Christoph Thiele

Führt religiöser Pluralismus zum Laizismus?

Staatliche Neutralität zwischen Kooperation und Dirigismus

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Wenn man ein Thema gestellt bekommt, ist die erste Frage zu Beginn der Bearbeitung: Worum geht es eigentlich? Diese Frage habe ich mir hier natürlich auch gestellt und begonnen, die Überschrift zu sezieren. Dabei ist zunächst einmal der dort nicht genannte Ausgangspunkt anzusehen, von dem etwas „wegführen“ könnte: Das ist das unter dem Grundgesetz geltende und entwickelte Religionsverfassungsrecht. Dann ist darüber nachzudenken, welche Auswirkungen der religiöse Pluralismus mit sich bringt. Schließlich ist etwas zum Laizismus zu sagen, zu dem nach der Fragestellung die Umstände des Pluralismus hinführen könnten. So seziert, kann man die gestellte Frage noch weiter auffächern: Gibt es denn einen Automatismus, dass religiöser Pluralismus zum Laizismus führt? Muss religiöser Pluralismus überhaupt zum Laizismus führen? Darf religiöser Pluralismus zum Laizismus führen?

Religionsverfassungsrecht in Deutschland

„Der völlig religionslose oder religionsfreie Mensch ist Utopie.“2 Jeder Mensch hat eine Position gegenüber der Religion, sei es als bewusstes Mitglied einer Religionsgemeinschaft oder als bewusstes Nichtmitglied. Gibt es demnach keine Gesellschaft, innerhalb derer Religion nicht eine feste Größe ist, so kann es kein staatliches System geben, das das Phänomen von Religion und Weltanschauung unberücksichtigt lassen könnte. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes nimmt deshalb eine rechtliche Einordnung von Religion in seiner Rechtsordnung vor. Welches sind die Eckpunkte dieser Ordnung?Die Religionsfreiheit ist Grund- und Menschenrecht und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts extensiv auszulegen. Es reicht nicht aus, einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte Weltanschauung haben zu dürfen. Die Freiheit konkretisiert sich vielmehr in der freien Möglichkeit, diese auch gemeinschaftlich ausüben zu können. Gegenstand des Rechts ist darum neben dem individuellen Aspekt zugleich der kollek-tive3 und der korporative4. Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst sind in die Garantie der Religionsfreiheit hineingenommen. Ihre Religionsfreiheit ist nicht weniger geschützt als die der einzelnen Individuen, die in ihrer Gemeinsamkeit die jeweilige Religionsgemeinschaft bilden. Dies hebt auch der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung hervor.5In einem neutralen Staat, der seine religiöse Grundlage aufgegeben hat und der die Religionsfreiheit allen seinen Bürgern gleichermaßen gewährleistet, treten in diesem Zusammenhang die Begriffe der negativen und der positiven Religionsfreiheit nebeneinander. Gemeint ist damit einerseits das Recht, sich von jeglicher Religionsausübung fernzuhalten, andererseits das Recht auf ungestörte Religionsausübung. Bei der Religionsfreiheit handelt es sich wie bei jedem Grundrecht in erster Linie um ein Abwehrrecht gegen den Staat. Dieser muss beiden Aspekten der Religionsfreiheit zur größtmöglichen Entfaltung verhelfen. Dabei verleiht die negative Religionsfreiheit keinen Anspruch darauf, vom Staat vor Konfrontation mit religiösen oder weltanschaulichen Positionen geschützt zu werden, deren Kundgabe ja ihrerseits Ausdruck ausgeübter – eben positiver – Religionsfreiheit ist. Nicht die Privilegierung der negativen Religionsfreiheit als vermeintlich neutral zu Lasten der positiven ist geboten, sondern ein schonender Ausgleich nach dem Prinzip der Toleranz. Diese Toleranz wird von allen Staatsbürgern bzw. