Freidenkerische Lebenskunde
Konkurrenz für den Religionsunterricht?
Auf Beschluss des Abgeordnetenhauses hat Berlin im Schuljahr 2006/2007 für alle Klassen von 7 bis 10 einen zweistündigen Ethik-Unterricht als Pflichtfach eingeführt. Daneben bleibt der freiwillige Besuch des Religions- oder Weltanschauungsunterrichts zwar möglich, er verliert jedoch aufgrund der zusätzlichen Belastung für die Schülerinnen und Schüler weiter an Attraktivität. Ab September 2008 will nun die Initiative „ProReli“ Unterschriften sammeln, um per Volksentscheid die Gleichstellung des Religionsunterrichts mit dem Fach Ethik zu erreichen. Der Volksentscheid wird erstmals bindend sein. Sollte die Initiative also das notwendige Quorum von 610000 Ja-Stimmen erreichen, wird der Religionsunterricht in Berlin ein ordentliches Lehrfach.
Zu den Kritikern der von den Kirchen unterstützten Initiative „ProReli“ gehört auch der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), der aufgrund seiner atheistisch / freidenkerischen Haltung Religion als ordentliches Schulfach verhindern möchte. Der HVD hat aber auch noch ein höchst eigenes Interesse: Sollten die Schülerinnen und Schüler sich in Berlin zwischen Religion und Ethik entscheiden müssen, dürfte das vom HVD verantwortete Fach „Humanistische Lebenskunde“ marginalisiert werden. Im Folgenden erläutert Andreas Fincke, Referent für Grundsatzfragen im Evangelischen Konsistorium zu Berlin, die Hintergründe dieses Unterrichtsfachs.
In Berlin bietet der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) seit vielen Jahren das freidenkerisch geprägte Unterrichtsfach Humanistische Lebenskunde an. Derzeit erreicht er knapp 45000 Schüler und hat damit das Fach fest etabliert. Es lohnt ein Vergleich: Den evangelischen Religionsunterricht besuchen in Berlin gegenwärtig knapp 85000 Kinder, rund 25000 besuchen den katholischen und lediglich 4500 den islamischen Religionsunterricht. Das Unterrichtsfach Humanistische Lebenskunde spiegelt die Entwicklung der Bundeshauptstadt in den letzten Jahrzehnten wider und zeigt, wie sehr Migration und Mauerfall das religiöse Klima zu Ungunsten der großen Kirchen verändert haben. Vor 1989 führte das Fach mit weniger als 1000 teilnehmenden Schülern im damaligen Westteil der Stadt ein Schattendasein. Inzwischen profitiert man vom entkirchlichten Osten und von Kindern nichtdeutscher Herkunft.
Lebenskunde ist ein schillernder Begriff.1 Er hat in diesem Zusammenhang nichts mit dem „Lebenskundlichen Unterricht“ in der Bundeswehr zu tun und auch nichts mit einer rassistisch begründeten „Lebenskunde“, die ab 1933 Teil des Biologieunterrichts in der Mittelstufe wurde. Verwechselt wird das Fach heute immer wieder mit LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde), einem Unterrichtsfach, das seit 1996 an den brandenburgischen Schulen der Sekundarstufe I eingeführt wurde. Als Teil des offiziellen Schulcurriculums ist LER ein ordentliches Lehrfach und versteht sich, im Gegensatz zum kirchlichen Religionsunterricht, als bekenntnisfreier Unterricht. Damit ist LER, wie Kritiker vortragen, ein staatlicher Pflichtunterricht in weltanschaulich-religiösen Fragen. Humanistische Lebenskunde ist dagegen kein „neutraler“ schulischer Ethik-Unterricht, sondern die Alternative zum Religionsunterricht, oder – paradox formuliert – freidenkerischer Religionsunterricht.
