Geist (in religiösen Bewegungen)
Weltweit wachsen pentekostale und charismatische Bewegungen, in unseren Breiten ist ein zunehmendes Interesse an spirituellen Angeboten von fernöstlichen Meditationen bis zu christlichen Exerzitien zu beobachten. Reale Bedürfnisse nach Gottes- und Geist- bzw. Selbst- und Körpererfahrung sind in den historischen Kirchen der Nordhalbkugel lange Zeit vernachlässigt worden, Spiritualitäts- und Geistsehnsucht suchen sich Entfaltungsräume mit Erfahrungsbezug in feministischen und befreiungstheologischen Ansätzen, in Meditations- und kommunitären Bewegungen (Taizé) wie auch in der Rezeption esoterischer Konzepte. Qigong verspricht den Fluss der Lebensenergie zu harmonisieren, Reiki-Behandlungen sollen die kosmische Lebenskraft per Handauflegung übertragen. Gerade in der Reiki-Szene wird im chinesischen Qi, im hinduistischen Prana, in der Heilkraft der Natur bei Hippokrates oder im christlichen Heiligen Geist dieselbe „reine geistige Kraft“ gesehen, die immer und überall vorhanden sei und jederzeit zur Verfügung stehe. „Alles meint das Gleiche! Eine Energie, die uns durchströmt und uns harmonisiert.“1
Die zunehmende religiös-weltanschauliche Vielfalt unserer Lebens- und Erfahrungswelten scheint solche Vergleiche nahezulegen und stellt zugleich vor die Frage, ob in den unterschiedlichen Anschauungen des Geistes eine alles verbindende Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Ist diese Frage aus christlicher Sicht zu bejahen? Wo sind verbindende Elemente, wo wichtige Unterschiede zu benennen? Wirkt Gottes Geist in allen Religionen, und wenn ja, inwiefern?
Grundlegende „Geist“-Konzepte
Geist, Geistkraft, Lebensenergie – viele Religionen, religiöse Bewegungen wie auch esoterische Strömungen kennen Begriffe, die eine lebenspendende und alles durchwaltende Kraft oder einen/den göttlichen Geist jenseits der sichtbar-materiellen Welt bezeichnen: Ruach, Pneuma, Spiritus, Prana, Qi (Chi, Ki), Rigpa, Mana, Orgon (W. Reich), Odkraft u. a. m. Das breite und uneinheitliche Begriffsspektrum umfasst philosophische und theologische Reflexionen, esoterische Erfahrungsdeutungen, Vorstellungen von der Beseeltheit aller Dinge (Animismus), Engel- und Geisterglaube (Dämonen, Ahnen), spiritistische Anschauungen, aber auch Geistbegabung und charismatische Phänomene.
In unserer Wahrnehmung sind wir stark geprägt von der antiken Philosophie und der Christentumsgeschichte, in beiden spielt der Begriff des Geistes eine zentrale Rolle. So wird mit Geist das Prinzip der Ordnung alles Seienden bezeichnet, die höchste, alles ordnende und gestaltende Intelligenz, die materiefreie, unteilbare Wirklichkeit, aber auch das kognitive Vermögen des Menschen. In der Philosophie des Aristoteles ist der Geist der unsichtbare, alles andere bewegende „unbewegte Beweger“, vollkommen und von allem unabhängig, ewig. Dieser „Geist“ wird mit „Gott“ (ho theós) gleichgesetzt. In dem besonders wirkmächtigen monistischen Denksystem Plotins (Neuplatonismus) geht der Geist (nous) gleichsam als erste Seinsstufe aus dem absolut transzendenten und bestimmungslosen Einen als Ursprung von allem hervor. In der Hierarchie der Seinsstufen geht es vom Geist über den Bereich des Seelischen in die körperlich-materielle Sinneswelt auf den niederen Seinsstufen, die somit entsprechend weit vom „Geist“ entfernt sind, mit diesem aber zugleich seinsmäßig verbunden bleiben. In diesem Denken liegt in der „Vielfalt“ ein Mangel an Vollkommenheit, während die Fülle des Seins in der absoluten „Einfachheit“, dem Einen, zu finden ist. Im Idealismus wurden Vorstellungen eines „Weltgeistes“ entwickelt, der mehr oder weniger mit Gott identifiziert wird.
