Grüne Religionspolitik und Reaktionen atheistischer Verbände
Bündnis 90/Die Grünen stellten am 17. März 2016 in Berlin einen 38-seitigen „Abschlussbericht der Kommission Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ vor, in dem angesichts der zunehmenden Pluralisierung der religiös-weltanschaulichen Landschaft für religionspolitische Reformen plädiert wird. Gleich in der Einführung wird darauf hingewiesen, dass in der Kommission ein breites Spektrum religiöser und weltanschaulicher Orientierungen repräsentiert war: engagierte Christinnen und Christen, Atheistinnen und Atheisten, Agnostikerinnen und Agnostiker, laizistisch orientierte Menschen (5). Geleitet wurde die Kommission, der 24 Parteimitglieder angehörten, von Bettina Jarasch (federführend) und der Bundesvorsitzenden Simone Peter.
Als Grundsätze und Ziele der Religionspolitik werden u. a. genannt: ihre Menschenrechtsorientierung und die Stärkung von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Zusammenschlüssen, worunter auch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu verstehen seien. Grüne Politik will gemäß ihrem Selbstverständnis Glaubensfreiheit sichern, Gleichbehandlung verwirklichen und Diskriminierung verhindern (7). Das „verfassungsrechtlich garantierte Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht“ wird anerkannt, jedoch mit dem Hinweis verbunden, dass es nicht unbeschränkt gelte und mit anderen Grundrechten ausgeglichen werden müsse. Religionen und Weltanschauungen sollen sich auch im öffentlichen Bereich entfalten. „Wir zielen nicht darauf ab, Religionsgemeinschaften in den privaten Raum zu verbannen“ (7). Allerdings seien legitime Ansprüche von Menschen anderer oder ohne Religionszugehörigkeit auch gegenüber verfassten Religionsgemeinschaften zu stärken. Die Kommission plädiert deshalb dafür, das „historisch gewachsene kooperative Modell“ weiterzuentwickeln. Dies bedeutet an einigen Stellen auch „eine stärkere Entflechtung von Religionsgemeinschaften und Staat“ (8).
Die bearbeiteten Themen lauten: religiöse und weltanschauliche Pluralität (9-20), Arbeitsrecht (21-25), kirchliche Finanzen (26-35), Verfahren im Umgang mit ethischen Grundsatzfragen (36-38). In einzelnen Ausführungen wird deutlich, dass es innerhalb der Partei der Grünen unterschiedliche, manchmal nicht vereinbare Perspektiven gibt, etwa zwischen engagierten Christen einerseits und Laizisten andererseits, die sich in bundesweiten Arbeitskreisen öffentlichkeitswirksam als Säkulare Grüne organisiert haben. Insofern geht es in dem Abschlussbericht auch um innerparteiliche Klärungsprozesse. Die primäre Intention des Berichtes ist allerdings der Versuch, auf die veränderte religiöse und weltanschauliche Landschaft zu reagieren. Auch der religionspolitische Kongress der Partei, der am 17. Januar 2015 in Düsseldorf stattgefunden hatte, sollte dazu beitragen.
Die Grünen plädieren im Grundsatz religionspolitisch dafür, Anerkennungsbestrebungen von Humanisten und Muslimen zu unterstützen. Mit überraschender Klarheit weisen sie in dem Kommissionsbericht jedoch auch darauf hin, dass die vier großen muslimischen Verbände (DITIB, Islamrat, Zentralrat der Muslime und V.I.K.Z.) aus Sicht der Mehrheit der Kommissionsmitglieder zum gegenwärtigen Zeitpunkt „nicht die vom Grundgesetz geforderten Voraussetzungen an eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Religionsverfassungsrechts hinsichtlich Fragen der Bekenntnisförmlichkeit, der Klarheit der Mitgliedschaft und der Gewährleistung allseitiger Religionspflege“ erfüllen (15), dass die DITIB „strukturell der Religionsbehörde der Türkei, und damit der dortigen jeweiligen Religionspolitik, untersteht“ (15). Die Kommission rezipierte hier ein Papier von Volker Beck und Cem Özdemir, das diese im November 2015 vor dem Bundesparteitag veröffentlicht hatten und das im Grundsatz von der Überlegung bestimmt war, „den Islam und andere Religionen der Einwanderer ins deutsche Verfassungsrecht [zu] integrieren“.
Vonseiten humanistischer und atheistischer Verbände wurde der Abschlussbericht durchweg positiv bewertet. Der Vorsitzende des Bundes für Geistesfreiheit in Bayern, Erwin Schmid, wies darauf hin, dass zahlreiche Reformvorschläge des Abschlussberichtes sich mit Forderungen des Humanistischen Verbandes (HVD) deckten. Im Blick auf eine Reihe von Themen wollen atheistische Verbände und die Bürgerrechtsbewegung Humanistische Union allerdings die Rahmenbedingungen des Religionsrechts weitgehender verändern, als dies der Abschlussbericht der Grünen vorsieht.