Zum historischen Hintergrund des Lebenskundeunterrichts
Die Anfänge des Lebenskundeunterrichts liegen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, als im Kontext beginnender Entkirchlichung nach Alternativen zum Religionsunterricht gesucht wurde. In der Diskussion war ein sittlicher Unterricht, der pädagogische Gesundheitslehren mit philosophischer Volkskunde verbinden könnte und zugleich als Vorbereitung für die damals aufkommende Jugendweihe hätte dienen können.2 Seinerzeit wurde der Unterricht eher als Religionskunde gedacht – in gewisser Weise vergleichbar dem heutigen LER. 1924 wurde Lebenskunde in Berlin eigenständiges Lehrfach an einigen bekenntnisfreien bzw. weltlichen Schulen. Schon damals kam Berlin also eine Schlüsselrolle bei der Einführung dieses Faches zu.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde das Fach verboten. In Berlin (West) wurde Ende der 1950er Jahre ein erster Versuch zur (Wieder-)Einführung eines vom Freidenkerverband verantworteten Lebenskundeunterrichts unternommen. Neben anderen hatte sich Willy Brandt wiederholt im Berliner Abgeordnetenhaus für die Gleichbehandlung von kirchlichem Unterricht und Lebenskundeunterricht eingesetzt. Das Experiment wurde 1963 jedoch angesichts geringer Teilnehmerzahlen eingestellt. Anfang der 1980er Jahre versuchte man es erneut. Ab 1984 konnte Lebenskunde als freiwilliges, nicht-religiöses Unterrichtsfach der Freidenker in allen Schulstufen angeboten werden. Damit war Lebenskunde dem Religionsunterricht gleichgestellt, der in Berlin ebenfalls nur ein freiwilliges Unterrichtsfach ist. Damals legten die Behörden Wert auf die Feststellung, dass Lebenskunde nicht Religionskunde impliziert. Nicht ohne Ironie war, dass Lebenskunde bis 2001 in der Berliner Senatsverwaltung unter der Rubrik Religionsunterricht geführt wurde.
Mit der Wiedereinführung der Lebenskunde 1984 wurde auch eine inhaltliche Kurskorrektur vorbereitet. Peu à peu verabschiedeten sich die Freidenker von ihrer klassischen Forderung nach einer strikten Trennung von Staat und Religion, d. h. von Schule und Religionsunterricht. Ab Mitte der 1990er Jahre vollziehen auch die programmatischen Texte den Kurswechsel nach. Hatte man zuvor Lebenskundeunterricht gefordert, solange es Religionsunterricht gibt, wünscht man jetzt Lebenskunde unabhängig vom Religionsunterricht. Die Situation war paradox: In gewisser Weise führten die Westberliner Freidenker in den 1980er Jahren etwas ein, das sie eigentlich ablehnten – nämlich einen bekenntnisgebundenen Weltanschauungsunterricht an der Schule. Dass sie diesen Weg dennoch gingen, geschah wohl aufgrund der realen politischen Verhältnisse und der besonderen Lage im Westteil Berlins, in der die klassischen, sozialistischen Freidenkerideen nur schwer aufrechterhalten werden konnten. Ohnehin kann man feststellen, dass die Westberliner Freidenker in Distanz zu den westdeutschen Freidenkern standen. Sie fühlten sich eher der Sozialdemokratie verbunden, während die westdeutschen Freidenker zur DKP und zu kommunistischen Vorstellungen tendierten. Offensichtlich entzauberte die Nähe zur DDR sozialistische Ideen.
