Geistheilung

Die Vorstellung, mit Geisteskraft Heilung zu bewirken, kommt in sehr unterschiedlichen weltanschaulichen Milieus vor: in den Naturreligionen, in der esoterischen Lebenshilfe oder in pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit. Gegenüber dem naturwissenschaftlichen Welt- und Menschenbild der modernen Medizin erinnern eine spirituelle Medizin, mentales, geistiges oder energetisches Heilen daran, dass der Geist ein wichtiger, ja charakteristischer Teil des Menschen ist. In der Erforschung der Geistheilung versucht man die Kräfte zu identifizieren, mit deren Hilfe Naturgesetze beeinflusst und Heilwirkungen herbeigeführt werden können.

Gesundheit, Heilung und Heil sind etymologisch verwandte Begriffe. Das englische „health“ (Gesundheit) hat als Wurzel das Wort „hale“, das mit „whole“ (ganz) und dem deutschen „heil“ verwandt ist. Die Sehnsucht nach Ganzheit, Vollkommenheit und Unversehrtheit entspringt einem urmenschlichen Bedürfnis. Wenn für Heilung nun ein „Geist“ verantwortlich gemacht wird, fragt man sich natürlich sofort, ob damit innerseelische Kräfte oder transpersonale Einflüsse gemeint sind. Die aktuelle Gesundheitsforschung hat eine positive, vertrauensvolle Erwartungshaltung gegenüber dem Behandler als eine wesentliche Voraussetzung einer Krankenheilung identifiziert. Setzt diese Vertrauensbeziehung geistige Kräfte frei? Oder kann die Leib-Seele-Geist-Einheit durch eine bestimmte Bewusstseinshaltung in einen Zustand versetzt werden, durch den sie zu einer Wirkstätte übernatürlicher Energien wird?

Die Frage nach dem Realitätsgehalt der Geistheilung ist ohne die Reflexion der weltanschaulichen Voraussetzungen nicht zu beantworten. Je nach Weltbild soll ein Heilungsprozess angestoßen werden durch innere Selbstheilungskräfte der Natur / des Körpers, durch eine universelle „Lebenskraft“ (Prana, Chi/Qi, Energie) oder durch eine übernatürliche Kraft / Gott(heit).

Historische Aspekte

Im Altertum waren die Heiler Angehörige der Priesterklasse, und auch im Mittelalter wurde der Arztberuf von der Geistlichkeit ausgeübt. Religiöse Übungen und Rituale wie Opfer und Anbetung wurden gezielt zu physischen und psychischen Heilzwecken eingesetzt. Damit übernahm die Religion eine lebenspraktische Aufgabe, die ihre ursprüngliche Bestimmung, das Tor zum ewigen Seelenheil zu öffnen, durch zum Teil spektakuläre Heilerfolge konkret erfahrbar machte.

Mit der Aufklärung, der umfassenden Technisierung des Alltags und den professionellen Spezialisierungen brachen das religiöse Heil und die säkulare Heilung auseinander. Therapie und Theologie wurden zu Rivalinnen.

Verfolgt man den Begriff Therapie auf seine älteste bezeugte Bedeutung zurück, tritt jedoch sein religiöser Kern deutlich hervor: Das griechische „therapeuein“ bedeutet zunächst die Götter verehren, der Gottheit dienen – und dann auch: besorgen, warten, pflegen, ärztlich behandeln und eben auch heilen, (wieder-)herstellen. Infolge einer zunehmenden wissenschaftlichen Welterklärung wurde Heilsein nicht mehr als ein ganzheitliches Erleben aufgefasst, sondern auf das rein Materiell-Messbare reduziert.

