Michael Roth

Glück und Glücksversprechen

Wenn man „Glücksversprechen“ googelt, werden zwei Verbindungen vorgeschlagen „Glücksversprechen Werbung“ und „Glücksversprechen Sekten“.1 Im Unterschied zu dem Begriff „Glück“, der positiv besetzt ist, macht sich in der Verwendung des Begriffs „Glücksversprechen“ bereits eine kritische Reserve bemerkbar. Wer von „Glücksversprechen“ spricht, will in der Regel zum Ausdruck bringen, dass Glück nicht gewährt, sondern „nur“ versprochen wird. In der Tat versprechen Produktwerbung wie auch unterschiedliche Anbieter von religiösen oder spirituellen Gütern Glück: Zu erinnern ist etwa an Slogans wie „Kleine Preise machen glücklich“ (Plus), „Schrei vor Glück“ (Zalando) oder „Kauf Dich glücklich“ (Media Markt), aber auch an Buchtitel wie „Der Schlüssel zum Glück“ von O. S. Marden (2012), „Vom Glück des einfachen Lebens“ von Paulus Terwitte (2009) oder „Das andere Glück“ von Holger Finze-Michaelsen (2006).

Ist bereits die Tatsache zu kritisieren, dass überhaupt Glücksversprechen gemacht werden? Im Blick auf die Produktwerbung ließe sich eine solche prinzipielle Kritik noch vorstellen, etwa in dem Sinne, dass man kritisiert, dass in allen Formen der Produktwerbung, die ein Glücksversprechen beinhalten, suggeriert wird, dass das Glück durch ein käuflich zu erwerbendes Produkt erreicht werden könne. Aber trifft eine solche prinzipielle Kritik auch auf alle Anbieter von religiösen oder spirituellen Gütern zu? Oder müssen wir hier zwischen wahren und falschen Glücksversprechen unterscheiden? Kann man das aber, wenn nicht einmal zwischen wahrem und falschem Glück so leicht – eventuell überhaupt nicht – unterschieden werden kann? Man kann noch grundsätzlicher fragen, ob nicht die Tatsache, dass das Glück „reine Geschmacksache“ ist, es verbietet, etwas Allgemeingültiges über das Glück zu sagen.2

Ob sich etwas Allgemeingültiges über das Glück sagen lässt, was dann auch erlaubt, etwas Gehaltsvolles über Glücksversprechen zu sagen, kann nicht im Vorfeld der Überlegungen stehen, sondern muss in der Darlegung bewährt werden. Ich will einige Aspekte vom Glück beleuchten und damit eventuell auch ein Licht auf Glücksversprechen werfen. Meine These ist, dass jede Form des Glücksversprechens das Glück gefährdet, weil es den Blick von dem, auf das es ankommt, abzulenken droht.

Das Streben nach Glück

Bereits Aristoteles und Augustinus erkannten: „Alle Menschen wollen glücklich werden.“3 Das Glücklichseinwollen scheint zu den Konstanten menschlichen Daseins zu gehören; es zu übersehen bedeutet, den Menschen nicht angemessen im Blick zu haben.

Weil das Glücklichseinwollen zu den Konstanten menschlichen Daseins gehört, können wir zwar davon reden und uns darüber streiten, was Glück ist, wie wir unser Glück finden, aber doch wohl kaum darüber, ob sich das Glück überhaupt lohnt. Eine Aussage wie „Glücklichsein lohnt sich nicht“ würde uns entwaffnen. Dies verdeutlicht trefflich ein jüdischer Witz von einem Sohn, der seinem Vater eröffnet, er wolle Fräulein Katz heiraten. Der Vater meint: „Sie bringt nichts mit!“ Der Sohn erwidert, er könne nur mit ihr glücklich sein. Darauf der Vater: „Glücklich sein, und was hast du schon davon?“ Ein Witz – so erklärt Robert Spaemann – ist diese Anekdote deshalb, „weil ‚etwas von etwas haben’ so viel heißt wie: damit glücklich sein. Vom Glücklichsein kann man nicht noch einmal ,etwas haben’. Man müßte dann antworten: ‚Ja, was verstehst du denn unter: Was hast du davon?’“4 Das Glücklichsein ist daher nach Spaemann in gewissem Sinne ein „Letztes“.5 Auf die Frage „Warum soll ich glücklich sein wollen?“ könnten wir argumentativ kaum reagieren. Insofern ist Max Horkheimer zuzustimmen, wenn er das Streben nach Glück als eine „natürliche, keiner Rechtfertigung bedürftige Tatsache“6 versteht. Mit dem Glücksbedürfnis haben wir etwas Selbstverständliches vor uns, das sich von selbst und nur von selbst versteht.

