Geist - das Produkt unseres Gehirns?
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren rasante Fortschritte gemacht. Immer mehr wurde eine zentrale Prämisse des christlichen Menschenbildes, seine Willensfreiheit, in Frage gestellt (vgl. Eibach 2003). Eine Artikelserie in der FAZ, die gerade als Taschenbuch erschienen ist (Geyer 2004), dokumentiert die zumeist deterministisch orientierten Positionen führender Hirnforscher wie Wolf Singer und Gerhard Roth. Im Oktober 2004 haben nun elf führende Neurobiologen, darunter auch die beiden genannten Wissenschaftler, weiter von sich reden gemacht, indem sie ein "Manifest" über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung in einem populärwissenschaftlichen Magazin veröffentlicht haben (Gehirn & Geist 6/2004). Grundannahmen über den Menschen würden sich ändern, so das Manifest, wenn die Öffentlichkeit realisiere, dass "sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen ... und all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Prozesse beschreibbar sind".
Die Forscher sagen voraus, dass in den nächsten 20 bis 30 Jahren Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit gänzlich als biologische Prozesse beschrieben werden können, weil sie "natürliche Vorgänge" seien. Hier kommt der evolutionäre Standpunkt deutlich zum Vorschein, der auch in anderen Disziplinen wie etwa der Psychologie in den letzten Jahren ein erstaunliches Comeback erlebte (Becker 2003, Buss 2004). Obwohl eine vollständige Erklärung der Gehirnaktivität für unwahrscheinlich gehalten wird, stehen der Gesellschaft nach Meinung der Hirnforscher in absehbarer Zeit "beträchtliche Erschütterungen ins Haus". Dabei werde die Hirnforschung nicht in einem neuronalen Reduktionismus enden, und eine gewisse Eigenständigkeit der "Innenperspektive" bleibe erhalten. Immerhin wird in dem Manifest "aus ethischen Bedenken" (?) vor Eingriffen in die Persönlichkeit gewarnt. Solche könnten möglich werden und sinnvoll erscheinen, wenn psychische Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen, aber auch Verhaltensdispositionen voraussehbar werden. Nur: Wer führt die Aufsichtspflicht über derart verführerische und manipulative Machtmittel? Wer bestimmt die Entwicklungsziele des Menschen, wer definiert "normal" oder "gesund"?
Die Verfasser des Manifests erwarten, dass dualistische Erklärungsmodelle mit ihrer Trennung von Körper und Geist sich zunehmend verwischen werden. Deshalb sollten Geistes- und Naturwissenschaftler in einen intensiven Dialog treten, um "gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen". Ob dafür aber eine gemeinsame Basis gefunden werden kann, erscheint unwahrscheinlich. Zumindest aus katholischer Sicht werden dieser Fraktion der Hirnforschung sehr direkt "naturalistische Fehlschlüsse", "Kategorienfehler" und eine "philosophiefreie Erschleichung eines Weltbildes durch neurophysiologische Hochstapelei" vorgeworfen (Mutschler 2004, Quitterer 2004, Lüke 2004). Es wird weiter großer Anstrengungen bedürfen, der Ausbreitung eines naturalistischen Weltbildes überzeugende Alternativen entgegen zu stellen.
Literatur
A. Becker (Hg.) (2003), Gene, Meme und Gehirn, Frankfurt a. M.
D. Buss (2004), Evolutionäre Psychologie, München
U. Eibach (2003), "Gott" nur ein "Hirngespinst"? Zur Neurobiologie religiösen Erlebens, EZW-Text 172, Berlin
C. Geyer (Hg.) (2004), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M.
U. Lüke (2004), Zur Freiheit determiniert - zur Determination befreit?, Stimmen der Zeit 67/9, 610-622
H.-D. Mutschler (2004), Fehlschlüsse des Naturalismus, Herder Korrespondenz 58/10, 529-532
J. Quitterer (2004), Die Freiheit, die wir meinen, Herder Korrespondenz 58/7, 364-368
Michael Utsch