Parallel zum medizinischen Fortschritt verbreitete sich im 18. Jahrhundert der Heilmagnetismus von Anton Mesmer (1734-1815) in Europa, der von einer kausalen Verbindung der materiellen mit der geistigen Welt ausging und daraus konkrete Heilbehandlungen ableitete. Nach Mesmer ist das Weltall von einem „feinen, wellenartig wogenden Fluidum“ erfüllt, das er als Magnetismus bezeichnete. Diese Naturkraft durchdringe den gesamten Kosmos und wirke auf die Lebensfunktion sämtlicher Lebewesen ein. Eine Störung des Energieflusses im Körper sei die Ursache von Krankheiten. Mesmer wollte ihn mit der magnetischen Kraft seiner Hände wieder zum Fließen bringen.

Im 19. Jahrhundert entstand in den USA die Neugeist-Philosophie, die ebenfalls von der universellen Gegenwart einer göttlichen Kraft als schöpferischer Energie ausging, die alle Wesenheiten umschließe und verbinde. Sie betonte die Gottgleichheit des Menschen und seine schöpferische Kraft, die ihn zur Überwindung aller Übel und Krankheiten befähigen könne. Durch besondere geistige Techniken des Betens und Meditierens, durch Affirmationen und Visualisierungen soll diese Heilkraft allen Menschen zugänglich sein. Mary Baker Eddy (1821-1910) verband derartige Methoden mit eigenwilligen Deutungen biblischer Erzählungen und entwickelte dadurch die systematische Heilungslehre von „Christian Science“.

Auch in der chinesischen Medizin wird von einem unsichtbaren Energie- und Informationsfeld ausgegangen, das den Menschen umgebe und durchfließe. Die Meridian-Leitbahnen und die Chakren als Hauptverteiler für diese Schwingungen stehen demnach in einem ständigem Kontakt zur Erde und zum Kosmos. Die chinesische Medizin hat manuelle und geistige Wege der Beeinflussung dieses Energiefeldes entwickelt. Bei vielen heutigen Geistheilern sind die Quellen aus Natur- oder Hochreligionen, magischen Ritualen, imaginativ-suggestiven Techniken und Positivem Denken miteinander verschmolzen und oft nicht mehr einzeln zu identifizieren.

Erscheinungsformen

Schamanische Praktiken und ihr angebliches Wissen aus höheren, unsichtbaren Parallelwelten haben in Europa in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Mittels Trancetechniken sollen Informationen aus der unsichtbaren Welt der Ahnen und Geister zugänglich sein und durch rituelle Handlungen in der Gegenwart wirksam werden. Als eine Dialogplattform versteht sich das Münchner Institut für Ethnomedizin, das archaische Rituale und naturreligiöse Heilverfahren in Europa verbreiten will und unter anderem eine zweijährige Fortbildung in Ethnomedizin anbietet. Nach eigenen Angaben sind an diesem Netzwerk bereits 5000 traditionelle Heiler und internationale Wissenschaftler beteiligt.

Die meisten spirituellen Lebenshilfe-Angebote verwenden esoterische Heilverfahren. Mit Hilfe einer Energie oder Geisteskraft sollen Heilkräfte verfügbar gemacht werden. Medizinhistorikern zufolge kommt das Energiekonzept eines Fluidums, Chi oder Prana, das sich einer wissenschaftlichen Erfassung und Erklärung entzieht, in über 100 verschiedenen Kulturen vor. Man stellt sich einen „feinstofflichen“ Körper vor, ein den materiellen Körper umgebendes geistiges Kraftfeld, auf das heilend eingegriffen werden kann. Ganz praktisch wollen beispielsweise Reiki-Gruppen den kranken Wäldern durch Baum-Meditationen geistig-feinstoffliche Kräfte zuschicken oder selber bei gesunden Bäumen Energie „auftanken“. Dabei werden die Grenzen zwischen Materiellem und Geistigem bewusst überschritten. Auch kleinere weltanschauliche Gruppen wie anthroposophische Heilpraktiker und Ärzte oder Anhänger des Bruno-Gröning-Freundeskreises arbeiten mit Heilungspraktiken, die auf spezifischen esoterischen Geistverständnissen fußen.