Gehört das Glück auch zu den Konstanten des menschlichen Daseins, so scheint doch die Suche danach zugenommen zu haben. Bereits ein flüchtiger Blick auf den populären Zeitschriften- und Büchermarkt verdeutlicht, dass dieser sich seit gut eineinhalb Jahrzehnten konstant dem Thema „Glück“ widmet. Die Buchhandlungen sind gefüllt mit Glücksratgebern aus den unterschiedlichsten Bereichen, seien es Lebenshilfen aus dem Bereich der Esoterik, die mit den richtigen Lebenseinstellungen zur Erreichung des Glücks vertraut machen wollen, seien es ganz säkulare Ratgeber zum Essen, zum Sport oder zur Freizeit allgemein. Die glückliche Partnerschaft findet Aufmerksamkeit, ebenso Glück im Beruf, ja selbst in der Diät wird Glück zu finden versucht. Noch nie zuvor – so diagnostiziert Thomas Müller-Schneider in einer kultursoziologischen Zeitdiagnose bereits 2002 – haben sich so viele Menschen so intensiv auf die Suche nach Glückserlebnissen begeben.7 Insofern, so Müller-Schneider, leben wir in einer „Erlebnisgesellschaft“. Er greift somit einen von dem Soziologen Gerhard Schulze geprägten Terminus auf, mit dem eine auf Genuss ausgerichtete Konsumgesellschaft bezeichnet wird, die in besonderem Maße von hedonistischen Werten gekennzeichnet ist.

Wie sieht es aber mit dem Erfolg der Glückssuche aus? Dem Glück scheint eine gewisse Widerspenstigkeit eigen zu sein, insofern es sich einfach „einstellt“ und sich dabei unserem Zugriff entzieht. Das Glück stellt sich – wie Dieter Thomä formuliert – ein, „ohne um Einwilligung zu bitten, ohne sich z. B. um die Frage zu scheren, ob es angesichts der Umstände angebracht ist“8. Es durchkreuzt unsere Pläne und Strategien, größtmögliches Glück zu erreichen. So ist nicht selten zu bemerken, dass wir durch die Erfüllung unserer Wünsche, von der wir uns doch Glück versprochen hatten, nicht glücklich werden, während uns das Glück in Situationen begegnet, in denen wir es nie erwartet hätten. Das Glück scheint unverfügbar zu sein, sich in nicht kontrollierbarer Weise „einzustellen“ oder eben „auszubleiben“. Vor allem aber – und hierin liegt ein weiterer wesentlicher Aspekt des Glücks – stellt es sich ein, ohne danach zu fragen, ob wir gerade auf der Suche nach ihm sind. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Die Erfahrung des tiefen Zufriedenseins und der Freude stellt sich gerade dann ein, wenn wir nicht mit der Frage beschäftigt sind, wie wir Glück erlangen können, sondern ganz von uns und der Frage, wie wir des Glückes habhaft werden können, absehen. Die Suche nach dem Glück scheint der beste Weg zu sein, es zu verfehlen.

