Kai Funkschmidt

Geistvolle Stille - zu Besuch bei den Quäkern

Es dauert etwa eine halbe Stunde, bevor Billy es nicht mehr aushält und den Fremden zwei Bänke weiter vorne begrüßen will. Gemächlich schleicht er durch die locker gestellten Kirchenbänke nach vorne, schaut mich neugierig an – soweit das stoische Temperament eines Golden Retrievers Neugier zulässt –, legt schließlich die Schnauze auf mein Knie, wedelt unaufgeregt mit dem Schwanz und kehrt nach einem kurzen Streicheln zufrieden unter seine Bank zurück. Als pensionierter Blindenhund eines Gemeindeglieds ist er „einer unserer treuesten Besucher“, wie man mir später erklärt. Damit ist schon einer der Höhepunkte meines Quäkergottesdienstes berichtet. Denn Quäkerzusammenkünfte gehören zum Ruhigsten, was sich in christlichen Kirchen gottesdienstlich erleben lässt. Wobei hier „christlich“ unter Vorbehalt steht, verstehen sich Quäker doch trotz christlichen Ursprungs heute offiziell als religiös offene Gemeinschaft, in der auch Menschen anderen Glaubens Platz haben. Alles ist hier gedämpft, mit britischem Understatement gestaltet. „Meeting“ nennen die „Freunde“ – offizieller Name der Quäker ist „Society of Friends“ – ihre sonntäglichen Zusammenkünfte und „Meeting House“ ihre Kirche.

Als wir eine Dreiviertelstunde vorher, am Sonntagmorgen (9. August 2020) im nordenglischen Bainbridge vor dem unauffälligen Gebäude aus ortstypisch grauem Naturstein eingetroffen waren, hatte bereits ein gutes halbes Dutzend Frauen davorgestanden und diskutiert. Sollte der Gottesdienst drinnen oder coronabedingt draußen zwischen den Grabsteinen stattfinden? Eine etwa sechzigjährige Gottesdienstbesucherin war aus der Gruppe getreten, hatte sich als „Kirsteen“ vorgestellt und uns begrüßt. Ob wir zum Worship Meeting wollten, fragte sie. Nein, Quäker drängen sich niemandem mit ihrem Glauben auf. Erst nach einigen weiteren Drinnen-oder-draußen-Gesprächsgängen stellte man sich reihum (mit Vornamen) vor. Zunächst fragt niemand, woher wir kommen, die deutschen Namen verraten genug. Sofort nachzuhaken, wäre doch etwas arg neugierig. Erst viel später werden wir befragt und über Deutschlandurlaube und deutsche Schwiegertöchter ins Bild gesetzt werden. Immer wieder angenehm, diese in englischen Kirchen verbreitete freundich-aufmerksame Unaufdringlichkeit.

Zunächst plädiert jemand für die coronasichere Freiluftvariante, und mehrere Frauen stimmen zu. Es ist einfacher, zunächst einmal ein Votum zu unterstützen als zu widersprechen, besonders für Quäker. „Sieht aus, als sei die Mehrheit für draußen“, resümiert Kirsteen. Noch bevor ich mich wundern kann, erhebt sich von einigen Widerspruch: „Quakers don’t vote!“ Alle lachen. Natürlich: Quäker fällen Entscheidungen im Konsens, nicht durch Abstimmungen. Noch ist also alles offen, es kommen ja auch immer noch einige dazu. Auftritt Peter, um die 60 wie fast alle anderen (nur zwei Frauen scheinen deutlich älter zu sein). Jeans, Holzfällerhemd, imposanter Vollbart, langer grauer Zopf, breites Lächeln, fester Händedruck. Ein Bilderbuchfriedensaktivist der 1980er. Er weiß, was er will, und sagt es: nach drinnen. „Vielleicht eine Spur zu kalt hier draußen“, kommt Zustimmung. „Und der Verkehrslärm.“ In den Yorkshire Dales ist auch sonntagmorgens viel Verkehr, selbst in 500-Seelen-Dörfern. Yorkshire ist übrigens Ursprungsland der Quäker, dementsprechend oft kommt man an jahrhundertealten Meeting Houses vorbei.