Der HVD als Initiator des „humanistischen“ Unterrichts
Nach der Wiedervereinigung hat der HVD das Erbe der Westberliner Freidenker übernommen. Er organisiert und verantwortet heute den Unterricht. Der HVD war Anfang 1993 aus den (West-)Berliner Freidenkern und anderen atheistischen Organisationen bzw. Verbänden der Konfessionslosen hervorgegangen. In den 15 Jahren seines Bestehens ist es ihm gelungen, eine beachtliche Ausstrahlung zu entwickeln. Zwar ist die Mitgliederbasis mit bundesweit etwa 15 000 Mitgliedern relativ klein, man setzt jedoch geschickt politische Akzente. So ist der Verband in der Diskussion um Patientenverfügungen äußerst rege, er organisiert Lebenshilfe („Humanistische Beratung“), veranstaltet Jugendweihen (hier: Jugendfeiern), betreibt in Berlin zahlreiche Kindertagesstätten und soziale Einrichtungen usw. Darüber hinaus bietet der HVD sog. „weltliche Bestattungen“ an und organisiert alternative Rituale wie Namensweihen und Hochzeiten. In jüngster Zeit hat der HVD in Berlin eine „Humanistische Stiftung“ gegründet, außerdem die erste freidenkerische Schule seit 19333 und ein eigenes Ausbildungsinstitut für Lebenskundelehrer. Demnächst wird er erneut im Bundesland Berlin einen Antrag auf Anerkennung als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ stellen.
Eine breite Wirkung erzielt der HVD jedoch durch seinen Lebenskundeunterricht. Die Stärke dieses Unterrichts erklärt sich auch daraus, dass der Religionsunterricht in Berlin derzeit kein ordentliches Schulfach ist. Zwar unterstützen die beiden großen Kirchen die Initiative „ProReli“, deren Ausgang ist jedoch ungewiss. Selbst kirchenfreundliche Beobachter haben Zweifel, ob sich im kirchenfernen Berlin die notwendigen 610000 Ja-Stimmen erreichen lassen.
Humanistische Lebenskunde versteht sich heute als humanistischer Weltanschauungsunterricht, wobei der Begriff „humanistisch“ in diesem Zusammenhang nicht synonym mit klassischer Bildung gemeint ist, sondern im Sinne von „freidenkerisch / atheistisch“ genutzt wird. Dieser Sprachgebrauch ist zwar verwirrend, wird aber in der „Szene“ immer beliebter. Man möchte sich damit einerseits von extrem kirchenkritischen Positionen abgrenzen, auch weil das politisch opportun scheint, andererseits möchte man sich aber von einer negativen Definition entfernen: Man sei eben kein A-theist im Sinne von gottlos, sondern eine Gemeinschaft mit Wertvorstellungen und Sinnerwartungen, die ohne Gott oder Religion auskommen. Im Lebenskundeunterricht geht man davon aus, dass „es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt, aber Menschen ihrem Leben einen Sinn geben können“.4 Dabei sind die Wissenschaften Hilfsmittel, moralisches Handeln zu verstehen und zu entwickeln. Der Unterricht möchte folglich „die Grundsätze einer humanistischen Lebensauffassung“ vermitteln. Im Mittelpunkt sollen Verantwortung, Toleranz und Selbstbestimmung stehen.5 Die Schülerinnen und Schüler werden ermuntert, über sich und die Welt nachzudenken, sich ihrer Verantwortung für ihr Leben bewusst zu werden und Standpunkte aus nichtreligiöser, humanistischer Sicht zu entwickeln. Dabei sollen sie auch andere Religionen und Weltanschauungen kennen lernen – jedoch aus einer freidenkerisch- religionskritischen Perspektive.
In Berlin erteilen etwa 400 Lehrerinnen und Lehrer diesen Unterricht. Sie sind teilweise im staatlichen Schuldienst tätig, teilweise sind sie beim HVD angestellt. Die Befähigung zur Erteilung des Unterrichts kann auf zwei Wegen erreicht werden: im Rahmen eines zweijährigen berufsbegleitenden Ergänzungsstudiums oder in der Form einer längeren berufsbegleitenden Weiterbildung. Der HVD unterhält selbst ein Ausbildungsinstitut, das mit dem Institut für Gesellschaftswissenschaften der Technischen Universität Berlin kooperiert. Schon länger verfolgt der HVD in Berlin das Ziel, seine säkular-humanistische Weltanschauung auch akademisch zu verankern. Gern weist man auf die Vielzahl theologischer Lehrstühle hin und folgert, dass es für die humanistische (d. h. konfessionslose) Weltanschauung Vergleichbares geben müsste. In diesem Zusammenhang orientiert sich der HVD gern an der Humanistischen Universität Utrecht, an der auf den Fachgebieten humanistischer Unterricht bzw. humanistische Beratung geforscht und gelehrt wird. Ein entsprechender Studienzweig könnte „Humanistik“ heißen – nach dem Motto: was den Gläubigen die Theologie ist, sollte den Konfessionslosen die Humanistik sein.6
Wer kann Gleichbehandlung mit den Kirchen beanspruchen?