In der biblischen Sprache wird der „Geist“ im Bild des Windes benannt. Ruach (hebr.), Pneuma (griech.), Spiritus (lat.) bedeuten sprachlich das gleiche: Wind, Hauch, Atem, Geist. Ohne Atem kein Leben, der Atem ist zugleich die Luft, die im Windhauch bewegt wird und alles Lebendige miteinander verbindet. Der Geist Gottes bzw. Jesu Christi ist die unverfügbare Schöpfer- und Lebenskraft, in der sich Gott bzw. Christus „als Grund des (neuen) Lebens vergegenwärtigt, wirksam mitteilt und an seinem Leben gegen alles Lebenswidrige auch über den Tod hinaus Anteil gibt“ (Hartmut Rosenau). Hier ist gerade nicht eine absolute, von allen Affekten unabhängige Transzendenz im Blick, sondern eine Dynamik, die sich lebens- und gemeinschaftsstiftend mitteilt und in der Einheit Kreativität und Vielfalt (Geistesgaben) fördert. Das Wirken des Geistes Gottes ist dabei nicht auf die Kirche und ihre Heilsmittel begrenzt, es scheint auch in Kunst und Kultur und in anderen Religionen auf, da auch hier „Ergriffensein von etwas Letztem, Unbedingtem“ zu finden ist (so Paul Tillich), wobei die „universale Offenbarung“ sich immer an der letztgültigen und unzweideutigen Offenbarung in Jesus Christus messen lassen muss.
Vom Wortfeld her nahe am hebräischen Ruach ist der chinesische Begriff Qi (japan. Ki), der ebenfalls den lebenspendenden Atem bezeichnet, Hauch, aber auch Fluidum, Temperament, Kraft. Ferner wird er auf die vitale Energie bis hin zur „Urenergie“ und zum kosmischen Geist bezogen. Qi kann als energiegeladener (Lebens-)Strom beschrieben werden, der alles durchfließt und bewegt und durch Übung und Techniken beeinflusst werden kann (Beseitigung von Blockaden, Stärkung, Harmonisierung). Im Menschen fließt die Lebensenergie nach der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) in den „Meridianen“, bestimmten Bahnen, die auch für die Akupunktur wichtig sind. Im Qigong („Arbeit mit dem Qi“) wird das Qi im Körper durch Abfolgen von konzentrierten Körperhaltungen und Bewegungen gestärkt und harmonisiert, es soll ungehindert fließen können und damit Gesundheit gefördert und ein ausgeglichener Gemütszustand erreicht werden. Auch Reiki, meist mit „universale/universelle Lebensenergie“ wiedergegeben, trägt das Qi/Ki im Namen. Die esoterische Heilmethode soll die kosmische Lebenskraft zur Unterstützung individueller Heilungsprozesse und zur Vitalisierung von Körper und Geist durch systematisches Handauflegen übertragen. Die Qi-Vorstellungswelt ist ursprünglich in die daoistische Kosmologie eingebettet, die auf das universelle Eine ausgerichtet ist, in das alles zurückkehrt und das letztlich die (komplementäre) Polarität der Gegensätze, in der sich das Leben und die Welt durchweg zeigen (Yin und Yang), völlig in sich aufhebt (Dao).
Hinsichtlich der vielfältigen esoterischen Adaptionen als feinstoffliche kosmische Energie ist das Sanskritwort Prana, das ebenfalls Atem, Hauch, Leben(skraft) bedeutet, durchaus vergleichbar mit dem chinesischen Qi. Im klassischen Yoga (Raja/Ashtanga Yoga) sind Atemübungen (Pranayama) als vierte Stufe des achtgliedrigen Weges zentral, die durch die Arbeit mit dem Atem Lebensenergie zuführen sollen. Erst in jüngster Zeit wird Prana in der Esoterik-Szene als feinstoffliche „Lichtnahrung“ bezeichnet und die These verbreitet, man könne ohne feste und flüssige Nahrung auskommen, indem man sich nur von Licht „ernähre“.
Materie und Geist sind im Rahmen der monistischen Auffassung nicht scharf zu trennen, was besonders in energetisch-„physikalistischen“ Konzepten der Esoterik weiter ausgebaut wird, in denen ein fließender Übergang zwischen dem grobstofflich-materiellen Bereich und einem feinstofflich-geistigen Bereich vorausgesetzt wird. Der Mensch hat in dieser Vorstellung mehrere „Körper“ (Leibhüllen), die ihn gleichsam in Abstufungen sowohl an grobstofflichen als auch an feinstofflichen Energieformen teilhaben lassen. Die erfolgreiche Verbreitung solcher Vorstellungen in der Moderne hat historisch damit zu tun, dass etwa die energetischen Aspekte dem mit den Naturwissenschaften aufkommenden Bestreben entgegenkamen, geistig-religiöse Phänomene „naturwissenschaftlich“ zu erklären oder zumindest widerspruchsfrei einzuordnen (vgl. den Vitalismus des 19. Jahrhunderts).