Es wird einfach still

Nachdem also schließlich die irgendwie unmerklich konsensual entstandene Entscheidung für „drinnen“ steht, tröpfeln wir alle nach und nach hinein und verteilen uns. Vierzehn Frauen, vier Männer (einschließlich Verf.), ein Hund. Einen offiziellen Beginn gibt es nicht, es wird einfach still. Ein einfacher, fast quadratischer, schmuckloser Raum. Zweimal drei Reihen gepolsterter Holzbänke stehen sich gegenüber, in der Mitte ein niedriger Büchertisch, darauf eine Bibel, ein Band „Questions and Answers“ und fünf Ausgaben von „Quaker Faith and Practice“, einer Art Grundlagentext für quäkerisches Leben. Die Stirnwand besteht aus einer erhöhten Sitzreihe hinter einer dunklen Abtrennung, darüber eine schlichte Wanduhr – Chorgestühl, dächte man, wüsste man nicht, dass Quäker im Gottesdienst nicht singen. Die Eingangswand dunkel in edlem Holz getäfelt. Kreuz oder andere Symbole sehe ich nirgends. Alles wirkt gut in Schuss; das ist in englischen Kirchen aus Geldmangel keinesfalls die Regel. Tatsächlich, wird man mir später erklären, hat die Gemeinde trotz geringer Mitgliederzahl keine Geldsorgen. Das soziale Milieu ist vermutlich eher gehobene Mittelschicht.

Das Meeting besteht aus gemeinsamem Schweigen, gesprochen wird nur, wenn jemand vom Geist dazu bewegt wird. Dabei ist das Gemeinschaftliche wichtig, ich-bezogene Solomeditation ist nicht Quäkersache. Draußen in der Welt setzt sich der Gottesdienst in sozialem Engagement fort. Die soziale Praxis, das Engagement für Pazifismus, Umwelt, die Armen, ist überhaupt die Hauptsache im quäkerischen Selbstverständnis. Alltag ist Gottesdienst und umgekehrt. Alltagsmäßig sind übrigens auch fast alle gekleidet – nicht Sonntagsstaat, sondern praktische, warme und wetterfeste Sachen mit festem Schuhwerk.

An der Hoffnung festhalten

Nach fünf Minuten Stille ergreift Kirsteen als erste das Wort und berichtet, dass zwei abwesende Freunde zu Hause aus der Ferne an dem Meeting teilnehmen. Vermutlich noch keine geistgewirkte Mitteilung, sondern Gemeinde-News. Es folgt die erwartete Stille, in die sich der Ungeübte erstaunlich gut einfindet, denn die Atmosphäre ist entspannt. Gegenüber liest eine Frau in einem der Bücher, die meisten haben die Augen geschlossen, Billy hechelt, die eigenen Gedanken wandern, die Augen sammeln Eindrücke. Nach einer Viertelstunde ist es wieder Kirsteen die Lebhafte, die spricht. Zufall? Oder hat die propagierte Hierarchie- und Kleruslosigkeit der Quäker vielleicht doch ein wenig einer faktischen geistlichen Ämterordnung Platz gemacht? Sie liest ein Testimonial aus einer der Schriften vor. Ein oder zwei Minuten, mehr nicht. Bevor ich richtig aufhorche, ist sie fertig. Meine Gedanken waren noch woanders. Für Quäker sicher kein Problem. Der Geist wirkt ja als inneres Licht in jedem Menschen – das äußere Wort tritt dahinter zurück, zumal es eine Heilige Schrift ebenso wenig gibt wie Taufe, Abendmahl, Oster- oder Weihnachtsfeiern.