Mit Beginn des Schuljahres 2007/08 wurde das Fach Lebenskunde auch im Bundesland Brandenburg in den Klassenstufen eins bis vier schrittweise eingeführt. Der HVD hatte dazu das Brandenburger Verfassungsgericht angerufen und vorgetragen, dass die einseitige Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Schulgesetz nicht mit der Landesverfassung vereinbar sei. Die Richter schlossen sich im Dezember 2005 dieser Auffassung an. Die Kammer stellte damals fest, dass die einseitige Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Brandenburger Schulgesetz gegen den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates verstößt. Sie sprachen damit dem HVD (und faktisch allen Weltanschauungsgemeinschaften) das Recht zu, im Bundesland Brandenburg Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Somit war der Weg für einen freidenkerischen Werteunterricht – für Lebenskunde – frei.
Es war damit zu rechnen, dass der HVD auch in anderen Bundesländern auf die Einführung von Humanistischer Lebenskunde drängen würde. Erste Schritte in dieser Richtung erfolgten in Nordrhein-Westfalen, wo aber das zuständige Ministerium Mitte 2007 einen entsprechenden Antrag des HVD ablehnte. Zur Begründung hieß es, dass das nordrhein-westfälische Schulgesetz und die Landesverfassung zwar Religionsunterricht, aber keinen Weltanschauungsunterricht vorsehen. In der Tat ist die Rechtslage in NRW anders als in Brandenburg. Denn in NRW und in fast allen westlichen Bundesländern ist der Religionsunterricht ordentliches Schulfach unter staatlicher Aufsicht. In Berlin und Brandenburg dagegen ist er lediglich ein freiwilliges Angebot. Dennoch dürfte der HVD auf seine Potsdamer Argumente zurückgreifen. Sein stärkstes Argument ist die im Grundgesetz verbriefte Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.
Wie zu erwarten war, hat der HVD im November 2007 Klage beim Verwaltungsgericht Düsseldorf eingereicht. Man verweist auf das Grundgesetz, wonach niemand wegen seiner Religion oder Weltanschauung bevorzugt oder benachteiligt werden darf. Schließlich untersage Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention jegliche Diskriminierung wegen Weltanschauung oder Religion bzw. wegen der Abwesenheit derselben. Der HVD ist zuversichtlich, dass das Land NRW diese „grundgesetzwidrige Diskriminierung“ beenden muss und verpflichtet wird, das Unterrichtsfach Lebenskunde an den öffentlichen Schulen als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht einzurichten. Das Ergebnis dieser juristischen Auseinandersetzung bleibt abzuwarten.