Diesem Phänomen wurde vielfach Ausdruck verliehen. So formuliert Dieter Thomä: „Diejenigen, die ihm [dem Glück] um so hartnäckiger nachjagen, bemerken nicht, daß sie es nur weiter vor sich her und von sich weg treiben.“9 Ganz ähnlich beobachtet Robert Spaemann: „Derjenige, der Lustgewinn, subjektives Wohlbefinden zum Thema seines Lebens und zum Ziel seines Handelns macht, wird jene tiefere Weise des Wohlbefindens, die wir Freude nennen, gar nicht erfahren.“10 Und auch Bertrand Russel macht darauf aufmerksam, dass das Glück gerade dann erzielt wird, wenn wir von der ruhelosen Selbstbetrachtung absehen und den Dingen selbst die ihnen gebührende Aufmerksamkeit schenken: „Sofern es sich nicht um ausgesprochen unglückliche äußere Verhältnisse handelt, müsste jeder Mensch, der seine Neigungen nach außen statt nach innen lenkt, sich ein Glück aufbauen können. – Wir sollten uns daher sowohl in der Erziehung wie bei unseren Anpassungsversuchen an die Welt bestreben, egozentrische Neigungen zu vermeiden und solche Gefühle und Interessen pflegen, die unsere Gedanken von der stetigen Beschäftigung mit uns selber abziehen.“11 Ganz offensichtlich lässt sich das Glück „nicht direkt als Handlungsziel ansteuern; man wird von ihm vielmehr ereilt, es stellt sich ein, und die Tätigkeit des Menschen muß sich im Hinblick auf das Glück damit bescheiden, bloßes ‚Zutun’ zu sein“.12 Damit eignet der Glückssuche eine gewisse Tragik; demjenigen, der sich auf die Suche nach dem Glück begibt, scheint es sich gerade zu entziehen. Warum ist das so?

In der Gegenwart leben

Was ist Glück? Der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi konnte durch seine jahrzehntelangen Forschungen zeigen, dass Menschen am zuverlässigsten ein Gefühl der Freude und der tiefen Zufriedenheit erleben, wenn sie in einer Tätigkeit „aufgehen“. Diesen Zustand bezeichnet er als „flow“.13 Offenkundig sind wir in dem Maße in der Lage, Glück zu erleben, in dem wir uns den Dingen des Daseins hingeben können. Wenn wir bei einer Tätigkeit ganz bei der Sache sind und eben nicht mit unseren Gedanken über die Sache hinausschielen, ist unser Blick weder auf uns selbst noch auf ein übergeordnetes Projekt gerichtet, sodass wir von den Anmutungsqualitäten der Dinge ergriffen und von ihnen mitgerissen werden können.

Damit rückt die Gegenwart in den Fokus unserer Aufmerksamkeit.14 Glück ist zu finden in der Gegenwart, im gegenwärtigen Sich-bestimmt-sein-Lassen durch das Dasein. Offensichtlich verfehlen wir das Glück, wenn wir uns der Gegenwart verschließen, weil wir mit der Vergangenheit beschäftigt oder auf die Zukunft fixiert sind. In diese Richtung formuliert auch Gerd Haeffner: „Was heißt: in der Gegenwart leben? … Eine negative Antwort ist leicht gegeben: nicht in der Gegenwart lebt einer, der in der Vergangenheit oder in der Zukunft lebt, nicht in der Gegenwart lebt einer, der in der Phantasie statt in der Wahrnehmung lebt.“15 Haeffner macht deutlich, dass wir unfähig sind, uns dem Gegenüber und seiner Präsenz zu öffnen, wenn wir uns nicht in der Gegenwart aufhalten.16 In dem Maße, in dem wir uns der Gegenwart verschließen, verpassen wir das Glück. Und wir verschließen uns der Gegenwart, wenn wir sie zum „Noch-Nicht“ degradieren. Die Gegenwart ist nicht einfach „Sprungbrett zur Erreichung von etwas, was es noch nicht gibt“17, sondern das Erleben von Glück verlangt, dass wir die Gegenwart als das Eigentliche ernst nehmen und nicht als etwas, das es zu instrumentalisieren gilt für einen übergeordneten – in der Zukunft liegenden – Zweck.

Ich fasse zusammen: Glücklich sind wir, wenn wir Dinge deshalb intendieren, weil sie so sind, wie sie sind. Und wir tun dies, weil wir von ihrer Anmutungsqualität ergriffen sind. Wir lassen los und werden bestimmt von den Dingen. Insofern können wir Rüdiger Bittner zustimmen, wenn er darauf verweist, dass es darauf ankommt, „Versuchungen zu unterliegen“18. Wer Versuchungen nicht zu erliegen vermag, wird Glück nicht erleben können. Bittner ist auch darin zuzustimmen, wenn er davon spricht, dass wir beim Glücklichsein die Dinge nicht „unter Kontrolle“ haben, sondern dem „hingegeben sind“, worauf wir treffen.19 In dem Maße, in dem wir versuchen, die Wirklichkeit unter Kontrolle zu bringen, verschließen wir uns ihr.