Geist und Heiliger Geist – biblische Aspekte
Der kreatürliche Atem ist zugleich Kennzeichen der unlösbaren Verbindung mit Gott (Gen 2,7). Jedoch ist mit dem Atem biblisch betrachtet nicht der Empfang einer göttlichen Seele oder eines göttlichen Geistes verbunden, er ist „Leihgabe Gottes“ (Ps 104,29f). Der personhaft erfahrene Gott schafft den Menschen als verantwortliches Gegenüber. Die Schöpfung „ist erfüllt vom Geist des Herrn“ (Weish 1,7) und weist in ihrer Schönheit auf den Schöpfer hin, ist aber nicht mit ihm identisch. Nach christlicher Überzeugung gehört der Heilige Geist zu Gott und kann deshalb nicht als „spirituelle Energie“ benutzt und verfügbar gemacht werden. Er lässt sich nicht durch bestimmte Techniken „kanalisieren“ oder „kultivieren“. Christlicher Glaube bekennt, dass der Geist Gottes unerwartet, überraschend wirkt, er „weht, wo er will“ (Joh 3,8). Zugleich mahnt die Unverfügbarkeit des Geistes zur Vorsicht, seinem Wirken Grenzen setzen zu wollen. Die mit Qi/Ki bezeichnete „Lebensenergie“ gehört in den Bereich der Schöpfung, sie ist auch niemals Gegenstand des Glaubens.
Der Geist Gottes kommt temporär mit bestimmten Kraftwirkungen über Menschen (Ri 13,25; 1. Sam 19,20f), er kann auch auf einem Menschen „ruhen“ (1. Sam 16,13; Jes 61,1). Am Ende der Zeit wird er auf alle Menschen „ausgegossen“ (Joel 3; Apg 2). Der Heilige Geist wirkt in den neutestamentlichen Zeugnissen befreiend, er schafft Einheit, aber keine Uniformität, und er weist auf Jesus Christus hin (er „verherrlicht“ Christus, Joh 16,14). Glaubende können nur durch den Heiligen Geist sich selbst als „Gottes Kinder“ und Christus als ihren Herrn erkennen (1. Kor 12,3; Röm 8,14-16; Gal 4,6f; 1. Joh 3,1) sowie ethisch vorbildlich leben (Röm 8). Mit der Gabe (und den Gaben, Charismata) des Heiligen Geistes sind Christen in die Welt gesandt (Joh 20,21-23; 1. Kor 12.14). Bewährung und Entfaltung des vom Geist bewegten Lebens zeigen sich an der „Frucht des Geistes“: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit (Gal 5,22f).
Angesichts der Ambivalenz menschlicher Deutungen und der Erfahrung negativer Geistkräfte ist die Unterscheidung der Geister notwendig (1. Kor 12,10; vgl. 1. Joh 4,1ff; 1. Thess 5,21).
Religionstheologische Aspekte
Durch neuere religionstheologische Entwürfe, die trinitätstheologisch ansetzen, kommt die Rolle des Heiligen Geistes im Verhältnis Christentum-Religionen prominent in den Blick. Dabei kann die Trinität apologetisch abgrenzend verstanden werden (im Gegensatz zu anderen Gottesbildern) oder in wertschätzender Absicht als umfassender Interpretationsrahmen für die Vielfalt der Religionen, wenn etwa den trinitarischen Personen drei Interaktionsweisen zugeschrieben werden (impersonal, personal, gemeinschaftlich), die in Gott einander durchdringend kopräsent sind, während Menschen auch bevorzugt durch eine der Interaktionsweisen mit Gott in Verbindung kommen können, was dann unterschiedliche Religionsformen bedingt (Mark Heim). Demgemäß läge in jedem Beziehungsmodus die volle Heilsteilhabe, während christologische Aspekte völlig zurücktreten. Derartige Extreme werden vermieden, wenn etwa das Wirken des Geistes in seinem Bezug auf den Vater als Segenshandeln Gottes in der Welt – auch in den Religionen – verstanden wird und das Wirken des Geistes in seinem Bezug auf den Sohn als Gottes Rettungshandeln in Jesus Christus (H. Wrogemann). So wird der Spannung zwischen dem offenbaren Heilshandeln Gottes und dem Geheimnis seines Wirkens in der Welt Rechnung getragen, die im Lobpreis (doxologisches Verständnis!) zwar nicht aufgehoben, aber anbetend anerkannt wird und so zu einer heilsamen Gelassenheit im Blick auf das Jetzt und zu einer begründeten Hoffnung im Blick auf die Auflösung der Aporien in der Zukunft (Eschaton) anleitet.
