Gottesrede inmitten von Gottesvergessenheit
Zur bleibenden Herausforderung der christlichen Verkündigung Gottes durch den Atheismus
Konfessionslosigkeit als gesellschaftliches Milieu
Im Impulspapier „Kirche der Freiheit“ der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahre 2006 wird die religiöse Situation in Deutschland, auf die sich die Kirche einzustellen hat, folgendermaßen beschrieben: „Die gesellschaftliche Situation ist günstig“.2 „Es wird neu nach Gott gefragt. Religiöse Themen ziehen hohe Aufmerksamkeit auf sich.[...] Eine in den zurückliegenden Jahrzehnten verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den im christlichen Glauben gegebenen Grundlagen des persönlichen wie des gemeinsamen Lebens weicht (!) einem neuen Interesse für tragfähige Grundeinstellungen und verlässliche Orientierungen.“3
Diese Beschreibung ist – um es kurz zu sagen – für den Osten Deutschlands falsch.4 Auch nahezu 20 Jahre nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ sind über drei Viertel der Bevölkerung der neuen Bundesländer in einer nicht ernstlich „religiös“ zu nennenden Weise „konfessionslos“. In Ost-Berlin gehören nur 9,1% der Bevölkerung der evangelischen Kirche an; in manchen Stadtteilen sind es gerade einmal 2%. Von einer „Wiederkehr der Religion“ oder einer „Respiritualisierung“ der Gesellschaft, wie sie in Westeuropa beobachtet wird, kann hier nicht die Rede sein. Die Erwartung, dass sich die Menschen nach dem Zusammenbruch der vierzigjährigen atheistischen Weltanschauungsdiktatur wieder den Kirchen oder sonst einer religiösen Lebensorientierung zuwenden werden, hat getrogen. Selbst Sekten fassen hier nicht Fuß, wie anfänglich befürchtet. Der Osten Deutschlands ist ein religiös dürres Land geworden.
Während sich die so genannten „Errungenschaften“ des „Sozialismus“ im Eiltempo verflüchtigt haben, ist eine besondere Art von Atheismus des überwiegenden Teils der Bevölkerung seine gewissermaßen erfolgreichste Hinterlassenschaft. Er hat ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem das Leben ohne die Kirche und ohne den Glauben zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Der größte Teil der Bevölkerung hat sich auf die Dauer an das Leben ohne den Glauben an Gott einfach gewöhnt.
Diese Gewöhnung aber hat im geistigen Haushalt der Menschen zu einem tief greifenden Traditionsabbruch der christlichen Überlieferungen und Lebensorientierungen und zur Entfremdung von den kulturellen Prägungen der Gesellschaft durch das Christentum geführt. Christlicher Glaube oder christliche Frömmigkeit kommen in den Familien nicht mehr vor. Schon die Großeltern, vielleicht sogar die Urgroßeltern, waren nicht in der Kirche; die Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind es auch nicht. So ist ein hartwandiges gesellschaftliches Milieu entstanden, das alles, was ausdrücklich mit „Religion“ zu tun hat, von sich abweist.
Dieses Milieu regeneriert sich über den Umbruch der Gesellschaft vor 18 Jahren hinweg beständig selbst. Unterstützt wird das bei der heranwachsenden Generation heute in nicht geringem Maße durch die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen, von denen die große Mehrheit nach der „Wende“ weitermachen konnte. Sie sind aus alter Gewohnheit selbstverständlich Trägerinnen und Träger atheistischer Überzeugungen. Das Urteil z.B., dass Religion „unwissenschaftlich“ sei und einer vergangenen Zeit angehöre, findet hier immer neue Belebung. Es ist darum ganz schwierig, den Religionsunterricht an den Schulen zu etablieren. Lehrer und Eltern sind weitaus überwiegend der Meinung, dass er nicht an die Schule gehört, und üben einen dementsprechenden Druck auf die Politik aus.