Das Scheitern von Glücksprogrammen

Wenn das Glück im passiven Bestimmtwerden besteht, dann müssen Glücksprogramme zwangsläufig scheitern. Insofern wir im Erleben von Glück von den Anmutungsqualitäten der Dinge ergriffen sind, liegt im Glück ein passives Moment. Gerade dieses wird durch die „Programme zur Erlangung von Glück“ zerstört: Sie sind Strebensmodelle, weil sie dem Menschen ein Ziel oder einen Zweck anempfehlen, wohin er unterwegs sein soll (präziser: unterwegs sein wollen soll). Gerade durch diese wohlgemeinte Empfehlung aber verunmöglichen sie das Glück, das verlangt, dass wir bei der konkreten Sache sind.

An dieser Stelle sei ausdrücklich bemerkt, dass diese Kritik an Strebensmodellen nicht falsch verstanden werden darf, in dem Sinne etwa, dass jede Form des Strebens, das etwas zu einem Mittel für einen übergeordneten Zweck macht, zu kritisieren sei. Wer andere zu einem Essen einlädt, weil er Freude daran hat, mit Freunden zusammenzusitzen, der wird einkaufen gehen müssen, selbst dann, wenn er daran kein Vergnügen empfindet. Wer Tennis spielen will, braucht einen Schläger, Bälle und Tenniskleidung. Er muss also Vorkehrungen treffen. Und es kann ihm passieren, dass er – entgegen seiner Gewohnheit und v. a. entgegen seiner unmittelbaren Neigung – an seinem freien Tag früh aufstehen muss, um eine Platzreservierung vorzunehmen. Aber er muss das Tennisspielen nicht wiederum einordnen, etwa in eine Sicht des gelingenden Lebens, die es ihm gebietet, sich auch körperlich zu ertüchtigen, weil das zu seiner Entfaltung als leib-geistiges Wesen dazugehört. Natürlich ertüchtigt sich derjenige, der Tennis spielt, auch körperlich, aber er muss dies nicht zum Ziel seines Handelns erklären, sondern darf sich eingestehen, dass der Grund dafür, Tennis zu spielen, schlicht und einfach der ist, dass es eben so ist, wie es ist, wenn man Tennis spielt. Er muss das Tennisspielen nicht über Gebühr „aufladen“. Es geht also keineswegs darum, den Strebensmodellen ein Modell entgegenzuhalten, in dem wir uns ausschließlich der Gegenwart hingeben. Es geht um die Frage, wie es möglich ist, sich (auch) der Gegenwart hinzugeben. Es macht einen erheblichen Unterschied aus, ob wir im Leben nach diesem oder jenem streben, was immer Mittel zu seiner Realisierung bedarf, oder ob das gesamte Leben auf ein Strebensziel hin orientiert wird, das alles Einzelne nur als Mittel für dieses Strebensziel in den Blick kommen lässt. Vor allem macht es einen Unterschied aus, ob wir einzelne „Um-zu“-Verhältnisse nüchtern sehen können oder ob wir sie wiederum in noch größere Zusammenhänge einordnen müssen. Die Frage ist, ob wir uns hingeben können, weil wir den Kairos zu entdecken und zu nutzen in der Lage sind, aber auch, ob wir erkennen können, wann selbstvergessene Hingabe an eine Sache gerade nicht möglich ist, weil es Angelegenheiten gibt, die wir tun müssen, auch wenn es uns unmittelbar nicht affiziert. Es ist nötig, die (lustvolle) Hingabe von der (verbissenen) Sucht zu unterscheiden, die nicht die rechte Zeit erkennt und daher mit den Anforderungen des Lebens in Konflikt gerät.