Hinter diesem verfassungsrechtlichen Problem steht jedoch auch eine ganz praktische Frage: Wie groß muss eine Weltanschauungsgemeinschaft sein, damit man sinnvollerweise Gleichbehandlung reklamieren kann? Ist es realitätsnah, wenn jeder Kleinstverein, der eine Weltanschauung vertritt, seinen eigenen Weltanschauungsunterricht anbieten könnte? Diese Frage ist nicht geklärt. Der HVD, der in NRW allenfalls einige tausend Mitglieder haben dürfte, kennt das Problem. Um es aufzuweichen, spricht man weniger von Mitgliedern als vielmehr von Sympathisanten. So verweist der HVD gern darauf, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung konfessionslos ist. Viele dieser Menschen würden humanistische Lebensauffassungen vertreten und somit, so wird suggeriert, dem HVD nahe stehen. Um diesen fragwürdigen Befund zu untermauern, gibt der HVD immer wieder Umfragen bei Meinungsforschungsinstituten wie Forsa oder Allensbach in Auftrag, die die Sympathie vieler Menschen zu humanistischen Lebensauffassungen erfragen sollen. Dass die so erzielten Zustimmungswerte mitunter hoch sind, verwundert nicht: Auch viele Christen fühlen sich humanistischen Werten verbunden. Zuletzt sorgte der HVD Ende Mai 2008 mit einer solchen Umfrage für Aufregung. Erst war die Rede davon, dass 84 Prozent der Berliner einen gemeinsamen Ethik-Unterricht (d. h. den status quo) befürworten würden7 – doch wenige Tage später distanzierte sich Forsa von der eigenen Umfrage. Das Ergebnis sei „verzerrt und nicht brauchbar“.8 Zum wiederholten Male hatte man Fragen gestellt, auf die viele Menschen guten Gewissens mit „ja“ antworten, das Ergebnis wurde jedoch politisch instrumentalisiert.
Die Frage nach den Mitgliederzahlen einer Weltanschauungsgemeinschaft ist in der Diskussion um Religionsunterricht und Lebenskunde abgründig. In NRW könnten die Kirchen geneigt sein, auf ihre beachtlichen Mitgliederzahlen zu verweisen. Diese Zahl, so wird schnell gesagt, legitimiere den Religionsunterricht. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass die Argumente scheinbar ortsabhängig sind. Denn in Brandenburg wurde die Frage nach den Mitgliedern schnell abgewiesen. Hier war die Logik: Nicht die Mitglieder zählen, sondern das weltanschauliche Gewicht. Genauso argumentiert nun der HVD. Übrigens unterliegt auch die Position des HVD erstaunlichen Veränderungen: Noch vor einigen Jahren hatte man der Einführung des Religionsunterrichts in Brandenburg mit dem Argument widersprochen, die beiden Kirchen hätten dort ja nur wenige Mitglieder – ein Argument, an das man derzeit in NRW und andernorts nicht mehr so gern erinnert wird.
Herausforderung für den Religionsunterricht
Der HVD hat Großes vor. Er möchte für „Atheisten, Agnostiker und Humanisten an den öffentlichen Schulen grundsätzlich den gleichen Stellenwert (erlangen), wie ihn das Christentum oder andere Religionen bereits haben“. Bundesweit soll das Fach Humanistische Lebenskunde in der Form eines freiwilligen Unterrichtsfachs als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht aufgebaut werden. In einem aktuellen Papier des HVD heißt es unmissverständlich: „Das Monopol der christlichen Kirchen auf einen bekenntnisgebundenen Unterricht an öffentlichen Schulen ist nicht mehr zeitgemäß.“9 Daher setzt sich der HVD auch für einen islamischen Religionsunterricht ein – ein erstaunlicher Kurswechsel, wenn man sich der freidenkerischen Wurzeln dieses Verbandes erinnert!
Bei so viel Konkurrenz verwundert es fast, dass viele Religionslehrer mit den Kollegen von der Lebenskunde oft gute Erfahrungen machen. Der ideologische Graben ist im Schulalltag offensichtlich weniger tief. Mitunter hört man jedoch auch Klagen: Die Lebenskundelehrer würden Kinder mit attraktiven Themen locken. Verärgerung ruft auch immer wieder hervor, dass im Unterricht für die Jugendweihe geworben wird. An die Kinder wird regelmäßig ein „Elternbrief“ verteilt, in dem sich der HVD mit seiner politischen und sozialen Arbeit vorstellt, also mit Aktionen, die nichts mit Schule und Unterricht zu tun haben. Zu Unmut führt auch, dass der Lebenskundeunterricht gern als undogmatisch, offen und tolerant präsentiert wird, während, so wird suggeriert, der Religionsunterricht ja irgendwie dogmatisch verkrustet und altmodisch sei. Schließlich empfinden es Religionslehrer als unfair, dass der Lebenskundeunterricht häufig als (heimliche) Vorbereitung auf LER bzw. Ethik gedeutet wird. Wer sparsam mit seiner Zeit umgeht, könnte daher statt Religion Lebenskunde wählen ...
