Freidenkerischer „Religions“- Unterricht bald auch in Brandenburg
(Letzter Bericht: 11/2005, 424) Am 15. Dezember 2005 hat der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), eine freidenkerische Weltanschauungsgemeinschaft, vor dem Verfassungsgericht des Landes Brandenburg einen wichtigen Etappensieg errungen. Formal ging es um die Frage, ob das Brandenburgische Schulgesetz mit der Verfassung des Landes Brandenburg vereinbar ist. Der Streitpunkt betraf eine Textstelle, in der den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht eingeräumt wird, Schülerinnen und Schüler „in allen Schulformen und Schulstufen in den Räumen der Schule in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen zu unterrichten“, also kirchlich verantworteten Religionsunterricht zu erteilen. Nicht aufgeführt sind an dieser Stelle im Brandenburger Schulgesetz Weltanschauungsgemeinschaften. Dem HVD als freidenkerischer Weltanschauungsgemeinschaft ist demzufolge die Erteilung von Werteunterricht an den Schulen dieses Bundeslandes nicht gestattet.
Das Brandenburger Verfassungsgericht hat nunmehr festgestellt, dass diese Regelung im Schulgesetz mit der Landesverfassung unvereinbar ist, da die einseitige Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften gegen den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates verstößt. Damit wird, nach einer Übergangsfrist von einem Jahr, auch Weltanschauungsgemeinschaften das Recht zugesprochen, im Bundesland Brandenburg Schülerinnen und Schüler aller Schulformen und Schulstufen in der Schule zu unterrichten. Auf diese Weise ist der Weg für einen freidenkerischen Werteunterricht – üblicherweise „Lebenskunde“ genannt – frei.
Das Urteil hat weitreichende Bedeutung und sollte auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden. Zuerst einmal ist damit die Privilegierung des kirchlichen Religionsunterrichts in Frage gestellt. Das mag man begrüßen oder bedauern, die Entscheidung der Verfassungsrichter trägt hierin der Pflicht des Staates zu weltanschaulicher Neutralität Rechnung und ist damit sachgemäß. Die besondere Stellung des Religionsunterrichtes stand nicht zur Disposition, solange die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung diesen Kirchen angehörte. Aus kirchlicher Sicht war und ist der Religionsunterricht ein gewünschter und notwendiger Bildungsbestandteil, der das kulturelle Selbstverständnis mit konstituiert. Inzwischen aber gehören im Land Brandenburg ca. 70 Prozent der Einwohner keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft mehr an. Dennoch sind all diese Menschen weltanschaulich nicht so leicht zu verorten, wie der HVD glauben machen will. Selbst wenn die meisten als irgendwie „unkirchlich“ eingestuft werden müssen, sind sie deshalb noch nicht zwingend atheistisch. Und genau hier liegt die eigentliche Untiefe des Potsdamer Urteils: Während sich die Plausibilität des kirchlichen Religionsunterrichts u.a. aus der Zugehörigkeit der meisten Religionsschüler zu einer der beiden großen Volkskirchen und aus deren historischer Bedeutsamkeit für unser Gemeinwesen ableiten ließ, kann in Bezug auf den HVD nichts Vergleichbares in Geltung gebracht werden. Die Frage ist also, mit welcher Legitimation ein Verein wie der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg e.V. mit wenigen hundert Mitgliedern zum Anwalt der diffus Konfessionslosen avancieren kann. Wie viele Mitglieder muss eine Weltanschauungsgemeinschaft haben, um Religionsunterricht anbieten zu können? Vierhundert? Zweihundert? Reichen einige Dutzend? Werden in absehbarer Zukunft auch neuheidnische Zirkel, Hexen und Satanisten sich als Weltanschauungsgemeinschaft organisieren und ihren speziellen „Werteunterricht“ anbieten? Hat alles weltanschaulichen Rang, was sich weltanschaulich festlegt? Gilt das Privileg des Werteunterrichts auch bald für rechte Weltanschauungsgemeinschaften?
Für den HVD ist das Brandenburger Urteil ein weiterer Etappensieg. Als nächstes wird man versuchen, freidenkerischen Weltanschauungsunterricht auch in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern einzuführen. Und natürlich in anderen ostdeutschen Bundesländern. Die in dem Potsdamer Urteil erfolgte Gleichsetzung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft dürfte noch weiteren Vorhaben neuen Auftrieb geben: Schon länger wünscht der HVD analog zur kirchlichen Seelsorge ein weltliches Beratungsangebot in der Bundeswehr. Bisher hat das zuständige Bundesministerium ein solches Ansinnen zurückgewiesen. Jetzt aber wird sich der HVD ermutigt fühlen, seinen Anspruch bis vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen. Das könnte dauern. Aber das tut nichts zur Sache. Man war schließlich angetreten, den Kirchen Konkurrenz zu machen – und ist erneut einen Schritt weiter.
Die Anhänger des kirchlichen Religionsunterrichts tun gut daran, dem Potsdamer Urteil auch etwas Positives abzugewinnen: Denn wie immer im Leben werden die Schüler „mit den Füßen abstimmen“. Wo der Unterricht erfrischend und lebensnah ist, da werden sie gern bleiben. In Berlin erreicht die freidenkerische Lebenskunde etwa 40.000 Schüler und Schülerinnen. Man hört von recht unterschiedlichen Erfahrungen, wie beim Religionsunterricht auch. Da hilft nur: Den Religionsunterricht so attraktiv gestalten, dass die Schüler gern kommen. Und nicht zuletzt: zu vermitteln, dass Christsein nichts ist, was man verstecken müsste – ganz im Gegenteil!
Andreas Fincke