Gesundheitsreform und Naturmedizin: Religiös-weltanschauliche Verbände machen mobil
Die neue Gesundheitsreform, auf die sich Regierungs- und Oppositionsparteien geeinigt haben, ist von kirchlicher Seite scharf kritisiert worden. So hat Präses Manfred Kock, Ratsvorsitzender der EKD, den Eindruck hervorgehoben, dass durch sie die sozial Schwächeren besonders belastet würden. Aber auch von anderer religiös-weltanschaulicher Seite her ist Kritik laut geworden, nämlich von spirituell motivierten Vertretern der so genannten Naturmedizin, welche durch die geplanten Maßnahmen massive Nachteile hinnehmen müsste. Mit der Ende September abgeschlossenen Unterschriftenaktion "Naturmedizin hilft" sollte der derzeitigen Gesundheitspolitik entgegengesteuert werden, derzufolge unter anderem nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel durch die gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr erstattet würden. Initiiert vom Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte e.V., vom Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren (ZÄN), von der Aktion für Biologische Medizin e.V. und anderen, hat die Aktion ca. 420000 Unterzeichner/innen gefunden. Ärzte- und Patientenverbände fürchten, dass die Naturarzneimittel und die nichtschulischen Therapierichtungen durch die geplante Gesetzesänderung gefährdet sind.
Namentlich die auf Rudolf Steiner zurückgehende anthroposophische Medizin hat sich in diesem Zusammenhang kritisch zu Wort gemeldet. Als Mitglied im Vorstand des Dachverbandes Anthroposophische Medizin äußerte Nikolai Keller in den Weleda Nachrichten Nr.231 (24f) die Überzeugung, die geplante Gesundheitsreform bedeute das Aufgeben des bisher in Deutschland geltenden Grundprinzips einer Pluralität von Therapierichtungen, was "eine traurige und irreversible historische Dimension" habe. Die Naturmedizin und damit auch die zu ihr zählende anthroposophische Medizin sei bedroht: Es bestehe die Gefahr, dass entsprechende Arzneimittel in einem schleichenden Prozess aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwänden, auch wenn sie auf Privatrezept und selbstbezahlt weiter verordnet werden könnten. "Das hätte dann letztlich zur Folge, dass - bei der Vielfalt der zugelassenen Arzneimittel und dem damit zusammenhängenden regulatorischen Aufwand - viele Arzneimittel nicht mehr marktfähig gehalten werden können." Dabei sei das Ganze gewissermaßen nichts anderes als ein politisches Experiment: "Es gibt weder therapeutische noch ökonomische Motive, denn die Auswirkung auf die Kosten des Gesundheitswesens sind de facto nicht nachweisbar."
Theo Stepp von der Redaktion der Weleda Nachrichten betont im Editorial desselben Heftes, der Begriff "Naturmedizin" verdecke den Umstand, dass es sich bei ihrer Komposition um eine Kulturleistung handele. Wenn nun im Rahmen der Gesundheitsreform alle entsprechenden Arzneimittel aus der Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen genommen würden, bedeute dies einen nicht zu unterschätzenden kulturellen Rückschritt mit unabsehbaren Folgen. Der viel zitierte Begriff der "Eigenverantwortung" bei den Patienten fordere das Gegenteil des Geplanten, nämlich die freie Wahl der Therapie unter gleichen Voraussetzungen.
