Häresie
Die Häresiethematik stellt sich als Frage des Umgangs der Kirche mit Lehrorientierungen, die zentrale Inhalte des trinitarischen Gottesglaubens leugnen, obgleich sie für sich beanspruchen, authentischer Ausdruck christlicher Wahrheit zu sein. Sie ist für kirchliches Handeln bleibend relevant, weil dieses unter der Verpflichtung steht, die Identität des überlieferten Glaubensgutes in wechselnden geschichtlichen Herausforderungen zu bewahren und nach „derjenigen Übereinstimmung in der kirchlichen Lehre und Verkündigung“ zu fragen, „die um der Einheit der Kirche selbst willen unerläßlich ist” (Wolfgang Huber). Das impliziert als letzte und äußerste Maßnahme die Möglichkeit, manifeste Abweichungen von der christlichen Glaubenslehre als solche zu identifizieren und eine Distanzierung von ihr zu vollziehen. Vergleichbare Auseinandersetzungen und Abgrenzungen lassen sich auch in anderen Religionen (u. a. Hinduismus, Buddhismus, Islam) beobachten, auch wenn das Gegenüber von rechter Lehre (Orthodoxie) und Irrlehre (Häresie bzw. Heterodoxie) hier kaum ein so großes Gewicht hat wie im Christentum.
Das griechische Wort hairesis, lat. secta, vom Verb sequi (folgen) abgeleitet, bezeichnet im ursprünglichen Sinn eine Richtung, Partei, Schule, Gefolgschaft. Die Kennzeichnung einer Lehre als „häretisch“ setzt die Perspektive eines normativen Standpunkts voraus. Nur im Kontrast zur rechten Lehre kann von Irrlehre (Häresie) gesprochen werden. Die zugeschriebene Fremdbezeichnung hat eine Abgrenzungsfunktion. Dies beginnt bereits zur Zeit des Neuen Testaments, wo hairesis die negative Bedeutung von Sondergruppe und (Ab-)Spaltung bekommt (Apg 24,14; 1. Kor 11,19; Gal 5,20).
Zur Geschichte
Im Neuen Testament finden sich zahlreiche Hinweise auf Lehrauseinandersetzungen mit Irrlehren und Irrlehrern. Dabei zeichnen sich unterschiedliche Modelle des Umgangs mit Gefährdungen christlicher Identität ab: ein stärker dialogisch orientierter Typ etwa in den Korintherbriefen und im Galaterbrief, ein traditionsorientierter Typ in den Pastoral- und den Johannesbriefen. Zur Zeit der Alten Kirche wurde der Konsens der christlichen Lehre in Synoden und Konzilien gesucht. Häresie wurde als Abweichung von der kirchlichen Lehre und der Lehre der Schrift verurteilt. Dazu zählten u. a. synkretistische (Gnostizismus, Manichäismus) und christologische Irrlehren (Adoptianismus, Doketismus). Für die christlichen Gemeinden der ersten Jahrhunderte stellten Gemeinschaftsbildungen im Zusammenhang häretischer Lehrabweichungen eine existenzielle Gefährdung dar, die zur Selbstunterscheidung herausforderte. Die Situation änderte sich grundlegend, nachdem das Christentum zur herrschenden Religion geworden war (nachkonstantinisches Zeitalter).
Die Geschichte der Häresien ist zugleich eine Geschichte der Verfolgungen, die sich aus der engen Verknüpfung von Staat und Kirche (Staatskirche) ergab. In der Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen und dissidierenden Minderheiten beschränkte sich die Kirche nicht auf geistliche Mittel. Sie verleugnete, dass sich das Evangelium, die Botschaft von der freien Gnade Gottes, ohne weltliche Gewalt vermittelt. Mit der Reformation änderte sich die Situation, da Martin Luther Häresie als ein „geistlich Ding“ verstand. Der reformatorische Neuansatz wurde jedoch nicht geschichtswirksam. Im Streit Luthers mit den Schwärmern setzte sich das Modell der Abgrenzung der Kirche unter Zuhilfenahme staatlicher Macht gegenüber den irrenden Ketzern erneut durch.