Es ist zu erwarten, dass der HVD sich an das nordrhein-westfälische Verfassungsgericht wenden wird, wenn er vor dem Verwaltungsgericht unterliegt. Die Dinge könnten hier ähnlich entschieden werden wie in Potsdam, was über kurz oder lang die Einführung der Humanistischen Lebenskunde im bevölkerungsreichsten Bundesland bedeuten würde. In Bayern und Niedersachsen sind entsprechende Anträge ebenfalls gestellt. Der Ausgang der letzten Landtagswahlen in Niedersachsen und der Einzug der Partei „Die Linke“ in den Hannoveraner Landtag dürften den HVD beflügeln. Zwar ist man geschickt genug, sich nicht auf eine politische Präferenz festlegen zu lassen, aber eine gewisse Nähe zu linken Parteien lässt sich nicht übersehen.
In Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Sachsen-Anhalt bereitet man die Einführung von Lebenskunde bzw. entsprechende Anträge an die Kultusbehörden vor. Denn das politische Fernziel des HVD ist klar: Überall dort, wo für religiös gebundene oder interessierte Schüler konfessioneller Religionsunterricht stattfindet, soll in Zukunft auch der freidenkerische Unterricht Humanistische Lebenskunde angeboten werden.
Damit zeichnet sich eine grundlegende Veränderung der religiösen Kultur an den Schulen ab. Denn die Einführung eines religionskritischen Unterrichtsfachs dürfte den Schulalltag, die Gestaltung von Gottesdiensten im Schuljahr, die Art der Gedenk- und Erinnerungskultur bei Unglücken und Jahrestagen usw. grundlegend verändern. Bei Katastrophen wie dem Massaker an einer Schule in Erfurt wird man die schulische Gedenkveranstaltung kaum noch in der Form einer christlichen Andacht organisieren können.
Dass eine freidenkerische Anti-Kirche derart erfolgreich auf dem Ticket der Kirche segelt und von Einflussmöglichkeiten profitiert, die sie den von ihr gescholtenen Kirchen verdankt, ist dabei das eigentlich Erstaunliche. Den Kirchen bleibt über kurz oder lang nur, was wie eine Binsenweisheit klingt: den Religionsunterricht so gut und attraktiv zu gestalten, dass keiner abwandern möchte.
Andreas Fincke, Berlin
Anmerkungen
1 So Horst Groschopp, Art. Lebenskunde, in: Norbert Mette / Folkert Rickers (Hg.), Lexikon der Religionspädagogik, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 2001, 1164ff.
2 Vgl. Humanistische Lebenskunde bundesweit? Meldung des hpd v. 15.12.2006, www.hpd-online.de.
3 Vgl. MD 4/2007, 152f.
4 Vgl. Humanistische Lebenskunde bundesweit? Meldung des hpd v. 15. 12. 2007.
5 Vgl. Werte erfahren – Leben gestalten. Humanistische Lebenskunde (Faltblatt), Berlin 2007.
6 Vgl. Petra Caysa, Studium der Humanistischen Lebenskunde und die Frage nach der Humanistik, S. 9, unter www.humanistische-akademie-deutschland.de/Texte/Texte/HUMANISTIK/Theorieforum/PDF/CaysaHumanistik.pdf.
7 Berliner Zeitung v. 28.5.2008.
8 Berliner Zeitung v. 30.5.2008.
9 Erklärung des HVD: Ethikunterricht für alle und Humanistische Lebenskunde als Alternative zum Religionsunterricht. Bundesdelegiertenversammlung v. 11.1.2008.