Uwe Gerber

Gottlos von Gott reden. Gedanken für ein menschliches Christentum

Uwe Gerber, Gottlos von Gott reden. Gedanken für ein menschliches Christentum, Verlag Peter Lang, Frankfurt a. M. 2013, 154 Seiten, 24,95 Euro.

Die vorliegenden „Gedanken“ wenden sich nicht an religiös Desinteressierte oder Atheisten, sondern an Menschen, die außerhalb der Kirche „nach religiöser Verortung suchen und dies auch in sozialpolitischem Engagement kundtun“ (7). Mit ihnen (und anderen) schließt sich der Verfasser in einem nicht immer klaren „Wir“ zusammen. Denn mit dem theistisch-metaphysischen Christentum sei es vorbei. Der Autor nennt drei Grundgedanken, die in dieser Situation zu entfalten seien: Gottes Selbstentzug, den Mythos der Menschwerdung Gottes und die Subjektwerdung des Menschen in der Begegnung mit dem „Anderen“.

„Die Distanz und das Entzogensein eines (bislang) unmittelbar erfahrenen und gedachten Gottes ist die heutige Begegnungs- und Gegenwartsweise Gottes, damit wir in der Dynamik der Menschwerdung Gottes in der Person Jesu von Nazareth selbst Menschen werden“ (18, kursiv). Gott könne man nämlich „nicht ‚direkt’, nur als Distanzierungsdynamik erfahren, beschreiben, bekennen“ (69). Auf den Menschen kommen, so gesehen, vor allem durch seine Mitmenschen „Widerfahrnisse“ zu, die er nicht zu deuten weiß. Eine „Lücke“ werde erkennbar, die aber als positiver Mangel (Peter Gross) erlebt werden könne (88). Das „den ganzen Menschen betreffende Widerfahrnis des distanzierenden Entzogenen“ sei es, das „den Betroffenen zum Antworten befreit und zwingt“ (145).

Das Christentum vermag diesen Selbstentzug Gottes aufgrund des Mythos von der Menschwerdung Gottes „im Menschen Jesus und anderen Menschen“ (84) zu bejahen und fruchtbar werden zu lassen: Der Mythos sei nicht einfach zu verabschieden, sondern „atheistisch (‚weltlich’) zu interpretieren“ (33). Die Kenosis (Phil 2) mache deutlich, dass Gottes Sache auf Erden spielt und nicht in einer metaphysischen Oberwelt. Wir sollten bedenken, wie Gottes Selbstentäußerung „uns an die anderen Menschen, an die Erde und in die Nächstenliebe verweist“ (86).

Dabei sei der Andere nicht als Objekt diakonischen Handelns zu verstehen. Vielmehr: „Der Andere-Nächste bricht herein in unseren Lebenskreis als unvorhersehbares Widerfahrnis und versetzt uns gewissermaßen in Neuland und neu in Beziehungen ...“ (44). Es vollziehe sich also etwas Geschenkhaftes, das man traditionell „als direkte Gott-Mensch-Begegnung“ bezeichnet hätte und das man sich nach-theistisch als eine „durch andere Menschen vermittelte Begegnung“ vorstellen könne (119f). Es gehe im Glauben nicht um die Selbstinszenierung einer religiösen bzw. christlichen Persönlichkeit. Auch die mystische Vorstellung eines „Grundes“ oder eines „Eins-Seins mit Gott“ sei zu dekonstruieren, da sie seinsontologische Implikationen habe. Vielmehr gehe es um Alterität, um die Menschwerdung Gottes in unseren Beziehungen. Das Christentum sei zu umschreiben „als Religion der Beziehungsfülle im Horizont des entzogenen Gottes oder als Religion der Alterität im Sinne eines atheistischen Redens von unseren im Geist Gottes durch Andere gestifteten Beziehungen“ (31; 109ff). Der Andere dürfe nicht seinsontologisch oder ekklesiologisch vereinnahmt werden; dadurch verlöre er seine radikale Andersheit. Ich werde ich selbst am Anderen und darf, Gott sei Dank „ein Anderer für die Anderen“ sein (Levinas; 112). Der Protestantismus sei – Gerber bezieht sich unter anderem auf Dorothee Sölle – „quasi die Religion der Beziehungen“ (120) und auf diese Weise „sich selbst voraus“ (143ff).

Damit kommt ein Christentum in Sicht, „welches sich der Vorläufigkeit und nicht der Endgültigkeit verschreibt“ (Peter Gross; 75). Man verzichtet auf eine „Gesamtlösung“, weil es genügt, Christi Bruder zu sein.

