Ulrich H. J. Körtner

Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche

Ulrich H. J. Körtner, Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, 172 Seiten, 15,00 Euro.

Ende 2015, auf dem ersten Höhepunkt der Debatten um den angemessenen Umgang mit den Flüchtlingsströmen in Europa und Deutschland, veröffentlichte Ulrich H. J. Körtner in dieser Zeitschrift ein „Plädoyer für mehr Verantwortungsethik“ (MD 12/2015, 443f). Aus diesem knappen Aufruf hat der Wiener Systematiker nun eine umfangreichere Schrift verfasst, die „Für die Vernunft“ und „wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche“ streitet. Auf gut 160 Seiten (plus Anmerkungen) ruft er in Erinnerung, was eigentlich für lange Zeit Konsens in evangelischer Theologie und Kirche war: dass staatliches und kirchliches Reden und Handeln – wiewohl aufeinander bezogen und aneinander gewiesen – prinzipiell voneinander zu unterscheiden seien, nicht zuletzt, um beiden Sphären menschlichen Lebens ihre jeweils notwendige Freiheit zu bewahren.

Diese relativ klassische Lesart der reformatorischen Lehre von den zwei Weisen Gottes, in der Welt zu wirken, will Körtner verteidigen gegenüber einer zunehmenden Emotionalisierung politischer Diskurse, welche zu treffende Entscheidungen keineswegs erleichtert, sondern vielmehr als „Brandbeschleuniger“ (23) und damit destruktiv in demokratischen Prozessen wirkt. Beispiele dafür macht er an vielen Stellen aus: im irrationalen und populistischen Umgang mit Fakten (Kap. 1), in der Übersteigerung politischer Debatten zu moralischen Konflikten (Kap. 2), in der allgegenwärtigen Rede von „Werten“, die es zu definieren und ggf. zu verteidigen gelte (während Körtner mit E. Jüngel sie gerade für einen Verrat am christlichen Ethos hält; 31ff), und in der Überbetonung der Emotionen und Ressentiments in politischen Debatten, die unreflektiert in die Falle ihrer eigenen Ambivalenzen tappt: „Man kann ... auch aus Mitleid das Falsche tun“ (43).

Dass in all dem die Kirche fröhlich mitmischt, indem sie sich als – fast scheint es bisweilen: einzig – legitime Sachwalterin ethischer Entscheidungen geriert, um ihren anderweitig nicht mehr zu übersehenden Bedeutungsverlust zu kompensieren, notiert Körtner mit einer gewissen Süffisanz (Kap. 4, ähnlich auch in Kap. 8 zur „Öffentlichen Theologie“; man hat vergleichbare Kritik an der „Klerikalisierung der Politik“ [70] und einer „EKD-Theologie mit quasi lehramtlichem Anspruch“ [108] auch schon pointierter etwa bei Matthias Kröger oder Friedrich Wilhelm Graf gelesen), während er gleichzeitig den „Verlust der Zukunft“ und damit einhergehend das Versanden politisch ambitionierter Theologien konstatiert (Kap. 5), die noch über die reine Verwaltung des Bestehenden hinaus zu denken und zu hoffen in der Lage wären.

Demgegenüber plädiert der Autor in den folgenden Kapiteln für einige an der reformatorischen Theologie geschulte „Fundamentalunterscheidungen“ (93), nämlich die zwischen Gott und Mensch, Glaube und Werken, Gesetz und Evangelium, Vorletztem und Letztem und nicht zuletzt (wie schon im eingangs genannten Artikel) zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die sich zum einen der Vorläufigkeit ihrer Entscheidungen bewusst ist und zum anderen die Folgen dieser Entscheidungen reflektiert. Körtner empfiehlt moralische Selbstbescheidung und die „Entmoralisierung der Religion“ (97) in dem aus der Rechtfertigungstheologie genährten Bewusstsein, dass das schlechthin Gute menschlich-vorläufig niemandem gegeben sei. Was jeweils das „Beste der Stadt“ ist, das mit Jer 29,7 zu suchen sei, steht eben nicht ein für allemal fest und ist keinem Akteur zur Hand: Es gebe in allen politischen und sonstigen kontroversen Fragen nicht „genau einen, ‚den’ christlichen Standpunkt ..., den die Kirche in der öffentlichen Debatte zur Geltung bringen“ müsse (107; mit Berufung auf Johannes Fischer, an dem Körtner sich auch sonst in seinem Plädoyer für die „engagierte Vernunft“ orientiert).

