Reinhard Bingener

Frühstück mit dem Fürsten des Friedens

Das Bild des Westens vom Dalai Lama könnte Risse bekommen

Der Besuch in Deutschland hat es bestätigt: Der 14. Dalai Lama bewegt sich auf dem Humus allgemeinen Wohlwollens, nicht auf dem harten Parkett kühler Realpolitik. Auch wenn die Begeisterung gegenüber Tenzin Gyatso, dem jetzigen Dalai Lama, in den letzten Jahren nachgelassen hat, kann er weiter auf das Wohlwollen der westlichen Öffentlichkeit setzen. Das ist sein größtes politisches Kapital – und es beeinflusst die Handlungen von Politikern. Ein Frühstück mit dem Dalai Lama lässt Machtpolitiker als Gewissensmenschen erscheinen. Die Weigerung, ihn zu empfangen, gilt dagegen als rechtfertigungsbedürftig.

Auffällig ist, dass der Dalai Lama im Westen, wo Religionen auf politischem Terrain mit Skepsis begegnet wird, anders wahrgenommen wird als andere Religionsführer. Gegenüber den östlichen Religionen scheinen geringere Vorbehalte zu bestehen.

Warum kann ein vergleichsweise abseitiger Regionalkonflikt in Fernost über so lange Zeit die Emotionen der westlichen Beobachter auf sich ziehen? Im Dalai Lama vermuten viele die authentische Personifikation östlicher Religiosität. Und die gilt im Vergleich zu den monotheistischen Religionen als pluralistisch und tolerant. Diese Vermutung wurde in jüngerer Zeit etwa durch Arbeiten des Kulturwissenschaftlers Jan Assmann befördert. Ihm zufolge verstrickt sich der Gott des Monotheismus durch die dem Eingottglauben zugrundeliegende „mosaische Unterscheidung“, also die strikte Ablehnung anderer Götter, in die Sprache von Intoleranz und Gewalt. Polytheistische oder nicht-theistische Religionen haben dagegen mit dem Gewaltpotential der Unterscheidung zwischen falschen Göttern und wahrem Gott nicht zu kämpfen.

Andere Religionswissenschaftler schlagen einen gänzlich anderen Weg ein. Der Wesensschau von Religionen stehen sie skeptisch gegenüber, da diese sich gegenüber empirischen Überprüfungen als zu abstrakt erweist. Stattdessen suchen sie den Grund westlichen Wohlwollens für Buddhisten oder den Hinduismus Mahatma Gandhis nicht im vermeintlich friedfertigen Wesen dieser Religionen, sondern untersuchen die Geschichte der westlichen Sympathie für diese Religionen.

Als Vorbild für diesen Zugang dient das 1978 erschienene Buch „Orientalism“ Edward Saids. Der Literaturwissenschaftler führte darin die westliche Repräsentation des Orients auf das Bedürfnis des Westens nach einem kulturellen Gegenüber zurück. Nach Said imaginierten Bildungsbürger des Westens den Orient als schwachen, weiblichen und unpolitischen Kontrast zur eigenen Kultur und Religion.

Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick auf die westliche Wahrnehmung von Buddhismus und Hinduismus. Die Konstruktion der östlichen Religionen als der rationaleren, friedfertigeren und spirituelleren hat ihren Vorläufer im Religionskritiker David Hume, der zuerst den Monotheismen eine strukturelle Intoleranz zuschrieb – dem Polytheismus dagegen Toleranz. Die idealistischen Denker an der Wende zum 19. Jahrhundert schätzten die Sanftheit und den Langmut der östlichen Religionen. Sie etablierten das Stereotyp des sanften Buddhismus. Hegel lobte die „einfache und milde“ Politik buddhistischer Gesellschaften, deren Mönche „in stiller Beschauung des Ewigen leben, ohne an weltlichen Interessen teilzunehmen“. Seinen Höhepunkt erreichte der Enthusiasmus für die „erfundene“ Friedfertigkeit der östlichen Religionen um 1900 in den theosophischen Netzwerken.

Durch widersprechende Befunde lässt sich die westliche Begeisterung kaum irritieren: Weder die gewaltsame Unterdrückung des mongolischen Schamanismus in der Zeit der ersten Dalai Lamas noch religiös motivierte Morde an Vertretern konkurrierender buddhistischer Strömungen veränderten die ungleiche Verteilung der Sympathien. Die Vermischung von Religion und Politik in der Person des Dalai Lamas oder seine Reden vor indischen Hindu-Nationalisten, die zur Zerstörung von Moscheen aufrufen, werden kaum notiert.

Erstaunlich ist, wie das westliche Bild von den östlichen Religionen auf deren eigene Selbstdarstellung zurückwirkt. Ein Briefwechsel zwischen Mahatma Gandhi von 1931 belegt, dass noch der Vorgänger des jetzigen Dalai Lamas mit der von Gandhi ihm gegenüber als Grundsatz der Gewaltlosigkeit des Buddhismus erwähnten Ahimsa-Lehre nichts anzufangen wusste. Auch lehnte der 13. Dalai Lama bewaffneten Kampf nicht grundsätzlich ab. Der jetzige Dalai Lama, der zwar schon an einen „Weg der Gewaltlosigkeit“ glaubte, schrieb 1962, er könne Widerstandskämpfern „nicht mehr ehrlichen Herzens raten, Gewalt zu vermeiden“. Solche Äußerungen sucht man in der Autobiographie von 1990 vergeblich. Immer stärker rückte Tenzin Gyatso die Gewaltlosigkeit in die Mitte des Buddhismus und passte damit seinen Buddhismus der Erwartungshaltung des Westens an.

Kratzer könnte dieses Bild durch die lautstarken, auch innertibetischen Proteste gegen den Dalai Lama bekommen, die beim Besuch in Deutschland unüberhörbar waren. Sie kamen von einer Minderheit tibetischer Buddhisten, welche der Gottheit Shugden anhängt. Shugden ist der umstrittene Schutzgott der mächtigsten Gruppierung im tibetischen Buddhismus, aus der auch die Dalai Lamas hervorgehen. Seit den siebziger Jahren versucht der jetzige Dalai Lama, der anfänglich selbst diesen Kult praktizierte, Shugden zu beseitigen. Er betreibt die Entfernung seiner Statuen, weil der Kult seiner Vorstellung des Buddhismus nicht entspricht.


Reinhard Bingener, Frankfurt a. M.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Mai 2008, S.4. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.