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Interesse der Achtung anderer Positionen erwartet, und zwar gerade auch gegenüber solchen, die man nicht für richtig hält.6 Das Grundgesetz verdrängt die Ausübung von Religion nicht aus dem öffentlichen Bereich. Religionsfreiheit ist umfassend. Sie verweist Religion nicht in das „stille Kämmerlein“.Unter Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften versteht das Grundgesetz, dass die Institutionen voneinander emanzipiert sind. Da jeder Mensch und die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst aufgrund der Religionsfreiheit das Recht haben, auch im öffentlichen Bereich zu wirken, kommt es notwendig zu einer Überschneidung der beiden Sphären. Die institutionelle Unabhängigkeit voneinander erfordert, dass es dort, wo es zu Überschneidungen kommt, eine Kooperation geben muss. Es wäre ein Missverständnis, wollte man eine Trennung herbeiführen, die die Welt in einen staatlichen und einen religiösen Einflussbereich teilte. Das wäre verfassungsrechtlich unzulässig, weil zwar Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften einander als Institutionen und Organisationen gegenübertreten, die Menschen aber, an die sie sich wenden, dieselben sind. Folgerichtig stellt das Grundgesetz selbst für einzelne Bereiche der Kooperation Regelungen auf, etwa beim Religionsunterricht, bei den theologischen Fakultäten, bei der Seelsorge in staatlichen Anstalten wie Krankenhäusern, Kindergärten, Altenheimen, in Gefängnissen, in der Bundeswehr. Dies ist ein Ausdruck der Freiheitlichkeit des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und trägt der Verpflichtung des Staates Rechnung, der Ausübung der Religionsfreiheit umfassend zur Entfaltung zu verhelfen. Laizistische Vorstellungen stehen dem entgegen. Sie schränken im Ergebnis die Religionsfreiheit unzulässig ein. In der Praxis funktionieren sie deshalb aus sich heraus auch nicht konfliktfrei. Frankreich ist dafür ein signifikantes Beispiel.Das allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gewährte Selbstbestimmungsrecht ist ein wesentliches Element des deutschen Religionsverfassungsrechts, das die Religionsfreiheit zur Entfaltung bringt. Hierdurch ist gewährleistet, dass der Staat nicht durch organisatorische Eingriffe in die Verwaltung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Gefahr läuft, seine Neutralität zu verletzen und in das Recht der Religionsfreiheit einzugreifen. Diese Garantie der Selbstverwaltung umfasst alle erforderlichen Wirkungsmöglichkeiten im und Einwirkungsmöglichkeiten auf den öffentlichen Bereich, sodass die Organisationen ihrem Selbstverständnis gemäß in Freiheit ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen können.