Es wäre jedoch verkehrt, angesichts des Widerstandes, der sich hier gegen die Bildungsaufgabe der Kirchen zeigt, die Glaubensferne der konfessionslosen Bevölkerung mit einer kämpferischen Wendung gegen den Glauben gleichzusetzen. Vom Freiheits- und Emanzipationspathos des europäischen Atheismus ist der Gewohnheitsatheismus, von dem wir hier reden, ziemlich weit entfernt. Dergleichen treffen wir heute eher weiter westlich an, wie z.B. jetzt gerade bei den so genannten „neuen Atheisten“ oder „brights“, welche über die Verderblichkeit von Religion und Gottesglaube aufklären wollen.5 Die Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands aber hat keine Aufklärungsinteressen. Sie zeichnet sich vielmehr durch eine gänzliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Gottesglauben aus. Die Menschen machen sich nicht mehr die Mühe, an die Frage der Widerlegung des Gottesglaubens oder die Begründung des Atheismus noch irgendwelchen Schweiß zu verschwenden. Für sie ist der Glaube an Gott unter die Schwelle der Konfliktfähigkeit gesunken. Charakteristisch ist die Äußerung von Jugendlichen bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich oder eher atheistisch“ verstehen, haben sie geantwortet: „Weder noch, normal halt.“6 Nur, was ist „normal“?
Perspektiven des Lebens ohne Gott
Die Frage, welche Grundüberzeugungen im konfessionslosen Milieu als „normal“ gelten, ist für den kirchlichen Auftrag, in einer konfessionslosen Umgebung von Gott zu reden, einigermaßen von Interesse. Denn die Klärung dieser Frage könnte helfen, inmitten dessen, was im Osten Deutschlands von der konfessionslosen Bevölkerung als „normale“ Lebensweise angesehen wird, den Ort zu finden, an den das Reden von Gott hier vorzüglich gehört. Doch trotz etlicher Umfragen in der konfessionslosen Bevölkerung und einiger Erfahrungswerte ist es nicht ganz einfach, das „Normale“ von Lebenseinstellungen ohne Gott, aber auch ohne explizit atheistisches Bewusstsein, zu ermitteln. Dennoch können wir einige Eckpunkte benennen, zwischen denen sich das Leben abspielt, in dem Gott vergessen und der Atheismus als solcher uninteressant ist.
Keine bedeutende Rolle – können wir als Erstes sagen – spielt die Weltanschauung des dialektischen und historischen Materialismus mehr, die den Menschen in sozialistischen Zeiten einmal den Glauben ausgetrieben hat. Das komplizierte Konstrukt einer Weltanschauung, nach der „die Materie“ sich in „dialektischen Sprüngen“ bis auf das Niveau des menschlichen Bewusstseins entwickelt hat und zugleich den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte in „Klassenkämpfen“ vorzeichnet, lebt heute nur noch in der Köpfen von ein paar alten Parteikadern. Aus den Diskursen unserer Zeit über die Grundbedingungen unseres Daseins auf der Erde ist dieses Konstrukt mit Recht fast gänzlich verschwunden.
Das „Normale“, von dem unsere Jugendlichen in Leipzig geredet haben, ist zum anderen aber auch nicht die gänzliche Verneinung aller überkommenen Werte, der Nihilismus. Zwar gibt es im konfessionslosen Milieu vor allem bei jungen Menschen einige Besorgnis erregende Phänomene von ethischer Verwahrlosung, die sich der Erfahrung der Sinnleere des eigenen Lebens verdanken. Die über Deutschland hinaus besonders sorgsam registrierten Regungen von Rechtsextremismus im Osten Deutschlands gehören hierher. Aber wir können sicher sein, dass die überwiegend konfessionslose Bevölkerung damit nicht nur nichts zu tun haben möchte, weil „Antifaschismus“ für sie zur sozialistischen Sozialisation gehörte. Die atheistisch ausgerichtete Konfessionslosigkeit ist darüber hinaus weitaus überwiegend von so etwas wie vom Geist einer verträglichen Menschlichkeit gekennzeichnet, der alle Extreme zuwider sind.
Das ist drittens darin begründet, dass der Sozialismus, wie er in der DDR herrschte, bei den Menschen, die sich ihm anpassten, vor allem zur Verinnerlichung von Werten der Gemeinschaftspflege geführt hat. Dazu gehören Hilfsbereitschaft und Solidarität, die Hochschätzung des Wertes der Geborgenheit in der Gesellschaft, aber auch ein Sinn für Gerechtigkeit, so dass das konfessionslose Milieu durchaus den gesellschaftlichen Frieden stabilisiert. Woran es diesem Milieu dagegen nach wie vor mangelt, ist die Innovationskraft der Möglichkeiten gesellschaftlicher Freiheit in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft. Das eigene, freie Engagement für Ziele, die mit ganzheitlichen Perspektiven den eigenen Lebensumkreis überschreiten, wird eher nicht geschätzt. Da schwingt auch 18 Jahre nach dem Ende des Sozialismus noch der Frust mit, einer totalitären Weltanschauung aufgesessen zu sein, die nicht gehalten hat, was sie versprach. Institutionen, die weltanschauliche Überzeugungen vertreten, haben es darum schwer, Mitglieder zu finden. Die Parteien und Gewerkschaften leiden darunter in vergleichbarer Weise wie die Kirchen. Aber auch eine programmatisch atheistische Vereinigung wie der „Humanistische Verband“ hat nur die Größe einer Splittergruppe, obwohl dieser Verband den Anspruch erhebt, die ganze konfessionslose Bevölkerung zu vertreten.
