Glaubensrepublik Deutschland. Reisen durch ein religiöses Land
Matthias Drobinski/Claudia Keller, Glaubensrepublik Deutschland. Reisen durch ein religiöses Land, Verlag Herder, Freiburg i. Br. 2011, 200 Seiten, 16,95 Euro.
Wie religiös ist Deutschland? Das fragen viele. Es gibt Statistiken, die je nach Deutung eine wachsende Säkularisierung oder eine fast unüberschaubare Pluralisierung des Glaubenslebens nahelegen. Matthias Drobinski und Claudia Keller, Journalisten mit Schwerpunkt Kirchen und Religionen bei der Süddeutschen Zeitung bzw. beim Berliner Tagesspiegel, drehen die Frage leicht um: Wie ist Deutschland religiös? Ihr Buch liefert kluge und einfühlsame Porträts von Menschen, die auf ihre sehr persönliche Weise glauben. „Maria Anna ging in die radikale Einsamkeit, um Gott zu suchen. Johanna braucht dazu die Menge der Gleichgesinnten und Jürgen die Natur, nachts und bei Schneegraupel. Maximilian fand bei der Piusbruderschaft die Strenge im Glauben und die Form in der Liturgie; Agnes suchte das Gegenteil: die passende Religion zum Lebensgefühl“ (7).
Auf diese Weise betreten Leserinnen und Leser sehr verschiedene Glaubenswelten: vom verblassenden Volkskatholizismus in Bayern bis zur zögerlichen Patchwork-Religiosität der säkular aufgewachsenen Ostdeutschen, von der evangelischen Minderheitsgemeinde im Magdeburger Neubauviertel bis zur charismatischen Mega-Church in Stuttgart, von Muslimen, die in der zweiten Generation oder als Konvertiten die gemeinschafts- und identitätsstiftende Kraft des Islam für sich entdecken, bis zu höchst geschäftigen und geschäftstüchtigen Vermarktern der Yoga-Philosophie, von den drei Generationen einer jüdischen Familie bis zum prononciert agnostisch-atheistischen Ehepaar. Das Besondere dieser Porträts: Nicht amtliche Vertreter stellen ihre Religion vor, sondern höchst unterschiedlich und subjektiv glaubende Menschen. Ergänzt werden die Porträts durch kurze Reflexionskapitel der Autoren, die in behutsamen Analysen ein paar systematische Perspektiven zur jeweils besprochenen Glaubenswelt anbieten.
Die Bandbreite dessen, was Religion bedeuten kann, ist in diesen Beiträgen immens. Sie kann auf der einen Seite bestimmt sein vom unverkrampften Eintauchen in Gemeinschaft und Tradition, wie bei der jüdischen Familie Marcus. „Vor ein paar Jahren hat eine jüdische Freundin von ihrer spirituellen Suche erzählt. ‚Spiritualität‘? Miriam Marcus kommt das Wort schwer über die Lippen. ‚Was sollte das sein?‘ Sie hat lange darüber nachgedacht, ob bei ihr etwas nicht stimmt, weil sie noch nie nach Spiritualität gesucht hat. Dann ist ihr klar geworden: ich suche nicht danach, weil ich sie habe“ (143): nämlich im selbstverständlichen Befolgen der Traditionen und Rituale des Judentums, vom Schabbat bis zur Hochzeit ‚unter der Chuppa‘. „Sie brauche kein persönliches Verhältnis zu Gott, auch kein irgendwie geartetes Verschmelzen mit etwas Höherem, dem Universum oder so. Gott müsse sich ihr nicht offenbaren. ‚Das hat er schon getan, er hat sich meinen Vorfahren offenbart, das ist abgeschlossen.‘ ... Jüdischsein bedeutet, das Echo aus dieser Vergangenheit zu hören und sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen“ (143f). Am anderen Ende des Spektrums würde sich etwa das Yoga-Vidya-Zentrum in Bad Meinberg finden, das die Autoren als eine fernöstlich inspirierte Wellness-Oase erleben: „Religion und Spiritualität sind Dienerinnen des Wohlbefindens. Religion ist gut, wenn sie dir gut tut; tut sie das nicht, lass sie weg. Wir vertreten eine Lebensphilosophie, heißt es in Bad Meinberg, da sind die Riten und Bilder des Glaubens hilfreich, aber nicht notwendig. Viele, die hierher kommen, suchen genau das, eine Religion, die sich nicht aufdrängt“ (283). Ähnlich große Diskrepanzen wie zwischen den hier beschriebenen Formen von Religiosität finden sich im Übrigen innerhalb der Glaubensgemeinschaften selbst.
So lautet das Fazit des Buches im Nachwort: „Die Landschaften der Glaubensrepublik Deutschland sind zerklüfteter geworden, felsiger, das Liebliche ist seltener geworden. Die Gräben zwischen religiösen und säkularen Lebensformen haben sich vertieft. Konservative Katholiken und solche, die auf den Papst wütend sind, finden manchmal gar keine gemeinsame Sprache mehr, ebenso wenig strenggläubige und weltlich orientierte Muslime. Zugenommen hat auch die Hitze der Debatten zwischen den Aggressiven unter den Atheisten und den Gläubigen ... Religionsfragen sind Identitätsfragen geworden, umso mehr, als viele andere Identitätsfragen verschwunden sind ... Religion ist also wichtiger geworden in Deutschland, obwohl die Zahl der Gläubigen abgenommen hat“ (199).
Schon um dieser sensiblen Beobachtungen willen lohnt es sich, das Buch zu lesen. Solche Beobachtungen würde es freilich, meist in abstrakterer Form, auch woanders geben. Das Besondere an den Reportagen ist der subjektive Zugang, nämlich über die Subjekte der Religion, die Gläubigen. Den erfahrenen Journalisten ist es gelungen, intime Einblicke in persönliche Glaubenswelten zu vermitteln, ohne dabei respekt- oder distanzlos zu werden. Bewertungen vermeiden sie, was die Beobachtungen umso eindrücklicher macht. Kleine Ungenauigkeiten (Yoga Vidia statt Vidya, Bad Meinburg statt Meinberg) mindern den Nutzwert der Lektüre nicht nennenswert und das Lesevergnügen schon gar nicht. Als Reiseführer durch die Glaubenslandschaften Deutschlands ist das flüssig geschriebene Bändchen wärmstens zu empfehlen.
Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.