Gottes Wort und menschliche Sprache. Christliche Offenbarungstheologie und islamische Positionen zur Unnachahmlichkeit des Koran
Beiträge zu einer Theologie der Religionen Bd. 22, Theologischer Verlag Zürich, 2021, 692 Seiten, 76 Euro.
Tobias Specker SJ, Inhaber der Professur für Katholische Theologie im Angesicht des Islam an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, setzt mit seiner nun im Druck erhältlichen und mit dem Hans-Waldenfels-Preis für Kontextuelle Theologie und Missionswissenschaft prämierten Habilitationsarbeit eine produktive Wegmarke in der Beziehung christlicher und muslimischer Theologie.
Der eigenständige, kreativ-kritisch an die Komparative Theologie anknüpfende Beitrag der Studie liegt darin, im Rückgriff auf die Vorstellung der „Unnachahmlichkeit“ (iʿğāz) des Koran als zentrales Theologumenon islamischen Glaubens die konstitutive Dimension des Offenbarungsgeschehens in Christentum und Islam mit der sprachlichen Gestalt der Offenbarung selbst (Bibel und Koran) in Beziehung zu setzen. Wurde die literarische Besonderheit des Koran in traditioneller Perspektive apriorisch unter Bezugnahme auf den Wunderbeweis begründet, so drehen gegenwärtige reformislamische Positionen, so ein wesentliches Ergebnis der Studie, die Perspektive um und erhellen das theologische Profil des Koran aus dessen literarischer Besonderheit. Als Legitimationsgröße für diesen neuen Zugriff auf den Koran rekurrieren sie zum einen auf den mittelalterlichen Gelehrten Al-Ğurğānī (gest. 1078), der bereits im 11. Jahrhundert die systematische Frage nach der sprachlichen Gestalt der Offenbarung gestellt und dabei Koran und Poesie zueinander ins Verhältnis gesetzt hat, zum anderen aber auch auf den Koran selbst, der die enge Verbindung von Offenbarungsgehalt und Offenbarungsgestalt wiederholt selbstreflexiv in den Blick nimmt. Dem Verf. zufolge habe die traditionelle muslimische Theologie die damit verbundene Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Offenbarungsereignis und der sprachlichen Struktur zugunsten eines propositional-instruktiven Offenbarungsverständnisses aufgelöst, das als solches inhaltliche Mitteilung und personale Ereignishaftigkeit strikt entgegensetzt und damit die Offenbarung gleichsam „entsprachlicht“ (32).
Reformorientierte Ansätze wie z. B. der von Ömer Özsoy (Universität Frankfurt) hingegen nehmen den Koran nun als einen biblische Sprachformen transformierenden, „situativ-geschichtlichen und dialogischen Sprechakt“ (44) in den Blick und ermöglichen, so der Verf., einen „Brückenschlag zwischen der sprachlich-literarischen Analyse und der historisch-rekonstruktiven Forschung“ (45). Im Gegenüber zum ästhetisch-phänomenologisch inspirierten Zugang zum Koran, der die Unverfügbarkeit und Unableitbarkeit des Geschehens betont, ist hier die Sprache des Koran, wie der Verf. in Anknüpfung an die von ihm viel zitierte Koranwissenschaftlerin Angelika Neuwirth (FU Berlin) ausführt, „nicht die Hülle eines göttlichen Inhaltes oder rein funktionales Medium der prophetischen Botschaft“, sondern „performatives Mittel der Umsetzung, Form der theologischen Akzentsetzung, Kernpunkt des Selbstverständnisses, Inhalt der Entwicklung koranischer Verkündigung, kurz: Wesen der Offenbarung selbst“ (48). Mit diesem Fokus auf die sprachlich-literarische Qualität, das heißt auf die sprachliche „Reinheit (fasāḥa), die Komposition (naẓm) und die rhetorische Vorzüglichkeit (balāġa)“ (60) des Koran geht der Verf. nach eigener Auskunft ausdrücklich über christliche Ansätze hinaus, die zwar ebenfalls direkt am Koran ansetzen, diesen jedoch wesentlich „im Blick auf seine theologischen (religiösen, ethischen und gesellschaftlichen) lehrhaften Aussagen betrachten“, dann „Überschneidungen und Differenzen artikulieren“ und in der Relationierung von Koran und Bibel „rein inhaltlich“ vorgehen (86), das heißt den Koran ohne eine vertiefende Reflexion seiner konkreten literarischen Gestalt vornehmlich theologisch wahrnehmen (vgl. 96).
Die apologetisch-spekulative Verwendung der „Unnachahmlichkeit“ diente, so resümiert der Verf. zu den Positionen des iʿğāz-Diskurses in der klassischen Periode (Teil II), vornehmlich der Legitimation eines „schlüssigen Wissenssystems“ (159) und folgte dabei zwei unterschiedlichen systematischen Leitbildern: Stellte der Koran dem einen Leitbild zufolge eine Kategorie sui generis bzw. „das jedem Vergleich entzogene, statische Andere“ dar, so begriff ihn das andere Leitbild als „ein sich unterscheidendes, dynamisches Geschehen, das seine Besonderheit gerade aus der Relation erweist“ (160). Dabei habe die im dritten Teil der Studie exemplarisch an ʿAbd al-Masīḥ Al-Kindī und Qusṭā ibn Lūqā durchgespielte christliche Apologetik die iʿğāz-Argumentation als grundlegend zirkulär erwiesen: Sowohl die Ähnlichkeit möglicher Nachahmungen als auch umgekehrt die Verschiedenheit ließen sich stets gegen den jeweiligen Versuch der Nachahmung des Koran ins Feld führen (vgl. 293).