Im konfessionslosen Milieu können wir aus den genannten Gründen so etwas wie eine Erschlaffung im Hinblick auf Fragen antreffen, welche die großen Herausforderungen des Menschseins im Globalen, aber auch in individueller Tiefe betreffen. Das passt mit dem zusammen, was eine repräsentative Studie der „Identity Foundation“ im vorigen Jahr über die spezifische „Spiritualität in Deutschland“ herausgefunden hat.7 Danach sind 40 % der deutschen Bevölkerung (mit einer neuen Wortschöpfung) als „unbekümmerte Alltags-Pragmatiker“ zu bezeichnen. Die Zahl weist aus, dass wir es hier mit einem Phänomen menschlichen Selbstverständnisses zu tun haben, das beileibe nicht auf den Osten Deutschlands beschränkt ist. Hier jedoch tritt es in großer Breite auf. Menschen verstehen sich demnach als Produkt der Naturgesetze. Ihr Lebenssinn es ist, aus ihrem begrenzten Dasein, bis es nicht mehr geht, das Beste für sich, aber auch für die Kinder, zu machen und dann möglichst schmerzlos aus dieser Welt zu verschwinden.
Ob es freilich richtig ist, die Pragmatik einer Lebensweise, die sich auf derartige Weise mit den Grenzen des irdischen Daseins zufriedengibt und sich darin auch erschöpft, „unbekümmert“ zu nennen, kann man fragen. Denn natürlich „bekümmern“ ein solches Leben auch die Probleme, denen eine gemäßigt hedonistische Lebensauffassung, um die es sich hier letztlich handelt, schwerlich standhalten kann. Das Scheitern in Beruf und Gesellschaft, der Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, das Erleben menschlicher Bosheit, das Zerbrechen menschlicher Beziehungen, die Erfahrungen von Krankheiten des Leibes und der Seele und letztlich des Sterbens setzen auch dem konfessionslosen Milieu zu. Derartige Erfahrungen rufen mindestens nach einer Ethik, die mit dem allen in einer die Menschlichkeit von Menschen vertiefenden Weise umzugehen lehrt, statt es so lange wie möglich zu verdrängen und dann vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Doch eine solche Ethik gibt es im konfessionslosen Milieu allenfalls als respektable Lebensweisheit von Einzelnen. Die Pluralisierung und Individualisierung weltanschaulicher Positionen, die in der heutigen Gesellschaft auch in das konfessionslose Milieu hinein wirkt, macht dieses Milieu zu einem Chorus diffuser Stimmen.
Eines eint allerdings den östlichen konfessionslosen Chorus. Gott oder die institutionalisierte Religion werden zur Bewältigung der Fundamentalprobleme des Menschseins nicht gebraucht. Die Auseinandersetzung Dietrich Bonhoeffers mit einer christlichen Apologetik, die „religionslosen Menschen“ (wie er das nannte) nachweisen möchte, dass sie Gott als Problemlöser und „Lückenbüßer“ für die unerledigten Fragen ihres Menschseins benötigen, ist deshalb noch immer aktuell.8 Wer mit der „message“ von Gott als Problemlöser an die Türen des Milieus klopft, das ich hier geschildert habe, kann damit rechnen, dass ihm die Türe vor der Nase zugeschlagen wird. Nach Bonhoeffer geschieht das den christlichen Apologeten auch ganz recht. Er nannte es „unvornehm“, also irgendwie schmuddelig, die Menschen durch das Herumwühlen in ihren Schwachstellen zum Glauben pressen zu wollen.9 Vor allem aber fand er es Gottes unwürdig, von uns wie ein Marktprodukt zum besseren Wohlfinden an die Menschen verhökert zu werden. Wenn Glaube an Gott entsteht, dann muss er sich in der Freiheit einstellen, in der Gott kraft seines Geistes selbst begegnet und nicht aufgrund einer allzu menschlich ins Werk gesetzten religiösen Mechanik.
