Großscheich der Al-Azhar-Universität zu Besuch in Deutschland
Im März 2016 war Ahmad Muhammad al-Tayyeb, der auf Lebenszeit berufene Großscheich der Kairoer Al-Azhar Universität, in Berlin und Münster zu Gast. Er traf in Berlin mit ranghohen kirchlichen Würdenträgern zusammen, sprach im Bundestag mit Abgeordneten über seine Religion. Bei einer christlich-islamischen Religionskonferenz in Münster wandte er sich gegen den Terrorismus als den schlimmsten Auswuchs der politischen Krisen und betonte: „Alle Muslime sind zum Frieden aufgerufen.“
Die konservative Al-Azhar-Universität in Kairo betreut ca. drei Millionen Schüler in rund 7000 Schulen und mehr als 350 000 Studenten. Sie bildet Imame und Religionsgelehrte für die islamische Welt sunnitischer Prägung aus. Al-Tayyeb ist eine der höchsten Autoritäten des sunnitischen Islam und der islamischen Rechtsprechung und hat als Großscheich der Al-Azhar-Universität den gleichen Rang wie der Ministerpräsident in Ägypten. Er gilt als qualifizierter Intellektueller und anerkannter Wissenschaftler im arabischen Raum. Er war treuer Anhänger Mubaraks und Mitglied des Politbüros der damaligen Regierungspartei NDP und unterstützt heute die Regierungspolitik des Präsidenten al-Sisi. Kritiker sehen daher in Al-Azhar ein Werkzeug des jeweiligen ägyptischen Machthabers zur religiösen Legitimierung seiner Politik.
Differenzierte oder gar kritische Stimmen zur Menschen- und Bürgerrechtssituation in Ägypten sind von al-Tayyeb weniger zu erwarten. Von der Fatwa, die zum Mord an dem deutsch-ägyptischen Politologen Hamed Abdel-Samad aufruft, hat er sich nicht distanziert. Andererseits steht die Al-Azhar mit den Muslimbrüdern und erst recht mit den salafitischen Gruppierungen im Konflikt, da diese die Autorität der Universität anzweifeln. So bekommt die Institution bei der Erstellung islamischer Rechtsgutachten („Fatwas“) zunehmend Konkurrenz von oppositionellen islamistischen Kreisen.
Der Theologe und Philosoph al-Tayyeb, der früher unter anderem auch im saudi-arabischen Riad, in Islamabad und in Paris wissenschaftlich gearbeitet hat, gilt als ruhig und moderat. Er gehört zu den 138 muslimischen Gelehrten aus aller Welt, die im Jahr 2007 den „Brief der 138“, unterschrieben haben. Dieser bemerkenswerte Brief unter dem Titel „A Common Word between Us and You” war eine Reaktion auf die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. und ruft insbesondere Christen und Muslime zu einem Religionsdialog und zum gemeinsamen Handeln für Frieden und Gerechtigkeit auf (www.acommonword.com; vgl. F. Eißler [Hg.], Muslimische Einladung zum Dialog, EZW-Texte 202, 2009).
Seitens der Kirchen Ägyptens wird al-Tayyeb als ein wichtiger Gesprächspartner angesehen, weil er als Garant für eine moderate islamische Richtung gilt. Al-Tayyeb sieht durchaus die Notwendigkeit von Reformen im Islam, will aber zugleich auch die konservativen Kräfte an Al-Azhar binden, um nicht den Einfluss der Universität auf der Arabischen Halbinsel weiter zu verlieren. Al-Azhar bemüht sich seit Jahrzehnten um den innerislamischen Dialog. In diesen Zusammenhang ist auch die Gründung eines „Weisenrates der Muslime“ in Kairo im Jahr 2014 einzuordnen, zu dessen Vorsitzendem al-Tayyeb gewählt wurde. Der „Weisenrat der Muslime“ besteht aus renommierten Gelehrten und Experten aus der gesamten islamischen Welt und verfolgt das Ziel, den Frieden in den muslimischen Gesellschaften zu fördern und die Ursachen der Spaltungen und der Konflikte zu beseitigen.
Al-Tayyeb forderte bei seinem Deutschlandbesuch alle Muslime und insbesondere die islamischen Gelehrten dazu auf, den religiösen Diskurs im Islam zu erneuern, ihn von „fehlerhaften Ideen“ zu befreien, die zum Terrorismus führten. Er zeigte sich davon überzeugt, dass diese Erneuerung gerade durch die Gelehrten der Al-Azhar gelingen könne.
Der Deutschlandbesuch ging auf die Initiative der Universität Münster zurück. Durch den Besuch des Großscheichs wurde das Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) an der Universität Münster als größtes universitäres Islamzentrum in Deutschland in seiner fachlichen Autorität gestärkt und die Arbeit von Mouhanad Khorchide, dem Leiter des ZIT, ausdrücklich gewürdigt.
Bei einem Abendessen im Katholischen Büro in Berlin, zu dem Weihbischof Hans-Jochen Jaschke in seiner Funktion als Vorsitzender der Unterkommission für den interreligiösen Dialog der deutschen Bischofskonferenz Vertreter der Kirchen eingeladen hatte, sprach sich der Großscheich ausdrücklich für eine deutschsprachige Imamausbildung aus und begrüßte die Einrichtung islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Bemerkenswert war zudem sein Vorschlag, einen Gesamtbeirat aller deutschen Muslime zu gründen, der als Interessenvertretung effektiver sei als einzelne Verbände.
Anlässlich eines Vortrags mit Aussprache im Bundestag rief al-Tayyeb die Muslime in Europa dazu auf, die hiesigen Werte zu respektieren und zu verteidigen. Vor Abgeordneten und Vertretern muslimischer Verbände sowie der katholischen, der evangelischen und der koptischen Kirche in Deutschland sagte er laut Presseberichten, Europa habe Werte und Gesetze, die völlig mit dem Islam übereinstimmten. Einen explizit europäischen Islam brauche es nicht, denn der Islam habe religiöse Vollzüge, die überall Anwendung finden könnten. Auf dieser Linie konservativer islamischer Islamauslegung lag auch die Aussage, der Islam bedürfe keiner Modernisierung, wie sie das Christentum durch die Aufklärung erfahren habe. Dies sei nicht nötig, da der Islam zu allen Zeiten ausreichend anpassungsfähig gewesen sei. Auf Rückfragen antwortete al-Tayyeb, Gott stehe für „absolute Glaubensfreiheit“, eine „kleine Kopfsteuer“ solle in einem von Muslimen beherrschten Land von Andersgläubigen lediglich zu deren Schutz erhoben werden. Zum Verhältnis von Mann und Frau betonte der Gelehrte, der Islam stehe für gleiche Rechte für Frauen und Männer. Die Frau diene dem Mann nach islamischem Verständnis nicht aus Pflicht, sondern aus Liebe. Im Gegenzug sei der Mann verpflichtet, für den Lebensunterhalt der Frau zu sorgen.
Andreas Goetze, Berlin