„Guru von Lonnerstadt“ verurteilt
Vor einem Jahr hatte das Landgericht Nürnberg-Fürth einen 55 Jahre alten Mann und seine 49-jährige Lebensgefährtin aus Franken wegen der Misshandlung von Schutzbefohlenen zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie ihrem schwer kranken, an einer Stoffwechselkrankheit leidenden damals zwölfjährigen Sohn drei Jahre lang notwendige Medikamente vorenthalten hatten. Als Ersatz ließen sie ihn meditieren. Der Mann stellte seinem Stiefsohn in Aussicht, dass seine Erkrankung bis zum 18. Geburtstag geheilt werde, wenn er mehrmals täglich mit ihm meditiere. Dies glaubte ihm der Jugendliche. Zudem erschwerte das Paar dem Sohn, eine andere Meinung einzuholen, indem es ihm jeglichen Kontakt zu seinem leiblichen Vater verbot. Nachdem er auf 30 Kilogramm abgemagert war, floh der zu der Zeit 16-jährige Jugendliche zu seinem Vater – da war seine Lunge schon irreparabel geschädigt. Das Landgericht ging von einem Vorsatz der Mutter und des Stiefvaters aus. Beide hätten durch unterlassenes Handeln in Kauf genommen, dass ein Jugendlicher in eine „potenziell lebensbedrohliche“ Lage geraten sei, urteilte das Gericht. Das übergriffige Verhalten des als „Guru von Lonnerstadt“ bekannt gewordenen Mannes gelangte durch die Fernsehdokumentation „Sektenkinder“ an die Öffentlichkeit.
Gegen das Urteil hatten die beiden Beklagten Revision eingelegt. Dem Mann konnte die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft „Neue Gruppe der Weltdiener“ nicht nachgewiesen werden. Außerdem wies er die Vorwürfe, er sei ein „Guru“, als diffamierend zurück. Er bezeichnet sich dagegen als „Lehrer der zeitlosen Weisheit“.
Der Bundesgerichtshof bestätigte Anfang August das Urteil des Landesgerichts und verwarf die Revisionen der Angeklagten. Die Mutter und ihr Lebensgefährte müssen nun wegen Misshandlung eines schwer kranken Kindes ihre Haftstrafe antreten (Az.: 1 StR624/14). Das Paar sei seiner elterlichen Fürsorgepflicht nicht nachgekommen und habe notwendige medizinische Behandlungen versäumt. Es hätte dem Sohn Medikamente geben müssen – notfalls auch gegen seinen Willen. „Sein Zustand war zuletzt potentiell lebensbedrohlich und hätte bei weiterer Nichtbehandlung innerhalb weniger Wochen zum Tode geführt“, heißt es in der Begründung des Gerichts.
Es ist beruhigend festzustellen, dass sich der Bundesgerichtshof bei der Gewichtung der Rechtsgüter „Kindeswohl“ versus „Religionsfreiheit“ nicht habe irritieren lassen, die auch im Zusammenhang der Zwölf Stämme kontrovers diskutiert wird (vgl. MD 3/2015, 113f). Denn es ist unstrittig, dass Kinder und Jugendliche ein durch die Verfassung abgesichertes Recht auf körperliche Unversehrtheit haben (Art. 2 Abs. 2 GG) und Träger der Menschenwürde sind (Art. 1 Abs. 1 GG). Meditation statt Medizin? Elementare Menschen- und Grundrechte dürfen auch mit dem Verweis auf die Religionsfreiheit nicht verwehrt werden – das signalisiert dieses höchstrichterliche Urteil deutlich.
Fernsehdokumentation „Sektenkinder“:
www1.wdr.de/fernsehen/dokumentation_reportage/menschen-hautnah/sendungen/sektenkinderdasurteil100.html.
Michael Utsch