Was die evangelische Kirche in Wahrnahme ihres Auftrages dafür tun kann, um dem freien Begegnen Gottes im konfessionslosen Klima den Weg zu bereiten, wie Bonhoeffer das anderswo ausgedrückt hat,10 ist darum das vorrangige Problem, das sich für diese Kirche in der Situation des Ostens Deutschlands stellt: Was ist von Gott zu sagen und wie ist der Glaube an Gott im Leben und Verhalten der Christenheit darzustellen, damit Menschen, die Gott längst vergessen haben und dennoch keine richtigen Atheisten sind, neu auf Gott aufmerksam werden können? Wie haben wir uns auf Menschen einzulassen, die durchaus humanistische Werte respektieren und dennoch „Alltagspragmatiker“ sind, die sich vielfältig und diffus mit den Problemen ihres Daseins herummühen? Wie kann es möglich werden, dass solche Menschen, die auf diese Weise leidlich mit sich zufrieden sind, Gottes Geist als lebendige Wirklichkeit wieder spüren? Das sind die dringlichsten Fragen, die sich für das Reden von Gott „inmitten von Gottesvergessenheit“ stellen.
Die Schwierigkeiten und Chancen, Gott in Erinnerung zu bringen
Die geschilderte Situation, in welcher der größte Teil der Bevölkerung eines Landes so tief in der Gottesvergessenheit steckt, dass auch schon vergessen ist, wann und wo Gott vergessen wurde, wirft das christliche Zeugnis von Gott ganz auf die Anfänge des Bekanntmachens mit Gott zurück. Es kann dabei kaum an hilfreiche Vorstellungen von Gott oder Traditionen des Glaubens an Gott anknüpfen. Das Maß an Unkenntnis über den christlichen Glauben ist in einem einmal vom Christentum geprägten Lande geradezu erstaunlich. Daran ändern auch die Informationen nichts, die Menschen heute über das Christentum und andere Religionen durch die Medien erhalten können. Was davon haften bleibt, sind in der Regel allerlei Merkwürdigkeiten eines religiösen Panoptikums; Merkwürdigkeiten, welche glaubensferne Menschen darin bestätigen, dass sie damit glücklicherweise und mit Recht nichts zu tun haben. Auch der durchaus ziemlich breiten Selbstdarstellung der Kirchen und ihrer Botschaft in den Medien geht es ähnlich. Sie haftet nicht im konfessionslosen Milieu. Die dringend nötigen Informationen über den Glauben an Gott haben nach aller Erfahrung nur eine Chance, sich in lebensbewegende Informationen, in Begegnungen mit Wirklichkeit also, zu verwandeln, wenn sie persönlich, von Mensch zu Mensch weitergegeben werden.
Das ist auch ganz sachgerecht. Denn ohne Kommunikation von Menschen bleibt das Bekanntmachen mit Gott in abstrakten Mitteilungen und das notwendige Gespräch über Gott in theoretischen Disputen stecken. Mitteilungen und Dispute wird es zwar auch geben, weil sich heute für einen dem Glauben an Gott fernstehenden Menschen viele Fragen an den Gottesglauben stellen. Aber das kann der eigentlichen Aufgabe des Bekanntmachens mit Gott nur zugeordnet sein. Diese Aufgabe jedoch besteht darin, Menschen damit vertraut zu machen, wie sich das Erleben des Geistes, der Gott ist, auf das eigene Leben auswirkt. Damit tragen aber im Grunde alle, die sich Christinnen und Christen nennen, eine hohe Verantwortung dafür, in welchem Sinne das Leben Gott entfremdeter Menschen für Gott geöffnet wird, ja sogar auch, welche Vorstellungen sie von ihm und seinem Wirken gewinnen. Denn wie wir heute mit Gott bekannt machen und Menschen zur Teilnahme an unseren Erfahrungen einladen, wird wenigstens Anstoß für die eigenen, anfänglichen Gotteserfahrungen von Menschen im konfessionslosen Milieu sein.