Seit einigen Jahren existiert unter dem Namen „Dachverband Geistiges Heilen“ ein Zusammenschluss von Heilern und Heilerinnen, Heilerverbänden, Ärzten, Heilpraktikern und interessierten Laien. Hier sind derzeit 18 Mitgliedsvereine und über 4400 Einzelmitglieder mit verschiedenen Heilweisen und Weltanschauungen (z. B. zwei Reiki-Verbände, Interessengemeinschaft medial begabter Menschen, White Eagle Lodge) vertreten. Sie wollen über Möglichkeiten geistiger Heilweisen informieren und setzen sich für die Integration solcher Heilweisen in das Gesundheitssystem ein. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass Vereine und Verbände des Geistigen Heilens gezielt an Kirchen herantreten, um ihre Gedanken unter dem Dach der Kirche zu verbreiten.

Selten zuvor hat es in Deutschland eine solch große Anzahl von speziellen pfingstlich-charismatischen Heilungsgottesdiensten wie in den letzten Jahren gegeben: Benny Hinn, Charles Ndifon, Billy Smith und andere werben zum Teil gezielt damit, im Auftrag Gottes Kranke heilen zu können und dazu beauftragt zu sein. Allerdings ist zu fragen, ob solchen Krankenheilungen nicht suggestive Praktiken zugrunden liegen und ob ihre häufig nur kurzfristige Wirksamkeit nicht eher dem Placebo-Effekt zuzuschreiben ist. Theologisch ist die Auffassung zurückzuweisen, dass ein gezielter „Heilungsdienst“ um sofortige und „übernatürliche“ Genesung für alle Kranken Gottes Willen entspricht und zum Auftrag der Kirche gehört.

Einschätzung

• Kein Anspruch auf Heilung: Die Medizin steht heute in der Versuchung, einen optimierten, einen „perfekten“ Menschen mittels geeigneter Arzneimittel, Psychotechniken oder gar genetischer Eingriffe herstellen zu wollen. Mittlerweile hat sich bei vielen ein Anspruchsdenken eingenistet, das in der Gesundheit ein Grundrecht, nicht jedoch ein tägliches Geschenk sieht. Höchste körperliche und geistige Leistungsfähigkeit wird heute zur Norm erklärt, hingegen werden Schwäche, Leiden, Schmerzen und chronische Einschränkungen häufig nicht mehr akzeptiert. Die Erwartung gänzlicher Machbarkeit herrscht vor, die aber der menschlichen Natur widerspricht. Schon die zyklischen Wachstums- und Sterbeprozesse in der Natur erinnern daran, dass alles Leben der Vergänglichkeit unterworfen ist. Genauso sind der Körper und die Seele verletzbar und einem unvermeidlichen Abbau-, Alterungs- und Sterbeprozess ausgesetzt. Es gilt, sich mit seiner Endlichkeit zu versöhnen.

Gegenüber den Heilungsversprechen vieler Geistheiler sind die biblischen Befunde wohltuend wirklichkeitsnah und nüchtern. Krankheit ist Teil der gefallenen Schöpfung, ein mahnendes Merkmal der gestörten Schöpfungsordnung. Die Bibel hat dabei immer den ganzen Menschen im Blick. Denn die körperliche und seelische Gesundheit ist „nur“ ein Bereich des Menschen. Im Mittelpunkt steht nach biblischer Perspektive die persönliche Gottesbeziehung. Und die besteht unabhängig vom tadellosen Funktionieren des Körpers. Der langsame, aber unaufhaltsame körperliche Abbau erinnert den Menschen an seine Vergänglichkeit. Gott will sich dem Menschen mitteilen und ist ihm gerade auch in Zeiten von Krankheit und Not nahe. Dem gläubigen Menschen geht es primär nicht um seine Gesundheit, sondern um eine lebendige Gottesbeziehung. Diese kann sich gerade in Krankheitszeiten festigen und intensivieren.