Glück können wir erleben, wenn wir uns von der Gegenwart bestimmen lassen können. Ist das denn möglich? Im Blick auf unsere Überlegungen wird man zunächst auf die Frage eine ernüchternde Antwort geben müssen: Möglich im Sinne von „durch unser Tun aktiv herbeiführbar“ ist das Erleben von Glück nicht. Der Rat „Ergreife das Hier und Jetzt!“ ist ein schlechter Rat; denn es unterliegt nicht unserer Verfügungsgewalt, ob wir das „Hier und Jetzt“ ergreifen können. Glück kommt zustande, wenn wir bestimmt werden durch das Dasein, wenn wir von seiner Anmutungsqualität ergriffen werden. Das geschieht, wenn wir ganz bei der Sache sind, wenn wir etwas aus keinem anderen Grund tun als dem, weil es so ist, wie es ist, es zu tun. Wir können uns nicht dazu bestimmen, bei der Sache zu sein, weil wir nur bei der Sache sind, wenn es uns um eine konkrete Sache geht und nicht um das Bei-der-Sache-Sein. Wir können auch sagen: Das Bei-der-Sache-Sein ist kein Bestimmungsgrund unseres Handelns, sondern eine Beurteilungsperspektive.

Die Voraussetzungen, Glück zu erleben, können wir nicht willentlich schaffen. Glück wird ermöglicht durch Voraussetzungen, die nicht in der Willensentscheidung der Person liegen, sondern die den Willen der Person bestimmen und Intentionen generieren. Die Voraussetzungen für die Fähigkeit, im Bestimmt-Werden durch die Gegenwart Glück erleben zu können, können wir nicht durch unser Streben erreichen, sie lassen sich nicht zu Aufgaben machen, die wir erfüllen müssen, sondern sie gehören zu den Gaben, die uns zuteilwerden müssen. Was befähigt uns dazu, uns affiziert sein zu lassen von den Anmutungsqualitäten der Wirklichkeit? Was lässt uns davon absehen, um uns selbst zu kreisen und zu fragen, wie wir uns selbst verwirklichen können, wie wir unsere Selbstbestimmung durchsetzen können oder wie wir Deutungshoheit über die Wirklichkeit gewinnen können? Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, inwiefern im Lebensvollzug des Glaubens eine Antwort auf diese Fragen gelebt wird. Dazu werde ich mich der Schöpfungslehre zuwenden und diese auf unser Thema hin zuspitzen.

Zusage und Vertrauen

Bei der Überlegung, inwiefern der Glaube befähigt, sich den Dingen des Daseins hinzugeben, mag sich die Frage stellen, ob das Leben in der Gegenwart, das Ganz-bei-der-Sache-Sein nicht ein Widerspruch zum Ganz-bei-Gott-Sein ist. Werden die Dinge des Daseins nicht vergötzt, wenn es um die Dinge selbst geht, wenn wir sie nicht für einen höheren Zweck in Gebrauch nehmen?

Luthers Auslegung des ersten Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses „Von der Schöpfung“ im Kleinen Katechismus zeigt einen Umgang mit den Dingen des Daseins, der jenseits von angstbesetzter Verachtung und selbstsüchtiger Vergötzung steht: „Der erste Artikel von der Schepfung. Ich gläube an Gott, den Vater allmächtigen, Schepfer Himmels und der Erden. Was ist das? Antwort. Ich gläube, daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturn, mit Leib und Seel, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hofe, Weib und Kind, Acker, Viehe und alle Güter, mit aller Notdurft [gemeint: notwendigen Bedarf] und Nahrung dies Leibs und Lebens reichlich und täglich versorget, wider aller Fährlichkeit beschirmet und für allem Ubel behüt und bewahret, und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schüldig bin; das ist gewißlich wahr.“20

Sehen wir den Text genauer an, so fällt zunächst auf, dass Luther die Gegenwart des Schöpfers und die Gegenwärtigkeit seines Handelns hervorhebt. Nach dem Einsatz mit dem Perfekt („geschaffen hat“) wird nur noch das Präsens gebraucht: „erhält“, „versorget“, „beschirmt“, „behütet und bewahrt“. So betont Oswald Bayer in seiner Auslegung des Schöpfungsglaubens im Kleinen Katechismus: „Der Wechsel des Tempus im Gefälle zum Präsens hin ist überaus aufschlussreich für Luthers Glauben an Gott den Schöpfer. Der ist ihm nämlich kein deus otiosus, kein müßiger, untätiger Gott, der seine Hände in den Schoß legt, wie es die Götter Epikurs tun, sondern der deus actuosissimus, der auch in seiner Ruhe lebendige und tätige.“21 Jeder deistischen Vorstellung – einem Bestreiten jeglicher Beziehung Gottes zur Welt – ist damit durch Luther gewehrt: Für Luther ist entscheidend, dass der Schöpfer seine Schöpfung „noch erhält“ und „täglich“ für sie „sorgt“.