Das ist einerseits eine große Chance. Denn wo Menschen gar nichts mehr oder höchstens Abseitiges von Gott wissen, kann und muss das im Zentrum stehen, was für den christlichen Glauben an Gott heute wirklich wesentlich ist. Im Unterschied zum Herumprobieren im religiösen Allerlei nötigt das gottesvergessene Milieu das christliche Gotteszeugnis geradezu zur Konzentration auf das Fundamentale und Echte des Glaubens. Wir werden darauf zurückkommen. Andererseits droht die Chance solcher Konzentration aber auch vertan zu werden, wenn es gar nicht zu Begegnungen der konfessionslosen Menschen mit Glaubenden kommt, die ihren Glauben auch zu artikulieren vermögen. Diese Gefahr besteht durchaus. Wer dem konfessionslosen Milieu zugehört, kommt nicht zur Gemeinde. Das geschieht höchstens zufällig oder vereinzelt. Die meisten wissen gar nicht, was dort gesagt und getan wird. Also müssten nicht nur die, die im kirchlichen Dienst stehen, sondern alle Christinnen und Christen, die im Alltag mit den Menschen zusammenleben und -arbeiten, die nicht zur Kirche kommen, dafür sorgen, dass ihnen das Reden von Gott und der Glaube begegnet. Doch auch das geschieht nur vereinzelt. Denn das allgemeine Priestertum aller Glaubenden, welches die Verantwortlichkeit aller Glaubenden für den Verkündigungsauftrag der Kirche bedeutet, ist in der evangelischen Kirche im Widerstreit zu ihrem Wesen praktisch leider unterentwickelt. Die meisten Glieder der Kirche sind gar nicht in der Lage, ihren Glauben zu artikulieren. Das muss sich in Zukunft ändern. Was dafür zu tun ist, stellt ein Thema für sich dar. Aber selbst wenn sich das ändert, ist nüchternerweise nicht damit zu rechnen, dass es zu einer baldigen massenweisen Zuwendung zur Kirche und zum Glauben an Gott aus dem konfessionslosen Milieu heraus kommt. Die Menschen müssen alle einzeln für den Glauben an Gott gewonnen werden. Und das braucht Zeit.
Ob sich in dieser Zeit nach und nach auch die so genannte „Wiederkehr der Religion“ als Assistentin bei der Öffnung des konfessionslosen Milieus für den Gottesglauben auswirken wird, ist schwer zu sagen. Wenn unter „Religion“ auch solche Phänomene verstanden werden, die mit dem Gottesglauben gar nichts zu tun haben, dann werden wir daran eher zweifeln. Denn natürlich trifft man „Religion“ in einem weiten Sinne auch im konfessionslosen Milieu an. Dieses Milieu ist in „Religion“ als einem Sinnsystem, das eine Art Glauben verlangt, sogar ausführlich geübt, sofern der Marxismus-Leninismus penetrant religiöse Züge hatte. Die Ritualisierungen des Lebens, die er eingeführt hat, sind – wie z.B. die Jugendweihe – noch heute hoch geschätzt. Außerdem gibt es die Erscheinungen, die der „Wiederkehr“ der Religion zugeordnet werden, auch im Osten Deutschlands en masse. Wolfram Weimer, der Chefredakteur der Zeitschrift „Cicero“, rechnet dazu sogar das Vertrauen in den Supermarkt und in das Funktionieren der Technik.11 Aber auch die ekstatische Fußballbegeisterung oder die irrationale Hingabe an Trends und Personen der Unterhaltungsindustrie gelten als Indizien für jene Renaissance der Religion.
In der christlichen Theologie werden wir jedoch eher geneigt sein, dergleichen als Pseudoreligion zu bezeichnen, welche den Aberglauben wuchern lässt und die Öffnung für echte Transzendenz tatsächlich geradezu blockiert. Aber selbst wenn es sich um ein da und dort auch zu beobachtendes Interesse für „Esoterisches“, „Spirituelles“ aller Art, Spiritistisches und sogar „Heiliges“ und anderes Geheimnisvolles handelt, ist damit noch längst nicht gesagt, dass Gott in das Blickfeld tritt. Ulrich H. J. Körtner hat die Religion, um die es bei der „Wiederkehr der Religion“ geht, regelrecht eine „Religion ohne Gott“ genannt.12 Insofern sind Zweifel daran berechtigt, dass sich das konfessionslose Milieu mit Hilfe derartiger „Religion“ von alleine auflösen wird.