• Zur Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf: Geistheiler verwenden besondere seelische Fähigkeiten und gruppendynamische Möglichkeiten, um außergewöhnliche Heilungen herbeizuführen. Das schwer zu fassende Gebiet geistiger Kräfte speist sich aus der Intuition, der Motivation, dem Willen, der Suggestion, dem Selbstbewusstsein und dem Vorstellungsvermögen. Aus christlicher Sicht lassen alle Lebenskraft-Vorstellungen die Unterscheidung zwischen geschaffener Welt samt darin vorkommender, auch geistiger Energien und dem Schöpfergott vermissen. Die ganze Welt ist Schöpfung Gottes, und die Materie wurde erst von Gottes Geist belebt (1. Mo 1). Die Erde und die menschliche Seele sind Räume, in die hinein der göttliche Geist wirkt und sich entfalten will. Der Wunsch, so wie Gott mit Schöpferkraft ausgestattet zu sein, ist anmaßend und hat nach biblischer Überlieferung zum Sündenfall geführt (1. Mo 3).

• Der Mensch als Ebenbild Gottes: Innerhalb des kreatürlichen Bereichs der Schöpfung ereignen sich immer wieder außergewöhnliche Heilungen, die nicht den naturgesetzlichen Erwartungen folgen. Weil der Mensch sowohl ein Natur- als auch ein Kulturwesen ist, lässt sich sein Entwicklungsweg schwer vorhersagen.

• Zum Heilungsauftrag der Kirche: Nach christlichem Verständnis ist die Gemeinde beauftragt zu heilen. Damit sind nicht spektakuläre Events gemeint, sondern in Gebeten im Kreis der Gemeinde können die Anliegen und Sorgen vor Gott gebracht werden. Es gibt bewährte Formen wie konkrete Fürbittgebete, das Ältestengebet, Segnungsangebote in Gottesdiensten und Krankensalbungen. Jesus gab seinen Jüngern den Auftrag, das Evangelium zu verkündigen und Kranke zu heilen. Diese Männer und Frauen kamen aus dem inneren Kreis der Gemeinde und wurden von der Gemeindeleitung zur Verkündigung und zum Gebet für Kranke beauftragt. Dieses Erbe wird heute in vielen Kirchengemeinden wiederentdeckt und reaktiviert. Allerdings ist damit nicht das Erlernen einer speziellen Gebetstechnik gemeint, sondern das Vertrauen auf Gottes Handeln, ein Vertrauen, das sich besonders aus Gebet und Vergebung speist. Heilungen sind zeichenhafte Hinweise auf das zukünftige Reich Gottes, in dem Krankheit, Leid und Tod endgültig überwunden sein werden.


Michael Utsch


Literatur

Baier, Karl, Meditation und Moderne, Würzburg 2009

Bittner, Wolfgang, Heilung. Zeichen der Herrschaft Gottes, Schwarzenfeld 2007

Ehm, Simone / Utsch, Michael (Hg.), Wie macht der Glaube gesund? Zur Qualität christlicher Gesundheitsangebote, EZW-Texte 199, Berlin 2008

Hempelmann, Reinhard (Hg.), Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne Esoterik, EZW-Texte 191, Berlin 2007

Ritter, Werner H. / Wolf, Bernhard (Hg.), Heilung – Energie – Geist, Göttingen 2005

Schneider-Flume, Gunda, Heilung durch den Glauben? In: MD 10/2009, 363-368

Utsch, Michael, Christian Science, in: MD 10/2008, 394-397

Utsch, Michael, Gebet als Glaubensmedizin? Überlegungen zu anmaßenden und angemessenen Gebetshaltungen, in: MD 1/2004, 3-11

Utsch, Michael, Zur Forschungs- und Rechtslage der Geistheilung, in: MD 5/2004, 191f

Walach, Harald, Verfahren der Komplementärmedizin. Beispiel: Heilung durch Gebet und geistiges Heilen, in: Bundesgesundheitsblatt 49 (2006), 788-795