Die von verschiedenen religiös-weltanschaulichen Seiten geäußerte Kritik an wesentlichen Maßnahmen der neuen Gesundheitsreform deckt mit Recht deren problematische Aspekte auf. Verdächtige Sprachspiele gehören dazu: Immer mehr durchschaut man jene Euphemismen, die die bevorstehenden Einschnitte den Betroffenen schmackhaft machen sollen. Schon der Begriff "Reform" ist irreführend, denn er klingt nach Fortschritt - und bezeichnet doch den sozialen Rückschritt. Weniger um den "Umbau" als vielmehr um zunehmenden Abbau des Sozialstaates geht es faktisch. Wer etwa für mehr "Eigenverantwortung" wirbt, meint in Wirklichkeit den Abbau von sozialer Verantwortung durch die Reicheren der Gesellschaft den Ärmeren gegenüber. Bezeichnenderweise ist das Postulat vermehrter "Eigenverantwortung" zuerst in der Diskussion um den Abbau von Leistungen der Krankenversicherung aufgetaucht - also im Blick auf Menschen, die oft eben nicht dafür "verantwortlich" zu machen sind, dass sie krank geworden sind. Sozial- und Naturmedizin-Verbände wie Verbraucherschützer haben Grund zu ihrem lauten Klagen: Leidtragenden soll nun per Reform noch mehr Leid in Gestalt leererer Geldbeutel aufgebürdet werden, auf dass andere Kassen voller würden. Gerade auch die angestrebte Senkung der Lohnnebenkosten wird dem Bundesvorsitzenden der Allgemeinen Ortskrankenkassen, Hans Jürgen Ahrens, zufolge "auf dem Rücken der Patienten und Versicherten erreicht". Der AOK-Chef hält die neue Gesundheitsreform schlicht für untauglich.
Die so genannte "Gesundheitsreform" mag angesichts der Kassenlage von gut gemeinten Motiven geleitet sein. Ob sie aber ihr Ziel, die Gesundheit in der Bevölkerung zu sichern und zu fördern, wirklich erreichen kann? Viele chronisch oder öfter Kranke dürften angesichts der diskutierten Pläne in Depression verfallen, zumal der Zugriff auf ihren Geldbeutel von Regierung und Opposition gleichermaßen befürwortet wird (und Depression ist nicht gesund)! Bedenken die Entsolidarisierungsplaner/innen hinreichend die sozial- und individualethischen Implikationen? Welche zusätzlichen Ängste und Verunsicherungen werden hier ausgelöst? Was bedeuten etwa 10 Prozent Eigenbeteiligung bei Arztkosten und Medikamenten nachgerade angesichts des Umstands, dass statistisch gesehen während des letzten Lebensjahres und besonders während der beiden letzten Lebensmonate die höchsten Kosten anfallen? Für den Staat doch wohl am Ende geringere Einnahmen bei der Erbschaftssteuer! Und sollte es - zynisch gesprochen - nicht immerhin die ihrerseits knapper werdenden Rentenkassen entlasten, wenn manch Ärmere sich nicht mehr die gewohnte medizinische Versorgung leisten können oder wollen und darum nicht mehr ganz so alt werden?
Die Gesunden schmerzt all das nicht - aber wer weiß schon, wie lange er gesund sein wird? Was haben im Übrigen selbst Gesunde davon, wenn die Kaufkraft der Gesellschaft infolge der Gesundheitsreform weiter abnehmen wird? Letzteres gilt gerade im Blick auf die inzwischen vermehrt geforderte "Bürgerversicherung", die zwar der Beamtenschaft und den Selbst-ständigen schmerzhafte Einkommensminderungen bescheren würde, aber allein schon wegen der dann auf entsprechend mehr Köpfe zu verteilenden Leistungen kaum einen nachhaltigen Effekt haben dürfte.
Es gibt in Deutschland viele Steuerschlupflöcher, die es zu schließen, Verwaltungskosten, die es zu dämpfen, Strukturen, die es zu vereinfachen gilt. Die leeren Kassen machen einen Umbau im Staat erforderlich - aber in welche Richtung, darum muss der hoffentlich geistreiche Streit gehen. Dass und wie sich religiös-weltanschaulich engagierte Körperschaften, Verbände und Personen hier zunehmend einmischen, werden die politischen Parteien wahrscheinlich am Ende ignorieren - aber um welchen Preis?
Werner Thiede, Erlangen