Auf der anderen Seite ist aber auch nicht zu bestreiten, dass sich an jenem quasi-religiösen Phänomen die unausrottbare Tendenz von Menschen zeigt, mit ihrem Bewusstsein alles zu überschreiten, was ihr raum-zeitlich-irdisches Dasein ausmacht. Das begründet auch ihre Bereitschaft, sich von Dimensionen des Unverfügbaren, des Transrationalen, erhebend Höheren und Geheimnisvollen berühren zu lassen. Selbst bei der Verehrung von Pseudotranszendenzen, an denen der Schweiß menschlicher Erhebungen über das Erdendasein klebt, bestätigen Menschen, dass sie nicht leben können, ohne – mit Martin Luthers Auslegung des Ersten Gebotes im Großen Katechismus geredet – ihr Herz „auf etwas zu hängen“, das sie wie Gott bestimmt.13
Insofern kann keine Rede davon sein, dass Menschen durch das Vergessen Gottes auch die strukturelle Offenheit von Gottes Geschöpfen für Gott verloren haben. Es steht zu erwarten, dass sie sich faktisch wieder meldet, auch wenn das auf die diffuse Weise der „Wiederkehr der Religion“ oder auf die problematische Weise einer Ersatz- und Pseudoreligiosität geschieht. So gottesvergessen, wie das konfessionslose Milieu im Osten Deutschlands sein möchte, kann es auf die Dauer gar nicht sein. Darum ist die Erwartung auch begründet, dass das christliche Reden von Gott wie das aussagekräftige Leben der christlichen Gemeinden mit Gott auf die Dauer eine gute Chance haben, Menschen, die Gott vergessen haben, wieder mit dem vertraut zu machen, der wahrhaft „Gott“ zu heißen verdient.
Wegbereitung für Gottes Klarheiten
Unstrittig dürfte sein, dass die angedeutete Chance verspielt wird, wenn Menschen, die Gott vergessen haben, durch das Reden und Leben der Christenheit überhaupt keinen klaren Eindruck davon gewinnen können, worum es sich bei „Gott“ überhaupt handelt. Die Vielstimmigkeit, mit der in den Kirchen von Gott geredet wird, ist zwar einerseits ein Ausdruck des Reichtums der Wirklichkeit Gottes, die mit Recht nach den unterschiedlichsten sprachlichen Artikulationen und anderen Ausdrücken des Glaubens an sie ruft. Auf der anderen Seite ist diese Vielstimmigkeit für einen Außenstehenden aber auch regelrecht verwirrend und abschreckend, besonders wenn sie zu unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Gottesbildern führt. Worauf soll ein Mensch, der gar nichts von Gott weiß, sich einlassen? Dass Gott allmächtig ist oder dass er ohnmächtig ist, dass er eine Person ist oder eine unpersonale Macht, dass er die Welt regiert oder ihr freien Lauf lässt, dass es der gleiche Gott ist, der in den Religionen verehrt wird, oder dass dies nicht der Fall ist?
Wir könnten die Liste, auf der steht, was ein Mensch, der Gott vergessen hat, aus dem Raum der Kirche und dann noch aus dem der Religionen heraus alles zu hören bekommt, beliebig lang machen. Es leuchtet von selbst ein, dass sie ihm kein Bekanntwerden mit Gott ermöglicht, das Gott für ihn selbst wichtig macht. Das religiöse Glied der Kirche sucht sich aus dieser Liste im Zuge der für unsere Zeit charakteristischen Privatisierung und Individualisierung des Glaubens bzw. der Religion das ihm Passende heraus. Für den religiös gestimmten Menschen ist sie vielleicht ein religiöses Marktangebot, für den Konfessionslosen nicht. Er wendet sich vielmehr kopfschüttelnd wieder seiner Alltagspragmatik zu, wenn ihm nicht ein Weg bereitet wird, sich an einer Stelle in der Fülle der Möglichkeiten, in der von Gott die Rede ist, zu verorten.
Hier wird unsere oben getroffene Feststellung relevant, dass das gottesvergessene Milieu die christlichen Kirchen geradezu auf das Fundamentale und Eigentliche des christlichen Glaubens zurückwirft. Dieses Fundamentale und Eigentliche ist aber, dass Gott in der Geschichte eines Menschen – des Menschen Jesus von Nazareth – begegnet und dass sein Geist diese Geschichte beständig vergegenwärtigt und aktualisiert. Das christliche Reden von Gott führt darum unausweichlich in die Begegnung mit diesem Menschen. „Wir müssen uns immer wieder sehr lange und sehr ruhig in das Leben, Sprechen, Handeln, Leiden und Sterben Jesu versenken, um zu erkennen, was Gott verheißt und was er erfüllt“, hat Dietrich Bonhoeffer aus der Gestapohaft geschrieben.14
Ich wandle diesen Satz im Hinblick auf das Bekanntmachen Gottes bei Menschen, die Gott vergessen haben, folgendermaßen ab: Wir müssen in immer neuen Anläufen vom Leben, Sprechen, Handeln, Leiden und Sterben Jesu reden, um ein Verstehen dafür zu wecken, wer Gott ist und was er für unser Leben bedeutet.