Die Betonung der Gegenwart des Schöpfers und der Gegenwärtigkeit seines Handelns steht in engem Zusammenhang mit einer zweiten Auffälligkeit: Der in dieser Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses Redende isoliert sich nicht, indem er distanziert über „etwas“ redet, sondern er macht sich selbst zum Thema: „Ich gläube, daß mich Gott geschaffen“, „mir Leib und Seel …“, „ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit“, „des alles ich ihm zu danken …“ Kommt im Text des Apostolischen Glaubensbekenntnisses der Glaubende nicht vor und werden nur die puren Fakten dargestellt („Ich gläube an Gott, den Vater allmächtigen, Schepfer Himmels und der Erden“), so bezieht die Auslegung (eingeleitet mit „Was ist das?“) diese Fakten auf das Leben des einzelnen Glaubenden: „Das ‚Was ist das?‘ heißt soviel wie: ‚Was macht das mit dir?‘“22

Man würde Luthers Auslegung verkürzen, wenn man hier Aussagen über die Welt gemacht sähe, gar solche über den Anfang der Welt, von denen derjenige, der das Bekenntnis spricht, bekundet, dass er sie für wahr hält. Vielmehr bringt sich hier ein Lebensvollzug zur Sprache, der die wahrgenommene Welt auf sich bezieht, um sich in ihr zu finden. Die gesamten Lebensbereiche des Menschen, seine ihn konstituierenden Sphären des Handelns, werden als Gaben der Schöpfung verstanden. Dies wird auch deutlich an der – an die Listensprache der alttestamentlichen Weisheit erinnernde – Aufzählung der einzelnen Schöpfungsgaben. Dabei ist durchaus nicht an eine wissenschaftlich korrekte Benennung gedacht. Vielmehr ist „[e]ine klare Auswahl ... getroffen; die Begriffsreihen bieten Lücken und werden durch die Phantasie dessen, der den Text spricht und hört, individuell ergänzt ... Die Aufzählung beginnt jeweils mit konkreten Begriffen; nachdem die Reihe begonnen und die Phantasie in Bewegung gesetzt ist, kann, im Gebrauch abstrakter Begriffe, summarisch abgeschlossen werden, ist doch das eigene Weiterdenken eröffnet.“23 Der in das Bekenntnis einstimmende Mensch ist eingeladen, sich in der wahrgenommenen Welt – je auf seine Weise, innerhalb seines konkreten Ortes – zum Ausdruck zu bringen.

Eine dritte Auffälligkeit will bedacht werden: die Formulierung „ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit“. Diese Formulierung überrascht im Kontext der Rede von der Welt als Schöpfung; sie hat ihren Ort in der Rechtfertigungslehre, in der die Annahme des Menschen ohne seine eigenen Leistungen, Fähigkeiten und Qualitäten thematisiert wird. Es besagt Entscheidendes für ein Schöpfungsverständnis, wenn es zu seiner Artikulation ausdrücklich zur Sprache der Rechtfertigung greift: Meine Herkunft und die Gewährung der Gegenwart sind ungeschuldet, freies Geschenk. Auch die Gabe der Schöpfung ist nach Luther allein Gottes Werk, insofern auch die Gewährung von Leben von menschlichem Verhalten unabhängig gemacht wird.