Einschätzungen
Seit einigen Jahrzehnten wird das Thema Geist neu entdeckt und der Pneumatologie in christlichen Theologien große Aufmerksamkeit gewidmet. Die religiöse Vielfalt kann den Blick auf den „Geist“ als verbindendes Moment lenken, da alle Menschen „nicht vom Brot allein“ leben, sondern vom Lebens-Atem Gottes, den alle Lebewesen teilen. Die Konzentration auf das Ungebundene und zugleich Wesenhafte, das Immaterielle und zugleich jedem Lebewesen unmittelbar Zugängliche scheint eine gewisse Befreiung von dogmatischer Einengung und institutioneller Einbindung bei gleichzeitiger intuitiver religions- und kulturübergreifender Verbundenheit zu versprechen. Diese Wahrnehmungen werden vor allem in den mystischen Traditionen gepflegt, die daher vielfach als Ausgangspunkt und Potenzial zur Überwindung von überall zu beobachtenden Abgrenzungsstrategien und Machtkonflikten gesehen werden. Freilich können solche Freiheit und Verbundenheit als solche nicht ohne eigene Reflexion wahrgenommen werden, die selbst wiederum nach einer theologischen, und das heißt auch dogmatischen Einordnung verlangt. Man wird über den Geistbegriff (und die Mystik2) die „dogmatische Aufgabe“ also nicht los, sondern erneut vor sie gestellt.
Jede „Einordnung“ wird indessen von vornherein darauf gefasst sein müssen, dass sie ihren „Gegenstand“ nie einholen kann, da dieser – der Geist – sich gerade nicht begrifflich fassen (be-greifen) lässt, sondern sich als der Lebendige, Unverfügbare, der „Unruhestifter und Störenfried“ (H. G. Pöhlmann) erweist und damit jeder Fixierung entzieht. Schon die terminologische Ausdifferenzierung kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass der Geist alle Begriffe, auch den seiner selbst gleichsam sprengt.
Jede Einordnung wird ebenso damit rechnen, dass das Werk des Geistes Gottes in der Welt nie eindeutig ist. Allerdings ist es das auch nicht in der Kirche, in der der „Geist der Welt“ auch immer wieder zu finden ist (1. Kor 2,12). Der christliche Glaube hofft und vertraut darauf, „dass sich die Wahrheit auch den eigenen Glaubensvollzügen gegenüber durchsetzt. Diese Hoffnung gründet in der neutestamentlichen Verheißung des Geistes: ‚Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen‘ (Joh 8,32).“3
Literaturhinweise
Hans-Martin Barth, Dogmatik – Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, Gütersloh 22002, 413-439
Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der EKD, Gütersloh 2015
Ulrich Dehn, Ki-Bewegungen und ihr Hintergrund, in: MD 3/1998, 66-76
S. Mark Heim, The Depth of the Riches. A Trinitarian Theology of Religious Ends, Grand Rapids/Cambridge, UK, 2001
Claudia Knepper, Energie (Esoterik), in: MD 9/2012, 351-355
Horst Georg Pöhlmann, Heiliger Geist – Gottesgeist, Zeitgeist oder Weltgeist?, Reihe Apologetische Themen (R.A.T.) Bd. 10, Neukirchen-Vluyn 1998 (insbes. 202-207)
Fritz Stolz u. a., Artt. Geist und Geist/Heiliger Geist, in: RGG4 Bd. 3, 556-578
Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992 (weitere Aufl.)
Henning Wrogemann, Theologie Interreligiöser Beziehungen. Religiöse Denkwege, kulturwissenschaftliche Anfragen und ein methodischer Neuansatz, Lehrbuch Interkulturelle Theologie/Missionswissenschaft Bd. 3, Gütersloh 2015
Henning Wrogemann, Verborgener oder offenbarer Gott. Trinitarische Missionstheologie und religiöse Pluralität, in: ders., Muslime und Christen in der Zivilgesellschaft. Religiöse Geltungsansprüche und die Frage der Toleranz aus religions- und missionswissenschaftlicher Sicht, Leipzig 2016, 185-201
Anmerkungen
1 www.reikizentrum-harburg.de.
2 Dazu ist ein eigenes „Stichwort“ vorgesehen.
3 Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt, 33.
Friedmann Eißler