Religiöse Pluralität

Bisher war es für den Staat leicht, in einer religiös weitgehend homogenen Gesellschaft mit den christlichen Kirchen umzugehen, deren Grundlagen mit den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung kompatibel sind. In der pluralistischen Gesellschaft ist das anders. Die Forderung an den Staat bleibt aber gleich. Diese zu erfüllen ist jedoch umso schwieriger, da allen Religionsgemeinschaften, ausgehend von der allseitigen Überzeugung, jeweils das Rechte zu glauben, ein Absolutheitsanspruch innewohnt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus ist zu überlegen, wie den Herausforderungen auf rechtlich geordnete Weise zu begegnen ist, die sich durch die erheblichen Veränderungen in der religiös-weltanschaulichen Landschaft in Deutschland stellen.Der historische Rückblick macht deutlich, dass das deutsche Religionsverfassungsrecht in der Lage ist, den in der Gesellschaft vertretenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften den gebotenen Freiheitsrahmen zu schaffen. Die Wurzeln des deutschen Religionsverfassungsrechts reichen weit in die deutsche Geschichte zurück. Schon der Augsburger Religionsfriede steht als grundlegendes Regelungswerk am Beginn der Entwicklung, die schließlich zu unserem Verständnis von Religionsfreiheit, Toleranz und Neutralität geführt hat. Daran hat auch der furchtbare Rückschlag des Dreißigjährigen Krieges nichts geändert. Der Westfälische Friede von 1648 knüpft nicht umsonst in der Sache an die Konstruktion des Augsburger Religionsfriedens an. Das seitdem bestehende gleichberechtigte Nebeneinander der christlichen Konfessionskirchen in Deutschland war prägend für die Entwicklung unseres heutigen freiheitlichen Religionsverfassungsrechts. Es gibt keinen Grund, warum dies nicht auch in einer pluralistischeren Gesellschaft funktionieren soll.Mit der Schilderung der grundgesetzlichen Gewährleistungen ist die Frage des „Ob“ von Religion im öffentlichen Bereich beantwortet. Im Weiteren ist zu kennzeichnen, „wie“ Religion im öffentlichen Bereich vertreten sein soll. Was sind die Kriterien?• Das Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft. Für das Christentum ist hier vor allem der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat unter der Maxime des Missionsbefehls von Jesus zu nennen. Daraus folgt ein weitreichender Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen, der in einen entsprechenden Öffentlichkeitsauftrag mündet. Dieser wird auf vielfältige Weise wahrgenommen.• Die Neutralität des Staates. Sie gebietet, dass das freiheitliche System allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften offen steht, wobei diese Neutralität missverstanden wäre als eine Pflicht des Staates zur Ignoranz gegenüber Religion. Vielmehr besteht eine staatliche Pflicht, die Entfaltung von Religion umfassend zu ermöglichen, und zwar auch bei wachsendem Pluralismus. Nach einer zutreffenden Beschreibung durch das Bundesverfassungsgericht folgt der Staat dabei dem Prinzip der „fördernden Neutralität“.• Dabei verfährt der Staat nach dem Grundsatz der Parität. Dieser Grundsatz bedeutet, dass der Staat alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleich behandelt, wobei er die jeweiligen Unterschiede zu beachten verpflichtet ist und sachlich begründete Differenzierungen vornehmen kann und muss. Es gilt der allgemeine Gleichheitssatz, wonach Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist.• Das Funktionieren der staatlichen Ordnung im Hinblick auf die Religionsfreiheit und damit – wegen der fundamentalen Bedeutung der Religionsfreiheit – auch das Funktionieren der staatlichen Ordnung insgesamt ist abhängig von der Friedensfähigkeit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften untereinander. Der Pluralismus von verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften darf das geordnete friedliche Zusammenleben in ein und demselben Gemeinwesen nicht gefährden. Das System des Grundgesetzes fordert folglich von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Toleranz, Solidarität und Gemeinsinn und damit ein Einfügen im Rahmen des Zusammenlebens und gewisse Ermäßigungen des jeweiligen Anspruchs.Der Wettbewerb der Überzeugungen oder die Missionstätigkeit werden nicht ausgeschlossen. Das System des Grundgesetzes bietet insofern allerdings keinen Raum für einen aggressiven Fundamentalismus. Nach geltendem Recht ist bei gravierenden Verstößen gegen die Rechtsordnung als Ultima Ratio ein Verbot der jeweiligen Gemeinschaft nicht ausgeschlossen.