Ein hohes Maß an Konvergenz zwischen Grünen und organisierten Konfessionsfreien kann im Blick auf die Reform der Feiertags- und Gedenkkultur, des kirchlichen Arbeitsrechtes und des Blasphemieparagrafen sowie des Kirchenaustritts ohne Gebühren konstatiert werden. Anders sieht es bei den Themen Kirchensteuer und Ablösung von Staatsleistungen aus. Diese Kontroverse besteht allerdings auch parteiintern, etwa zwischen Säkularen und kirchlich engagierten Grünen. Atheistische Verbände sehen sich in ihren religionspolitischen Forderungen in einer durchaus großen Nähe zu den Grünen. Wenn im Abschlussbericht ein Lehrstuhl für Humanistik gefordert wird (17), kommen die grünen Politikerinnen und Politiker atheistischen und humanistischen Organisationen ausdrücklich entgegen. Beide Seiten gehen allerdings davon aus, dass eine grundlegende Reform der Kirchenfinanzierung gegenwärtig nicht mehrheitsfähig ist, weder in den Kirchen selbst noch im Deutschen Bundestag.
Schon bald nach der Publikation des Abschlussberichtes lud der Bundesvorstand der Grünen Vertreterinnen und Vertreter säkularer Verbände am 5. April 2016 zu einem ersten Spitzengespräch ein. Teilnehmende waren u. a. Bettina Jarasch, Cem Özdemir, Michael Kellner von den Grünen, der Präsident des Humanistischen Verbandes, Frieder Otto Wolf, sowie Vertreter des Koordinierungsrates Säkularer Organisationen (KORSO), u. a. der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon. Der Abschlussbericht war ein wichtiges Thema des Gesprächs.
Einig war man sich darüber, dass Angehörige von Religionen und Konfessionen und Menschen ohne ein religiöses Bekenntnis gleichberechtigt behandelt werden müssen. Dafür seien gesetzgeberische und andere politische Reformen unverzichtbar. Frieder Otto Wolf betonte während des Treffens, dass der HVD für die „konsequente Umsetzung eines kooperativen Laizismus“ eintrete. Er berief sich dafür auf die grundgesetzlich vorgesehene Trennung von Staat und Kirche bzw. von Staat und Religion und das Grundrecht auf Religionsfreiheit, das als Freiheit zur Religion und Freiheit von der Religion auszulegen sei. In dem Spitzengespräch äußerte Wolf auch seine Einschätzung, dass das Land Berlin mit seinem Ethikunterricht und der Humanistischen Lebenskunde im Blick auf die zukünftige Ausgestaltung des Religionsrechts eine Vorbild- und Vorreiterfunktion einnehme.
Nicht zur Sprache kam allerdings – weder im Spitzengespräch zwischen Grünen und den Vertreterinnen und Vertretern des KORSO noch im Abschlussbericht der Kommission –, dass säkulare Organisationen keine nennenswerten Mitgliederzahlen haben. Der Humanistische Verband kann selbstverständlich für seine Mitglieder sprechen, ebenso der Koordinationsrat Säkularer Organisationen. Der Anspruch, für 25 Millionen Menschen zu sprechen und ihre Interessen zu vertreten, stellt aber eine Vereinnahmung dar, die zurückzuweisen ist. Die Anerkennung eines solchen Anspruchs widerspricht den Prinzipien von Gleichberechtigung und Gleichbehandlung, auch wenn es fraglos eine Vielfalt von Organisationsformen geben darf. Der Humanistische Verband gibt seine Mitgliederzahl mit 25000 an, das sind 0,1 Prozent von 25 Millionen.
Über die Frage der Pluralitäts- und Zukunftsfähigkeit des Staatskirchenrechts bzw. Religionsverfassungsrechts, seine Reformbedürftigkeit und Reformfähigkeit ist selbstverständlich angesichts zunehmender religiöser und weltanschaulicher Pluralisierung intensiv nachzudenken. Die Chiffre vom „kooperativen Laizismus“ von Frieder Otto Wolf, der viele Jahre für die Grünen Mitglied im Europäischen Parlament war, geht von einem Verständnis der deutschen Verfassung aus, die im historisch orientierten, im politischen und im juristischen Diskurs nicht plausibel ist. Heutige grüne Religionspolitik und die weitgehend zustimmenden Reaktionen atheistischer Verbände auf sie zeigen vor allem dies: dass das religionsfreundliche Modell des Verfassungsrechts in Deutschland nicht unumstritten ist und dass die Frage, ob der zunehmende religiös-weltanschauliche Pluralismus zum Laizismus führt, intensiver und besonderer Aufmerksamkeit bedarf.
Reinhard Hempelmann