Wieder kehrt Stille ein. Fünfzehn Minuten später erhebt sich Sylvie und berichtet über eine Verwirrung, die sie beim Fernsehen erlebte – und plötzlich wird die Stimme des Geistes tagesaktuell politisch: Greta Thunberg hatte kritisch über die Mächtigen gesprochen, „die nur das Beste hoffen“. „I don’t want your hope. I want you to panic!“, hatte der schwedische Teenager gefordert. Sylvie kämpft nun offensichtlich darum, ihr Bild der bewunderten „Klimaaktivistin“ mit dem offensichtlichen Unsinn ihrer Äußerung übereinzubringen. Zum einen ist Panik natürlich keine sinnvolle Reaktion auf globale Herausforderungen. Zum anderen ist „Hoffnung“ für Quäker eine Schlüsselkategorie in ihrem geistlichen Leben. Ohne Hoffnung müsste man ja beim eigenen diakonischen und sozialen Handeln an den immensen Herausforderungen verzweifeln. Wie kann Greta das so abfällig beiseiteschieben? Vielleicht, so tröstet sie sich, meine diese ja etwas anderes mit „Hoffnung“ als sie, Sylvie. Jedenfalls wolle sie an der Hoffnung festhalten. Interessanterweise findet sich in dem drei- bis vierminütigen Statement keine Bezugnahme auf die Bibel, die sich dem christlichen Hörer doch so selbstverständlich aufgedrängt hätte.

Kurz nach Sylvie spricht noch eine dritte Frau, sehr kurz. Solche Beiträge, die sich auf einen unmittelbar vorausgehenden Beitrag beziehen, kommen häufig vor. Sie sind üblicherweise spirituell verstandene Ergänzungen oder Affirmationen, diskussionsartiger Widerspruch etwa wäre ganz undenkbar. Die Sprecherin greift die Themen „Hoffnung“ und „Klima“ auf. In der vergangenen Woche habe in den Abendnachrichten der BBC der Sprecher ein Wetterphänomen unzweideutig als Auswirkung des Klimawandels bezeichnet. Er habe nicht „vermutlich“ oder „nach Ansicht vieler Experten“ gesagt, sondern die Sache als Faktum dargestellt. Solche Anerkennung der Realität mache ihr Hoffnung. Damit haben wir genug Anstöße, um die letzte Viertelstunde in Stille zu verbringen. Pünktlich nach einer Stunde – typischerweise dauert ein Quäker-Meeting 60 bis 90 Minuten – schließt Kirsteen unsere Versammlung.

Wie nach einem Treffen bei Freunden

Der gemütliche Teil beginnt – im Freien. Man bedauert, wegen Corona könne man uns heute nur Stehkaffee aus Plastikbechern anbieten. Aber man nimmt sich viel Zeit, Fragen zu beantworten und die Gemeinde zu erklären. Ja, es gebe auch junge Leute und Kinder, aber die gingen manchmal ganz gerne in die anglikanische Kirche im Nachbardorf, denn die dortigen charismatischen „Happy Clappy“-Gottesdienste (von „to clap“ – klatschen) seien halt schöner für die Kinder. Umgekehrt finde man regelmäßig auch Pfarrer anderer Konfessionen an ihren freien Sonntagen in den Quäker-Meetings. Ein quäkertypisches unkompliziertes Miteinander ohne Konkurrenz. Und wie ich vermutete: Kirsteen und Peter haben beide als Elders (Älteste) offizielle Funktionen in der Gemeinde. Ob man es geistliches Amt nennt oder nicht – irgendeine Art Leitung entsteht in menschlichen Gruppen halt immer, und ganz anarchisch kommen auch Quäker nicht durch ihre Rituale.

Das Gefühl auf dem Fußweg durch die Felder zurück ins Nachbardorf: Ruhe, Ausgeglichenheit, die Vögel singen lauter, der Bach plätschert etwas lebhafter als auf dem Hinweg. Wie nach einem Treffen mit Freunden eben.1


Kai Funkschmidt, 01.11.2020

 

Anmerkungen

  1. Zurzeit kann man übrigens Quäker-Meetings auch online verfolgen: www.woodbrooke.org.uk/worship/faqs (Abruf: 21.10.2020).