An die Schöpfung glauben, bedeutet nicht zu glauben, dass die Welt „von anderwärts her ist”24, sondern auf die Welt als mir zugesagtem Lebensraum zu vertrauen und die Gegenwart als für mich gegeben wahrzunehmen. Der in dieser Weise von der Schöpfung sprechende Mensch versteht sich eben nicht (bloß) als Element innerhalb eines (von Gott in Gang gesetzten) Naturzusammenhanges,25 sondern begreift die Welt als ihm persönlich zugesagt und daher die Gegenwart als den ihm von Gott eröffneten Möglichkeitsraum des Handelns. Der Schöpfungsglaube ist das gelebte Vertrauen darauf, dass ich angenommen bin als der, dem das Leben „ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit“ zugesagt ist. Mit dem Glauben an die Welt als Schöpfung Gottes ist daher einer bestimmten Form der Wahrnehmung der Gegenwart Ausdruck gegeben. Das Wahrnehmen des Gewährten im Nehmen, Essen und Leben – das ist Glaube.

Ich komme auf die eingangs des Kapitels gestellte Frage zurück: Die Dinge des Daseins um ihrer selbst willen zu begehren und zu genießen, ist aus dem Grund keine Absage an Gott, weil Gott die Dinge des Daseins genau zu diesem „Zweck“ bestimmt hat. Es geht nicht darum, das Endliche in irgendeinem Unendlichkeitsgelüste dem Unendlichen dienstbar zu machen, sondern im Endlichen wird das Unendliche genossen, weil sich das Unendliche im Endlichen gibt: Nimm hin und iss! Die Ehre des Unendlichen findet nicht anders statt als so, dass das Endliche als Endliches und um seiner selbst willen genossen wird. Das Vertrauen auf Gottes Zusage lässt uns die Dinge um ihrer selbst willen annehmen.

Besonders eindrucksvoll kommt Luthers Auffassung des Vertrauens als Ermöglichung zur Hinwendung zur Welt zum Ausdruck, wenn er in seiner Schrift „Vom ehelichen Leben“ davon spricht, dass Gott lacht, wenn der Mann für sein Kind die Windeln wäscht und dieser Tätigkeit ganz hingegeben ist.26 Ein unglaubliches Bild! Gott schaut auf den Mann, der aufgrund seiner Liebe zu seinen Kindern die Windeln wäscht – und lacht! Hier ist kein Gott, der neidisch auf den Menschen, der ganz bei der Sache ist, blickt und sich in dieser selbstvergessenen Aktivität des Menschen um seine Ehre gebracht sieht, weil der Mensch nicht ganz bei Gott ist. Im Gegenteil: Gott lacht, wenn der Mensch ganz an das Dasein hingegeben ist, ganz hier aufgeht. Gott lacht, wenn der Mann ganz dem Wohl und der Freude an seine Kinder hingegeben ist. Gott lacht, wenn der Mensch die Kinder um ihrer selbst willen liebt; er bedarf es nicht, dass sich der Mensch verlogen einredet, diese im Blick auf ein höchstes Gutes zu lieben, dass er seine Kinder bloß „gebraucht“ für die fruitio Dei. Gott gibt sich selbst in den Kindern und daher fragt er sich bei seinem Blick auf den ganz der Sache hingegebenen Mann nicht: „Wo komme ich hier eigentlich vor?“ Jede heidnische Angst, die den Neid und die Eifersucht der Götter fürchtet, ist fehl am Platz. Gott sieht, dass im Ja zu dem Kind, dem sich der Mensch hingibt, das Ja der Wirklichkeit insgesamt erlebt wird, das in, mit und unter den Dingen (und natürlich auch Menschen) des Daseins gegeben ist.

Der Schöpfungsglaube ist das Vertrauen auf die in, mit und unter den Dingen des Daseins gegebene Zusage Gottes: Für dich gegeben! Die Welt als Schöpfung zu preisen heißt, dieser Zusage zu vertrauen und im Vertrauen auf diese Zusage befähigt zu sein, in der Gegenwart zu leben; denn dieses Vertrauen lässt die in der jeweiligen Gegenwart eröffneten Möglichkeiten des Daseins als zugesagt erleben – zugesagt zur lustvollen Hingabe an sie.

Fazit

1. Wir sind glücklich, wenn wir von der Anmutungsqualität der Dinge ergriffen werden und wenn es uns gelingt, ganz bei der Sache zu sein.

