschäftigung mit den Inhalten des Glaubens anregen. Unausgesprochen wird dem einzelnen Kirchenmitglied die Möglichkeit zu einer abweichenden Positionierung eingeräumt, denn verbindlich ist das Lehrwerk nur für Unterrichte und als Grundlage der Verkündigung in der Predigt. Sollte sich dieser – prinzipiell begrüßenswerte – Wunsch nach Beschäftigung erfüllen, dann kann mit dem Katechismus vorausgesetzt werden, dass auch Äußerer anderer Positionen etwa in gemeindlichen Gesprächskreisen oder Diskussionsrunden, als zur Neuapostolischen Kirche umfänglich zugehörig angesehen werden. Zudem, sollte der Wunsch uneingeschränkt aufrichtig sein, muss die Kirchenleitung die Fähigkeit zur selbstkritischen Reflexion auch lieb gewonnener Lehrmeinungen entwickeln. Darin liegt freilich eine große Herausforderung. In Geleit- und Vorwort wird zudem betont, dass man anderen Christen und Konfessionen sowie den dortigen Lehrauffassungen in großer Wertschätzung begegne; man wolle nicht ausgrenzen, sondern wünsche sich den fruchtbaren Dialog, heißt es.

Man sollte sich bewusst sein, dass diese beiden Punkte nicht zum eigentlichen Inhalt des Katechismus zählen. Sie geben einen kirchenpolitischen Rahmen vor. Zugleich haben sie als Programmsätze Einfluss auf die Interpretation des Katechismus. Wie weit dieser Einfluss reicht, das werden Verhalten und Äußerungen der Angehörigen der Kirchenleitung in den nächsten Monaten zeigen. Zu erwarten wären etwa Hinweise zur Binnenhierarchie der Lehraussagen (naheliegend wäre etwa die Rangfolge „Apostolikum“, „Weitere Glaubensartikel“, „Erläuterungen im Katechismus und künftige lehramtliche Aussagen“, wobei auf der dritten Ebene eine Anwendung der Posterior-Regel sinnvoll wäre). Da die Mehrzahl der potenziell streitbaren Inhalte auf der dritten und mithin untersten Hierarchieebene steht, wäre prinzipiell die Möglichkeit zu einer kontinuierlichen (und falls gewünscht: ökumenefreundlichen) Fortentwicklung gegeben, ohne dass sofort das Bedürfnis nach einer komplett neuen Systematisierung ausgelöst würde. Die im Katechismus entfaltete besondere Stellung des Apostelamtes sowie die herausgehobene Rolle des Stammapostels würden eine verbindliche Grundsatzäußerung dazu zulassen. Denn die Weichenstellung für „entwicklungsresistent“ oder „entwicklungsoffen“ sollte frühzeitig und vor allem bewusst erfolgen. Ganz nebenbei könnte Wilhelm Leber etwa mit einem lehramtlichen Schreiben oder auch einer Grundsatzrede dazu seine Rolle in der Kirchengeschichte definieren.

Erst in Zukunft lässt sich die Intention hinter dem Verzicht auf Polemik gegenüber anderen Konfessionen erschließen. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass hierin in der Tat ein substanzieller Fortschritt gegenüber vergangenen Lehrdokumenten liegt. Dass eine entsprechende Revision erfolgt ist, weist auf eine Fortentwicklung von Sensibilität in diesem Bereich hin. Doch: War der Gedanke dahinter nun „wir haben da wirklich etwas falsch gemacht“ oder aber „da haben wir uns eben ungeschickt angestellt“? Das ist ein durchaus bedeutungsvoller Unterschied! Beantworten kann das nur die Kirchenleitung.

Die Entschärfung von Formulierungen und eine in diesem Punkt bisweilen nicht ganz transparente Darstellung können nicht den Befund kaschieren, dass die NAK sich weiter als eine exklusive Endzeitkirche betrachtet. Der beliebte Verweis auf ein souveränes Gnadenhandeln Gottes ist und bleibt eine Leerformel. Denn der Katechismus sagt: Wir glauben, dass wirksame Sündenvergebung, Konstituierung der Gotteskindschaft, Gabe Heiligen Geistes, Zugehörigkeit zur Erstlingschaft, Zubereitung der Brautgemeinde nur dort erfolgen, wo neuapostolische Apostel tätig sind. Ein souveränes Gnadenhandeln Gottes wird ohne Abstriche als Ausnahme von der Regel gesehen. Wer sich, wie 199 von 200 Christen auf der Welt, auf einen anderen Weg einlässt, der spielt gewissermaßen russisches Roulette mit seinem Seelenheil. Und mal Hand aufs Herz: Das glauben – jedenfalls mehrheitlich – die Angehörigen der Kirchenleitung doch selbst nicht.

Das exklusive und sehr auf das neuzeitliche Apostelamt fixierte Denken lässt sich freilich nicht ganz einfach entschlüsseln. Für den Katechismus gibt es ohnehin keine einfache Lesetechnik. Für einen ersten Überblick empfiehlt sich die konventionelle Variante, also von vorne nach hinten. Bei den Einzelthemen reicht es nicht aus, nur ein einzelnes Kapitel dazu zu lesen, sondern man muss Querverweisen folgen, Begriffe zusätzlich im Stichwortverzeichnis nachschlagen. Zweifellos ist der Katechismus in dieser Hinsicht ein anspruchsvolles Arbeitsbuch. Nicht so anspruchsvoll wie im Rahmen des Infoabends angedeutet ist allerdings die theologische Sprache des Werkes. Theologische Sprache ja, aber auf einem allgemein gut verständlichen Level, sodass der Katechismus durchaus ein Buch für den Hausgebrauch ist. Unschön ist die dezimale Gliederung.

Neben der in der Sache unverändert aufrechterhaltenen Exklusivität fällt auf, dass die NAK mit dem Katechismus einen Entwurf für ein eher weltentrücktes Christentum vorlegt (was ja keine Neuerung ist). Zubereitung der Brautgemeinde und die Naherwartung des Wiederkommens Jesu spielen eine äußert dominante Rolle, und zwar so sehr, dass man den Autoren eine offenkundige Wirklichkeitsfremdheit attestieren muss. Die gestaltende Kraft des christlichen Glaubens für die Gegenwart wird durch eine erschreckende Diesseitsblindheit überwiegend ausgeblendet. Die Aufgabe der Kirche stellt sich aber im Diesseits, sie soll die Menschen dabei unterstützen, die Welt (wenigstens ihr eigenes Umfeld) zu einem Ort angefüllt mit Freude zu machen. Was danach, darüber, dahinter – im Jenseits eben – kommt, das weiß der gläubige Christ getrost und voller Zuversicht in der Hand Gottes bestens aufgehoben.


Steffen Liebendörfer, Halle/Saale