Go west. Humanistische Lebenskunde bald bundesweit?
(Letzter Bericht: 12/2007, 465f) Seit vielen Jahren bietet der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) in Berlin das freidenkerisch geprägte Unterrichtsfach Humanistische Lebenskunde an. Mit derzeit knapp 45 000 teilnehmenden Schülern hat sich das Fach fest etabliert. (Zum Vergleich: In Berlin besuchen etwa 90 000 Kinder den evangelischen und etwa 25 000 den katholischen Religionsunterricht.) Inzwischen gibt es das Fach auch im Bundesland Brandenburg. Der HVD hatte im Dezember 2005 die Einführung vor dem Brandenburger Verfassungsgericht erstritten. Damals hatte die Kammer festgestellt, dass die einseitige Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Schulgesetz nicht mit der Landesverfassung vereinbar ist (vgl. MD 2/2006, 70f).
Es war nur eine Frage der Zeit, bis der HVD auch in weiteren Bundesländern auf die Einführung von Lebenskunde drängt. Erste Bemühungen unternahm man in Nordrhein-Westfalen. Im Sommer 2007 hat aber das zuständige Ministerium für Schule und Weiterbildung einen entsprechenden Antrag abgelehnt. Zur Begründung trug das Ministerium vor, dass das NRW-Schulgesetz und die Landesverfassung lediglich Religionsunterricht und keinen Weltanschauungsunterricht vorsehen.
Ähnlich hatten damals auch die Brandenburger Behörden argumentiert. Der HVD, der in NRW als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert ist, drängt jedoch auf Gleichbehandlung mit den Kirchen. Er bemängelt: „Während an den Schulen ein konfessioneller Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach eingerichtet ist, wird dem Verband die gleichberechtigte Einrichtung des Weltanschauungsunterrichts Humanistische Lebenskunde verweigert.“
Ende November 2007 hat der HVD nun Klage beim Verwaltungsgericht Düsseldorf eingereicht. In einer Presseerklärung erläutert er seine Position wie folgt: Nach Artikel 3 und 4 des Grundgesetzes darf niemand wegen seiner Religion oder Weltanschauung bevorzugt oder benachteiligt werden. Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat muss Weltanschauungsgemeinschaften und Religionsgemeinschaften gleich behandeln (Artikel 140 GG in Verbindung mit Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung). Schließlich verbietet auch Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention jegliche Diskriminierung wegen Weltanschauung oder Religion bzw. wegen der Abwesenheit derselben. Der HVD ist zuversichtlich, dass das Land NRW auf gerichtliche Anordnung diese „grundgesetzwidrige Diskriminierung“ beenden muss und verpflichtet wird, das Unterrichtsfach Lebenskunde an den öffentlichen Schulen als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht einzurichten. In diesem Sinne hatten auch die Brandenburger Verfassungsrichter argumentiert.
Der HVD sieht im Fach Lebenskunde eine Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht. Er unterstreicht, dass man keine Konkurrenz zu dem religiös-weltanschaulich neutralen Fach Praktische Philosophie einrichten wolle.
Der HVD-Bundesverband unterstützt die Bemühungen in NRW und trägt die hinlänglich bekannten Positionen vor: Das „Monopol der christlichen Kirchen auf einen bekenntnisgebundenen Unterricht“ an den öffentlichen Schulen sei „nicht mehr zeitgemäß“. Etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung sei konfessionslos. Viele Menschen würden humanistische Lebensauffassungen vertreten. Letzteres treffe selbst auf viele Kirchenmitglieder zu. „Bisherige Monopolstellungen im Bereich von Religion oder Weltanschauung gehören endlich abgeschafft.“
Der HVD will für „Atheisten, Agnostiker und Humanisten an den öffentlichen Schulen grundsätzlich den gleichen Stellenwert wie ihn das Christentum oder andere Religionen bereits haben“. Er möchte dies „sowohl in den Pflichtfächern für alle Schülerinnen und Schüler als auch in den Angeboten des bekenntnisgebundenen Unterrichts“. Der Verband sieht keinen vernünftigen und verfassungsrechtlichen Grund, ihm das zu verwehren. Man darf gespannt sein, ob die Richter dieser Argumentation folgen. Es gibt durchaus „vernünftige“ Gründe, die gegen eine pauschale Gleichbehandlung sprechen: Die Kirchen repräsentieren eine völlig andere Mitgliederzahl. Es wäre ein eigenwilliges Verständnis von Gleichbehandlung, wenn man einen Kleinstverein wie eine große Kirche behandelt. Denn man kann davon ausgehen, dass die Mitgliederzahl des HVD in NRW überschaubar ist.
Mit Blick auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen hatte der HVD-Bundesvorstand schon vor einiger Zeit „Rechtspolitische Positionen des HVD“ zum Fach „Humanistische Lebenskunde“ beschlossen. Darin werden diverse Urteile, auf die sich der HVD stützt, herangezogen und zitiert. Außerdem hat der HVD „Grundsätze für Humanistische Lebenskunde in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland“ verabschiedet, in denen das Fach näher begründet und inhaltlich vorgestellt wird. In diesem Dokument heißt es: „Der Humanistische Verband Deutschlands versteht das Fach Humanistische Lebenskunde als Beitrag zu einer pluralistischen Schule und als uneingeschränkt freiwilliges Angebot vor allem für jene Schülerinnen und Schüler, die religiös nicht gebunden sind. Die Teilnahme am Unterricht ist auch für religiös gebundene Schülerinnen und Schüler möglich, sofern sie selbst bzw. ihre Eltern dies wünschen.“
Schließlich verlangt der HVD, dass überall dort, wo für religiös gebundene oder interessierte Schüler konfessioneller Religionsunterricht angeboten wird, auch der freidenkerische Unterricht Humanistische Lebenskunde eingeführt wird, der „die Weltsicht und Lebensauffassung des weltlichen Humanismus zur Grundlage hat“.(Vgl. www.hvd-nrw.de)
Man kann davon ausgehen, dass der HVD im Fall einer Niederlage vor dem Verwaltungsgericht das NRW-Verfassungsgericht anrufen wird. Es ist denkbar, dass die Dinge hier ähnlich entschieden werden wie in Potsdam, was über kurz oder lang die Einführung der Humanistischen Lebenskunde in NRW und anderen westlichen Bundesländern zur Folge hätte.
Andreas Fincke, Berlin