2. Wir können uns nicht dazu bestimmen, bei der Sache zu sein, weil wir nur bei der Sache sind, wenn es uns um eine konkrete Sache geht und nicht um das Bei-der-Sache-Sein.

3. Die entscheidende Frage ist, was uns befähigt, Versuchungen zu erliegen und uns reizen zu lassen von den Anmutungsqualitäten der Wirklichkeit. Es geht somit gerade nicht um ein Sich-Bestimmen zu diesem oder jenem, sondern um das radikale Sein-Lassen. Dieses radikale Sein-Lassen kann aber nicht Gegenstand unseres Strebens sein, auch nicht eine Vision, auf die sich unser Streben richtet. Das radikale Sein-Lassen ist nur als Unterbrechung unseres Strebens möglich.

4. Im Lebensvollzug des Glaubens wird eine Antwort auf diese Frage gelebt. Im Vertrauen auf Gottes Zusage wird der Mensch frei für die Gegenwart, für das alltägliche Leben. Dem Glauben eignet keine Sehnsucht nach metaphysischen Hinterwelten, ihm eignen keine Unendlichkeitsgelüste, sondern „Sinn und Geschmack fürs Endliche“. Das Unendliche gibt sich im Endlichen, nicht am Endlichen vorbei! Christus bekehrt zur Welt.

Wir sind von der Beobachtung ausgegangen, dass, während das Wort „Glück“ ein positiv besetzter Begriff ist, dies für den Begriff „Glücksversprechen“ nicht gilt, dieser vielmehr signalisiert, dass in dem betreffenden Zusammenhang über Glück getäuscht werde. Beruht – so lautete unsere eingangs gestellte Frage – jedes Glücksversprechen auf Täuschung? In gewisser Weise ja, denn sie hält den Glückssucher in seiner Suche nach Glück fest und damit fern vom Glück. Ein Glücksversprechen verführt dazu, auf das Glück zu schielen und damit an den alltäglichen Dingen vorbeizuschauen, auf die es ankommt und die das Glück ganz still und unauffällig mit sich führen.


Micheael Roth


Anmerkungen

  1. Internetrecherche vom 1.3.2016.
  2. Vgl. hierzu Michael Roth, Zum Glück. Glaube und gelingendes Leben, Gütersloh 2011, 11ff.
  3. Vgl. Augustinus, Conf. X, 21, 31; EN I, 6, 1098a.
  4. Robert Spaemann, Die Zweideutigkeit des Glückes, in: ders. u. a., Zweckmäßigkeit menschlichen Glücks, Bamberg 1994, 15.
  5. Ebd., 16.
  6. Max Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, in: Zeitschrift für Sozialforschung 2 (1933), 31.
  7. Vgl. Thomas Müller-Schneider, Eine kultursoziologische Diagnose der Glückssuche, in: Katechetische Blätter 127 (2002), 164f.
  8. Dieter Thomä, Vom Glück in der Moderne, Frankfurt a. M. 2003, 29.
  9. Ebd., 269.
  10. Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 72004, 38.
  11. Bertrand Russel, Eroberung des Glücks, Frankfurt a. M. 1977, 167.
  12. Thomä, Vom Glück (s. Fußnote 8), 142.
  13. Mihaly Csikszentmihalyi, Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 122005.
  14. Vgl. Michael Roth, Glaube und Schönheit? Bemerkungen zur Bedeutung der Gegenwart, in: B. Vogelsang (Hg.), Schönheit des Glaubens. Zwischen Beobachten und Erleben, Münster u. a. 2011, 11-33.
  15. Gerd Haeffner, In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens, Stuttgart u. a. 1996, 7.
  16. Ebd., 159.
  17. Ebd., 165.
  18. Rüdiger Bittner, Aus Gründen handeln, Berlin/New York 2005, 199.
  19. Ebd., 198.
  20. BSLK, 510f.
  21. Oswald Bayer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 21990, 98f.
  22. Notger Slenczka, Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, 34.
  23. Bayer, Schöpfung als Anrede (s. Fußnote 21), 96.
  24. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, neu hg. von M. Redeker, Berlin 71960, § 4,3.
  25. Gegen Schleiermacher, ebd., § 46,2, § 47.
  26. WA 10/II, 296, Z. 27 – 297, Z. 4.