Neuzeitliche Relativierungen und gegenläufige Bewegungen
In der Neuzeit konnte durch historische Forschung gezeigt werden, dass Häretiker Elemente christlicher Wahrheit oder Vergessenes zur Sprache gebracht haben. Der Anspruch einer Kirche, die Wahrheit zu besitzen und Abweichungen auszuschließen, geriet in die Kritik. Die Relativität bestimmter dogmatischer Ansprüche wurde immer offensichtlicher. Im Zusammenhang mit den konfessionellen Bürgerkriegen in Europa wurde die Forderung nach Toleranz gegenüber Andersdenkenden immer deutlicher erhoben. Noch wichtiger für die „Krise des Häresiebegriffs“ dürften „Verschiebungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche“ sein. Die deutlichere Unterscheidung zwischen Staat und Kirche hatte zur Folge, „dass zur Durchsetzung eines Häresieurteils staatliche Zwangsgewalt nicht mehr in Anspruch genommen werden“ konnte (Wolfgang Huber, 343). Weitere Problematisierungen erfuhr der kirchliche Umgang mit Häresie aus geschichtswissenschaftlichen, dogmenhermeneutischen und sprachphilosophischen Perspektiven. Unter den Bedingungen des modernen Pluralismus scheint es geradezu einen „Zwang zur Häresie“ (Peter L. Berger) zu geben. Der säkulare Rechtsstaat verzichtet auf die Identifikation mit einer bestimmten Religion und ermöglicht dadurch die Freiheit der Religionsausübung.
Gegenläufige Bewegungen lassen sich jedoch auch wahrnehmen. Sie sind in der Notwendigkeit kirchlicher Positionsbestimmungen in gegenwärtigen Konflikten begründet. Es gibt Situationen, in denen das Bekenntnis des Glaubens Widerstand und Unterscheidung beinhaltet. Die Erfahrungen der Bekennenden Kirche im Kirchenkampf (Barmer Theologische Erklärung) haben gezeigt, dass Häresie nicht nur einzelne Amtsträger und sich von der Gesamtkirche separierende Gruppen, sondern auch die Kirche als Ganze betreffen kann, wobei dogmatische Lehrfragen und ethische Orientierungen in einem engen Zusammenhang stehen können. Im Blick auf Rassismus und Antisemitismus ist in der ökumenischen Diskussion von „ethischen Häresien“ gesprochen worden. Im 20. Jahrhundert hat die ökumenische Begegnung der Kirchen dazu beigetragen, den Häresiebegriff zu problematisieren. In bilateralen und multilateralen Dialogen ist an der Überwindung von traditionellen Häresieurteilen gearbeitet worden. Die Konsens- und Konvergenzbemühungen wurden jedoch gleichzeitig durch weiter bestehende Konfessionsgrenzen relativiert. Rezeptionsprozesse ökumenischer Texte trugen einerseits dazu bei, Grundkonsense zu verdeutlichen, andererseits ließen sie die Frage nach bleibenden Grunddifferenzen aktuell werden.
Zum Umgang
Praktische Bedeutung behält die Häresiefrage in verschiedener Hinsicht: u. a. im Blick auf das Verhältnis zwischen Kirche und Sekte und im Grenzfall der Lehrbeanstandung gegenüber kirchlichen Amtsträgern. Lehrbeanstandungsverfahren sind entsprechend dem jeweiligen kirchlichen Selbstverständnis verschieden geregelt, wobei kirchenrechtlich zwischen Lehrbeanstandung und disziplinarischen Maßnahmen zu unterscheiden ist. Das Wort „Häresie“ und der klassische, konfessionskundlich und theologisch orientierte Sektenbegriff stehen in einem engen Zusammenhang. Sekten sind dadurch definiert, dass ihre Differenzen zur Kirche nicht nur stilistischen, sondern kanonischen Charakter haben (z. B. Abwertung bzw. Ergänzung des biblischen Kanons, Ablehnung des trinitarischen oder christologischen Bekenntnisses, eklektische Rezeption der christlichen Tradition). Die Abspaltung von der Kirche kann unmittelbar sein, sie kann aber auch eine sich auf neue Offenbarungen, Visionen und paranormale Erfahrungen berufende Weiterentwicklung sein.