Im Grunde ist das ja die Aufgabe aller Mission, wo immer sie auch stattfindet; und zwar von der ersten Stunde an, als die Christenheit in die nicht-christliche Welt trat. In unserem Falle aber hat das beharrliche Reden von diesem Menschen, wenn es um Gott geht, noch einen eigenartigen Vorzug. Es unternimmt nicht den Versuch, Menschen, die sich ganz im menschlich-irdischen Leben eingerichtet haben, von der Existenz irgendeiner „Überwelt“ zu überzeugen. Ein derartiger Versuch dürfte erfahrungsgemäß im konfessionslosen Milieu nur die alten Ressentiments der atheistischen Religionskritik wecken, die eine derartige Welt für eine „Projektion“ des menschlichen Bewusstsein (L. Feuerbach!) hält. Die Auseinandersetzung mit dieser These muss von christlicher Seite zwar ganz und gar nicht gescheut werden. Aber sie führt doch gegenüber der Aufgabe, den Weg zur Erfahrung des Geistes Gottes im Leben von Menschen zu bereiten, auf eine Abstraktionsebene.
Demgegenüber holt das Bekanntmachen mit Gott, welches mit dem Bekanntmachen eines Menschen beginnt, Menschen bei den Erfahrungen ab, die sie mit einer rein diesseitig orientierten Lebensweise machen. Im Leben, Reden, Verhalten, Leiden und Sterben Jesu begegnet alles, was auch Menschen mit einer solchen Lebensweise umtreibt, erfreut und bekümmert. Was z.B. die Bergpredigt und die Gleichnisse Jesu aussagen, was Jesu Handeln und Verhalten, seine Passion und vieles andere mehr zum Ausdruck einer überwältigenden Menschlichkeit machen, kann sich darum mit den Erfahrungen verschränken, die Menschen heute in ihrem Leben haben.
Im Unterschied zum Leben im Vergessen Gottes wird das, was Jesu Menschlichkeit ausmacht, aber zu einer unausweichlichen Erinnerung an Gott. Die Freiheit, in der er lebte und auftrat, die Gerechtigkeit, die er verkündigte, die Liebe, die Wahrheit, die Ewigkeit und geistliche Macht, die ihn prägte, werden hier – um nur einige Beispiele zu nennen – zugleich zu Gottesbestimmungen. Das Verstehen der Menschlichkeit Jesu weitet darum die Horizonte des menschlichen Lebens, die die Gottesvergessenheit festgeschrieben hat. Es wird zur Wegbereitung dafür, das Leben heute im Vertrauen auf die Gegenwart des Geistes der Freiheit, der Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit und Macht zu führen, die Gott ist. Wir können auch sagen: Es wird zur Wegbereitung eines Lebens in der Kommunikation mit Gott, in der Gott Menschen an seiner Freiheit, seiner Liebe, seiner Wahrheit, Gerechtigkeit und Macht Anteil gibt. Gott ist, wenn so mit ihm bekannt gemacht wird, keine namenlose, nebelhafte Überwelt, zu der Menschen sich in irgendwelchen religiösen Kraftakten emporarbeiten müssen. Er kommt ihnen vielmehr in lauter Konkretionen – ich sage: in lauter Klarheiten15 – nahe, die ihr Leben zu tiefer und wahrhaftiger Menschlichkeit erhöhen. Wo das erlebt wird, erledigt sich der Satz „Ich brauche Gott nicht, um Mensch zu sein“ von alleine.