Der rote Faden der Studie läuft schließlich auf einen „Perspektivenwechsel: Von der Sprache zur Theologie (IV)“ zu, der als solcher nun auf der Grundlage poetologischer Akzentsetzungen Al-Ğurğānīs die Rede des Koran „aus dem eigenständig-kreativen ‚Mehr‘ der poetischen Rede“ (351) in den Blick nimmt bzw. die religiöse Dimension des Koran strikt an die „tropisch-metaphorische Redeform“ bindet. Diese Redeform islamischerseits besonders herausgestellt zu haben, ist das Verdienst des ägyptischen Literaturwissenschaftlers Naṣr Ḥāmid Abū Zaid (1943 – 2010), der in seinen Werken das reformerische Verständnis des Koran als „Redeereignis“ mit der sprachwissenschaftlichen Gegenüberstellung von langue (luġa) als festem Sprachsystem und parole (kalām) als der sich dynamisch-ereignenden Rede nochmals vertieft: „Die parole des Koran konstituiert sich nicht als homogener Monolog, sondern in der Vielstimmigkeit der koranischen Sprecher und im dialogisch-verhandelnden Charakter der gesamten Rede“ (398).
In einer „islamwissenschaftlichen Vertiefung mit Angelika Neuwirth“ zeigt der Verf. auf, wie Bibel und Koran jeweils „eigene Sprachwelten stiften“ (474) und sich dabei der Koran als ein „dynamisch-ereignishaftes Erschließungsmoment“ (480) versteht, das die Welt als Zeichen (āyāt) lesbar macht. Damit steht, so der Verf., „der christlichen Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung, die das Drama des inkarnierten Logos antreibt, die ‚epistemische Durchdringung der Schöpfung‘ (Neuwirth) gegenüber, die den koranischen Optimismus begründet und in einer erneuten ‚Supersession‘ … die Autorität Christi durch die Evidenz der Sprache ersetzt“ (481): „Die koranisch literarische Welt [wird] in konkrete Realwelt übersetzt, die textuelle Gegenwelt zur realen Alternativwelt. Die Gemeinde wird als die ursprüngliche und nun vergegenwärtigte Gemeinschaft Abrahams … zur konfessorischen Realisierung des Gottesvolkes, Mekka … zum alternativen Heiligtum, der Gesandte … zum ‚Prophet‘ (nabī) mit einer prononciert eigenen Botschaft“ (485).
Auf dem Wege eines solcherart geschärften literarischen Profils („Vom Wunder zur literarischen Besonderheit“) lässt sich dem Verf. zufolge nun auch abschließend ein „geschärftes theologisches Profil“ gewinnen und die christliche Theologie ins Gespräch mit islamischen Positionen zur „Unnachahmlichkeit“ (Teil V) bringen. Dabei stellt er in einem mit „Narration und Rechtleitung“ betitelten Abschnitt „christologisch akzentuierte Heilsgeschichte und schöpfungstheologisch situierte Jetztzeitigkeit“ gegenüber und arbeitet die Eigenständigkeit des Koran gegenüber der christlich zentralen Kategorie der Narration heraus: Die „synthetisierende Bildhaftigkeit“, die „polyfon-dialogische Struktur einzelner Textpassagen“ und der „Gestus der Anrede“ (561) sind dabei wesentliche Charakteristika der koranischen „Rechtleitung“, die „weniger Verheißung als Gestaltung, weniger Hoffnung auf Erlösung als Ruf zur Verantwortung“ (566) ist.
Im Resümee zum „Sprachgeschehen als Ereignis“ rekurriert der Verf. nochmals auf „Akzentsetzungen aus den islamischen Positionen“ und verortet den zentralen Unterschied zwischen Bibel und Koran „nicht im ‚Dass‘, sondern im ‚Wie‘ der geschichtlichen Rückbindung, in der Art der sprachlichen Referenz auf Geschichte: Im koranischen Sprachereignis ist die historische Situierung der Anlass, in manchen gegenwärtigen Deutungen sogar die partikulare Form des Offenbarungsgeschehens“ (581). Unterbelichtet bleibt in einem solchen Verständnis von Offenbarung nicht nur die Metaphorizität der religiösen Sprache, sondern auch die Fragilität der Offenbarung selbst.
Im Ergebnis wird in den vom Verf. vorgestellten zeitgenössischen Ansätzen muslimischer Reformer die Vorstellung der Unnachahmlichkeit nicht preisgegeben, sondern vielmehr als „poetische“, in der poetischen Funktion der Sprache gründende „Einmaligkeit“ verstanden: „Die Unnachahmlichkeits-Vorstellung wandert wesentlich in die Interaktion zwischen Text und Rezipierenden und wird dort auf individuell-psychologischer, auf kollektiv-erinnerungstheoretischer oder auf literaturtheoretisch-poetologischer Ebene ausgedeutet“ (646f).
Mit seiner detaillierten und kenntnisreichen Studie zur Sprachlichkeit der Offenbarung im christlichen und muslimischen Kontext legt der Verf. einen überaus wertvollen Beitrag zu einer literaturwissenschaftlich sensibilisierten interreligiösen Schrifthermeneutik vor, die von interreligiös-dialogischen Zwecksetzungen, wie sie in der römisch-katholischen (Religions-)Theologie des Öfteren begegnen, angenehm befreit ist.
Rüdiger Braun, 01.03.2022