Laizismus

Laizismus wird vorgestellt als Modell einer klaren Trennung von Staat und Religion. Das System des Religionsverfassungsrechts des Grundgesetzes und seine Ausprägung werden als Verstoß gegen die staatliche Neutralität beschrieben. Laizismus und staatliche Neutralität werden gleichgesetzt. Es wird ein Privilegienvorwurf zugunsten der großen christlichen Kirchen erhoben, und es werden Vorschläge gemacht, wie – vermeintlich neutral – in umfassender Weise die Wirkung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im öffentlichen Bereich beschnitten, ja beseitigt werden kann.Wie gesehen, will das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes dies alles nicht. Es enthält vielmehr eine klare Absage an ein System des Laizismus, dessen Konsequenz es wäre, Religion auf den Bereich des Privaten zu beschränken in der falschen Annahme, dass der Staat auf diese Weise seiner Neutralität gerecht werden könnte. Laizismus ist aber eben nicht ein Synonym für staatliche Neutralität. Ein System des Laizismus läuft Gefahr, einseitig vor Religion schützen zu wollen und zu versäumen, der Freiheit zur Religion den angemessenen Raum zu geben.7 Die Rechtsordnung des Grundgesetzes erweist sich demgegenüber vielmehr dadurch als neutral, dass in ihr die Staatsbürger die Möglichkeit haben, ihre religiös-weltanschaulichen Überzeugungen auch im öffentlichen Leben soweit wie möglich zur Geltung zu bringen. Die Neutralität des Staates besteht dabei darin, dass er selbst sich zurücknimmt und den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften den Boden für die Entfaltung ihrer Religionsfreiheit bereitet. Ich möchte es deshalb einmal in aller Schärfe so formulieren: Laizismus ist das Gegenteil von Religionsfreiheit, ist das Gegenteil von Trennung von Staat und Kirche, ist Diskriminierung von Religion.Deutlich geworden ist dagegen, dass das System des Grundgesetzes grundsätzlich auf alle Religionen anwendbar ist. Dabei kommt es nicht auf eine besondere Anerkennung der jeweiligen Religionsgemeinschaften durch den Staat an. Es gibt keine Veranlassung, an diesem freiheitlichen System etwas zu verändern. Das ist nicht zuletzt auf dem Deutschen Juristentag im September 2010 in Berlin mit überwältigenden Mehrheiten deutlich zum Ausdruck gekommen. Insbesondere ist vor einer Entwicklung zu einem Laizismus zu warnen, die von der ebenso eingängigen wie irrigen Behauptung ausgeht, dass Religion Privatsache sei. Unsere Gesellschaft ist kein religionsfreier Raum, Religion wird nie bloße Privatsache sein, sondern immer im Öffentlichen wirken. Das ist ihr Anspruch und auch ihr Recht. Sie soll sich entfalten können, auch zum gesellschaftlichen und staatlichen Nutzen. Deshalb hat der Staat eine Pflicht zur Erhaltung des freiheitlichen Systems und auch ein Interesse daran. Der wachsende Pluralismus bietet dabei nicht etwa einen Anlass für eine Beschränkung der öffentlichen Wirksamkeit von Religionsgemeinschaften in Ausübung ihrer Religionsfreiheit. Vielmehr wird die Offenheit für die Vielzahl von religiösen Inhalten und Werten durch eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesen Werten gefördert.8 Somit kommt unter den Bedingungen eines wachsenden Pluralismus die Religionsfreiheit gerade dadurch zur Entfaltung, dass ihr Schutzbereich hinreichend extensiv ausgelegt wird.9 Denn das System des Religionsverfassungsrechts nach dem Grundgesetz ist ein System der Freiheit.


Christoph Thiele, Hannover


Anmerkungen

1 Impulsvortrag im Rahmen des 33. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Dresden, Themenbereich 1: Theologie und Glaube; Zentrum Weltanschauungen, 4.6.2011.

2 Alexander Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, Berlin 1998, 29.

Weitere vor allem verwendete Literatur:

Axel v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, München 31996; ders., § 136 Religionsfreiheit, in HStR, Bd. VI, = ders., Gesammelte Schriften, Tübingen 1995, jeweils mit weiteren Nachweisen.

3 Ulrich Scheuner, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, Berlin 1973, 42, 50ff; Axel v. Campenhausen, § 136 Religionsfreiheit, a.a.O., Rdnr. 3.

4 Wolfgang Huber, Kirche und Verfassungsordnung, in: Burkhard Kämper / Hans-Werner Thönnes (Hg.), Die Verfassungsordnung für Religion und Kirche in Anfechtung und Bewährung, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 42, Münster 2008, 15, benennt diese Aspekte der Religionsfreiheit ungewohnt, aber prägnant und bedenkenswert mit „individuelle, korporative und institutionelle Religionsfreiheit“.

5 Vgl. EuGH, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas v. Austria, 31.07.2008, 40825/98, §§ 60-63, 78-79; Canea Catholic Church v. Greece, 16.12.1997, 25528/94, § 31; Hasan and Chaush v. Bulgaria, 26.10.2000, 30985/96, § 62.

6 Vgl. dazu Rede von Bundespräsident Johannes Rau, „Religionsfreiheit heute – zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland“, am 22.1.2004 in Wolfenbüttel beim Festakt zum 275. Geburtstag von G. E. Lessing.

7 Vgl. Hans Michael Heinig, Ordnung der Freiheit – das Staatskirchenrecht vor neuen Herausforderungen, in: ZevKR 53 (2008), 235ff (250).

8 Hans-Jürgen Papier, Aktuelle Herausforderungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen Neutralitätspflicht, in: Rainer Pitschas / Arnd Uhle (Hg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz, Berlin 2007, 1123ff (1139).

9 Hans Michael Heinig, Ordnung der Freiheit, a.a.O., 248.