Die evangelische Kirche kennt nicht die Möglichkeit, umstrittene Lehrfragen an ein unfehlbares Lehramt zu delegieren. Kein Amtsträger kann allein entscheiden, was in der Kirche gilt und was jenseits einer legitimen Vielfalt von Deutungsperspektiven christlicher Wahrheit liegt. Das Recht zur „Lehrüberprüfung und -verantwortung ist nach reformatorischem Verständnis nicht exklusiv oder letztinstanzlich an das Bischofsamt gebunden, sondern es kommt allen Gäubigen zu“ (Wilfried Härle, 166). Abweichungen von kirchlicher Lehre können im Dienst einer innovativen Auseinandersetzung mit dem christlichen Bekenntnis stehen und dürfen nicht vorschnell mit Häresie gleichgesetzt werden. Sach- und Gegenwartsbezogenheit müssen in der rechten Verkündigung evangelischer Wahrheit zusammenkommen. Die Wahrheit des Evangeliums vermittelt sich ohne menschliche Gewalt, allein durch das göttliche Wort (sine vi humana, sed verbo), sie ist mehr als das, was in theologischen Sätzen gesagt werden kann. Das kirchliche Dogma und Bekenntnis ist von der göttlichen Offenbarung zu unterscheiden. Im Blick auf Situationen, die die Selbstunterscheidung der Kirche von häretischen Abweichungen notwendig machen, ist zu bedenken, daß Konsens- und Wahrheitsfindung nach evangelischem Verständnis eine prozessuale und kommunikative Struktur aufweisen muss und das kritische Gespräch im „Stadium vorhäretischer Abweichung“ zu suchen ist (Ernst Wolf im Anschluss an Karl Barth, Art. Häresie, in: RGG3, Bd. 3, 14).
Angemessene Entscheidungsfindungen im Zusammenhang der Häresiethematik bedürfen gleichzeitiger Berücksichtigung seelsorgerlicher, theologischer und kirchenrechtlicher Gesichtspunkte. Das Gewissen des Einzelnen ist zu achten. Kriterien kirchlicher Entscheidungen sind die Orientierung an der Heiligen Schrift, am Christuszeugnis als deren Mitte und an den Bekenntnissen der Kirche. Kirchliche Entscheidungen zur Häresiethematik sind vorläufig und müssen sich dort, wo sie im Einzelfall unausweichlich sind, der Geschichtlichkeit, Begrenztheit und Perspektivität menschlicher Wahrheitserkenntnis bewusst bleiben. Gleichwohl kann sich die Kirche, wenn sie ihrem Auftrag treu bleibt, der Aufgabe nicht entziehen, „mit der Christus-Botschaft unvereinbare Auffassungen festzustellen und abzuweisen. Eine solche Entscheidung darf nicht vorschnell geschehen ... Sie ist nur zu verantworten, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, sich über die Mitte des Glaubens zu verständigen und den für die Kirche unverzichtbaren Konsens zurückzugewinnen“ (Pluralismus in der Kirche, in: Was gilt in der Kirche?, 91).
Reinhard Hempelmann
Literatur
Berger, Peter L., Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1980
Betz, Hans Dieter / Schindler, Alfred / Huber, Wolfgang, Art. Häresie, in: TRE 14, 313-348
Dantine, Johannes, Häresie, in: Ökumene-Lexikon, Frankfurt a. M. 1995, 504-508
Härle, Wilfried, Dogmatik, Berlin / New York 1995
Hutten, Kurt, Die Glaubenswelt des Sektierers. Anspruch und Tragödie, Stuttgart 1962
Rahner, Karl, Schriften zur Theologie Bd. 5, Einsiedeln 1962, 527-576
Steck, Karl Gerhard, Die christliche Wahrheit zwischen Häresie und Konfession (TEH 181), München 1974
Was gilt in der Kirche? Die Verantwortung für Verkündigung und verbindliche Lehre in der Evangelischen Kirche. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1985