Körtners Überlegungen zu einer „Theologie der Diaspora“ (104ff), die sich weniger an der realen demografischen Situation, zumal in Deutschland, orientiert, sondern sich als theologische Verortung in der modernen Gesellschaft versteht, sind anregend, ebenso wie sein Ideal einer „wartende[n] Theologie, die eben nicht zu allem und jedem etwas zu sagen hat“ und auch „qualifiziert schweigen“ könne (109), sympathisch ist. Gleichwohl verspürt der Rezensent gerade an dieser Stelle den dringenden Wunsch nach einem Bonhoeffer-Moratorium, werden doch dessen – und das ist immer wieder in Erinnerung zu rufen: fragmentarische! – Anstöße und Überlegungen aus der Zeit des Widerstands von allen Beteiligten in der Debatte nur allzu gern und mit größter Selbstverständlichkeit für die eigene Position in Anspruch genommen.

Im 9. Kapitel wendet Körtner seine Überlegungen anhand der Flüchtlingsproblematik dann noch einmal auf ein konkretes und heiß umstrittenes Feld der politischen Diskussion an. Nicht um abschließende Lösungen zu bieten, sondern um kritische Fragen zu stellen und die aus jedweder Entscheidung sich ergebenden Dilemmata wenigstens ehrlich zu benennen, wie er auch, m. E. sehr wohl zu Recht, den Finger auf manche Unaufrichtigkeit legt, die sich aus dem jeweiligen Handeln (oder eben auch Nichthandeln) etwa hinsichtlich der Frage der Grenzsicherung, des Türkei-Deals der Bundesregierung („Was daran moralischer als an der Schließung der Balkanroute sein soll, erschließt sich mir nicht“; 120) oder der konkreten Praxis der Seenotrettung im Mittelmeer („Die Ärmsten und Schwächsten bleiben hingegen auf der Strecke“; 125) ergibt. Die Beobachtung, dass Kirchenvertreter gerade auf diesem Feld mit den Schlagworten der „Nächstenliebe“ oder der „Gottebenbildlichkeit aller Menschen“ bisweilen höchst einseitig eine unreflektiert gewissensethische Position einnehmen (123f), mag nicht jedem schmecken, ist aber wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.

Nach einem Rekurs auf und aktualisierender Deutung von Barmen V (Kap. 10; eigentlich eine Fortsetzung der Gedanken in Kap. 7), in der die Rolle der menschlichen Vernunft in der Sphäre staatlich-politischen Handelns in Erinnerung gerufen wird, plädiert Körtner abschließend für eine sich selbst bescheidende (nicht nur christliche, aber gerade hier sollte man es in der Tat besser wissen!) Haltung der „Selbstbegrenzung“ (149), die von ihren Weltverbesserungsvisionen ablässt und – mit O. Marquard – die Welt verschont und sich in einer „Ethik des Lassens“ (150) übt, um anstelle der technokratischen Betriebsamkeit wieder Raum für die Zukunft Gottes zu gewinnen (Kap. 12), nicht zuletzt, weil gerade dadurch wieder „Freiheit zur Gestaltung des Politischen“ gewonnen werde (159).

Körtners kritische Einwürfe werden nicht jedem gefallen. Das müssen sie auch nicht, und an manchen Stellen wirkt das Buch durchaus ein wenig holzschnittartig und plakativ. Gleichwohl stellt es wichtige Fragen und legt den Finger auf einige wunde Punkte im Mainstream der (deutschen) kirchlichen Selbstdarstellung der letzten Zeit. Dass es ein Theologe aus Österreich ist, der sich hier so positioniert, mag Zufall sein, spricht aber vielleicht auch für den manchmal notwendigen Blick von außen. Dass vieles, was Körtner in Sachen Kirche und Politik, Zwei-Regimente-Lehre, Gesetz und Evangelium usw. anmahnt, eigentlich einmal evangelisches Gemeingut war, aber augenscheinlich nicht mehr ist, stimmt allerdings nachdenklich. Und das ist ja nie schlecht.


Volker Lubinetzki, Wermelskirchen