Angesichts des geschilderten hartwandigen Milieus, das sich im Vergessen Gottes eingerichtet hat, ist noch einmal zu unterstreichen, dass auch dies keine Zauberformel zur Überwindung der „Schwerhörigkeit für Gott“ (Benedikt XVI.) sein kann. In gewisser Weise ist es sogar schwieriger als der Versuch, durch Herumrudern in den religiösen Möglichkeiten von Menschen den Hafen zu finden, in dem das Vergessen Gottes aufhört. Denn auf dem beschriebenen Weg muss ja nicht nur mit Gott, sondern zugleich auch mit einer Geschichte aus fernen Zeiten mit vielen heute befremdlichen und erklärungsbedürftigen Sachverhalten vertraut gemacht werden. Doch dieser Schwierigkeit kann das christliche Reden von Gott ohnehin nicht ausweichen. Sie gehört zum Bekanntmachen mit dem biblischen, geschichtlichen Gott, das ohnehin kein Hauruck-Unternehmen sein kann. Da gibt es Grade des Berührtseins, Etappen der Wahrnehmung und Stufen des Vertrautseins.16
Ein heute noch bemerkenswertes Beispiel für eine solche Etappe ist immer noch die Funktion der Gottesrede während der „friedlichen Revolution“ in der DDR von 1989, die in der evangelischen Kirche ihren Konzentrationsort hatte. Da wurde das Wort „Gott“ in den Klarheiten von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden einen geschichtlichen Moment lang geistesmächtig zum Anwalt von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden für die Menschen in dieser Gesellschaft.
Auch dies – dass ein gewalttätiges Regime vor „Kerzen und Gebeten“ kapitulierte – ist in unserer schnelllebigen Zeit heute schon fast vergessen. Aber es bleibt inmitten von Menschen, die sich wieder in ihre alte Lebensweise ohne Gott zurückplumpsen ließen, ein Signal für den längeren Atem des Geistes, der von Jesus Christus ausgeht. Zu ihm gesellen sich auch heute lauter kleine, neue Signale, von denen es viel zu berichten gäbe. Zur Resignation besteht also kein Anlass, weil das Erinnern Gottes nur so langsam vorankommt. Die christlichen Kirchen sind im Osten Deutschlands zwar zur gesellschaftlichen Minderheit geworden. Aber ein Viertel der Bevölkerung, das auf den Reichtum von Gottes Menschlichkeit konzentriert ist, hat gegenüber dem diffusen Erscheinungsbild des konfessionslosen Milieus einen im Grunde uneinholbaren Vorsprung. Wenn sich nur alle Christinnen und Christen dessen auch bewusst wären und von diesem Vorsprung tatsächlich Gebrauch machten!
Wolf Krötke, Berlin
Anmerkungen
1 Überarbeiteter Vortrag bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Mecklenburg-Vorpommern am 17.06.2007 in Güstrow.
2 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier der EKD, Hannover 2006, 14.
3 Ebd. (Vorwort), 7.
4 Vgl. hierzu ausführlich meine Aufsätze: Die christliche Kirche und der Atheismus. Überlegungen zur Konfrontation der Kirchen in den neuen Bundesländern mit einer Massenerscheinung, in: Wege zum Einverständnis. Festschrift für Christoph Demke, Leipzig 1997, 159-171; Der Massenatheismus als Herausforderung der Kirche in den neuen Bundesländern, in: Wiener Jahrbuch für Theologie, Band 2 (1998), hg. von der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien, Wien 1998, 215-228; Wie weit kann Entchristlichung gehen? Deutemuster eines ostdeutschen Phänomens, in: BThZ 18/2001, 285-298; Die Kirche im Osten als gesellschaftliche Minderheit – Probleme und Chancen, in: Ines-Jacqueline Werkner / Nina Leonhard (Hg.), Aufschwung oder Niedergang. Religion und Glauben in Militär und Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2003, 97-110; vgl. auch: Jahresschriften des sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Strausberg 2003, 97-110.
5 Vgl. Kreuzzug der Gottlosen, in: Der Spiegel 22/2007, 56-69.
6 Vgl. Monika Wohlrab-Sahr, Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, Pastoraltheologie 90/2000, 152.
7 Vgl. www.identityfoundation.de.
8 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, 454-456.
9 Vgl. ebd., 478.
10 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, 152-162.
11 Vgl. Wolfram Weimer, Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut ist, München 2006, 42.
12 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Wiederkehr der Religion. Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006, 51-70.
13 So in der Erklärung des Ersten Gebotes im „Großen Katechismus“, BSLK, 560.
14 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand, a.a.O., 572.
15 Vgl. hierzu mein Buch „Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes ‚Eigenschaften’“, Tübingen 2001.
16 Dietrich Bonhoeffer hat von „Stufen der Erkenntnis“ und „Stufen der Bedeutsamkeit“ geredet; vgl. Widerstand, a.a.O., 515.