Ein „atheistisches Theologisieren“ sei durch vier Elemente charakterisiert: Es sei „beziehungsorientiertes“, „alteritätsethisches“, destruktiv sich mit metaphysischen Vorgaben auseinandersetzendes Theologisieren. Schließlich sei es protestantisch im Sinne von Luthers Anliegen „sola gratia, sola fide“. Mehrfach beruft sich Gerber auf die (von ihm fälschlich Luther zugeschriebene) Devise „ecclesia semper reformanda“. Damit soll wohl die „Befreiung von der kirchlichen Verpflichtung auf gängige christliche Grundwahrheiten“ legitimiert erscheinen. Steht dabei für Gerber eher die „institutionalisierte Dauerreflexion“ im Hintergrund, die einst Helmut Schelsky thematisiert hat?

Den hier vorgetragenen Gedanken merkt man das Ringen an, dem sogar ein „Beten als Eingeständnis unserer Abhängigkeit und unseres unterstellten Hoffens“ entsprechen könne (90f). Das macht die Lektüre nicht gerade leicht, zumal der Autor sich durch Beigaben in Klammern, Parenthesen und überlange Zitate häufig selbst unterbricht. Die Abfolge der einzelnen Kapitel ist kaum transparent; es handelt sich eher um ein reflektierendes Kreisen um ein existenzielles Problem. Es ist das Problem vieler Zeitgenossen, die – ohne antikirchlich sein zu wollen – den herkömmlicherweise in den Gottesdiensten vertretenen theistisch-metaphysischen Gottesbegriff einfach nicht mehr teilen können. Die von Gerber angepackte Frage ist dringlich. Manche Antworten sind hilfreich: Reden von Gott ist „immer ein symbolisches Reden, ein Reden ‚als ob’“ (67). Im Glauben gehe es um die „Erfahrung, mit dem labilen und fragmentarischen Leben und Zusammenleben vertrauensvoll umzugehen“ (75). Doch bleiben viele Fragen offen. Wie soll nun Gott in seinem Selbstentzug gedacht werden? Er kann ja infolge seines Selbstentzugs gerade nicht mehr gedacht werden. Wie muss die Menschwerdung Gottes in die Bereiche menschlicher Alterität hinein näherhin erläutert werden? Was hat der Mythos von der Menschwerdung Gottes mit dem historischen Jesus von Nazareth zu tun? Diese Fragen waren bereits an „The Gospel of Christian Atheism“ von Thomas J. Altizer zu stellen gewesen, an den manches von Gerbers Ausführungen erinnert. Ist der hier vorgestellte, an der Alterität gewonnene Identitätsbegriff (Levinas) zutreffend und ausreichend angesichts anderer Identitäts-Auffassungen (Erikson, Mead, Habermas)? Kann der Verzicht auf eine „Gesamtlösung“ (Sölle) als definitiv nötig dargestellt werden, ohne selbst eine Art „Gesamtlösung“, jedenfalls einen gültigen „Gesamtrahmen“ zu suggerieren? Der Autor polemisiert mit Recht gegen Wellness-Religiosität. Doch wie muss Alterität umschrieben werden, wenn sie auch die menschlichen Erfahrungen von innerem Frieden, Geborgenheit und Vergebung umfassen soll? Gibt es im Glauben nicht auch die „getroste Verzweiflung“? Welche Bedeutung hat von der Menschwerdung Gottes her die Gemeinschaft? Das Thema „Kirche“ kommt – außer in abwertender Polemik – überhaupt nicht zur Sprache.

Trotzdem ist Gerbers Buch gerade für die Kirchen und ihre Theologien ein höchst bedenkenswerter Beitrag, ein Zwischenruf, der dazu auffordert, den Tod des theistisch-metaphysischen Gottes, der für viele Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit darstellt, wirklich ernst zu nehmen. Christlicher Glaube muss versuchen, sich ohne einen theistischen Gottesbegriff zu artikulieren, aber zugleich zeigen, wie er sich von der Jesus-Tradition her begründet, wenn denn Jesus Christus seine Mitte bleiben soll. Die wesentliche Aufgabe einer nach-theistischen Theologie sehe ich in der Erarbeitung einer plausiblen Christologie. Vielleicht sollte das nächste Buch von Uwe Gerber daher den Titel haben: „Gottlos von ‚Gottes Sohn’ reden“!


Hans-Martin Barth, Marburg