Hans-Dieter Mutschler

Halbierte Wirklichkeit

Die Grenzen monistischer Welterklärungen

Karl Rahners „gnoseologische Konkupiszenz“

Wissenschaft und Philosophie geben sich objektiv, und es ist auch notwendig, dass sie diese Zielvorstellung haben, ansonsten könnte jeder machen, was er will. Das heißt aber nicht, dass die Vernunft frei von Ideologien ist. Tatsächlich sind Intellektuelle so verführbar wie andere Menschen auch, nur wir rechnen nicht damit. Seit der Aufklärung gilt für den Intellekt die Unschuldsvermutung. Während Luther von der „Hure Vernunft“ sprach, die sich dem hingibt, der am besten bezahlt, war Kant der Auffassung, dass wir uns nur zur Vernunft entschließen müssen („sapere aude“), um vernünftig zu sein. Das „radikal Böse“, das Kant für unser praktisches Handeln durchaus anerkannte und das dem alten Erbsündebegriff entspricht, bezog er nicht auf das Denken. Die Theorie ist unschuldig oder, wie es der Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller ausgedrückt hat: „In dubio pro theoria“.

Das ist natürlich eine Illusion, und wir hätten durch die Katastrophen des Faschismus und des Kommunismus eines Besseren belehrt sein können. Martin Heidegger hat sich z. B. den Nazis unterwürfig angedient und wäre gerne der Vorzeigephilosoph des Dritten Reiches geworden, wenn man ihn nur gelassen hätte. Ernst Bloch war zwar einige Zeit der Vorzeigephilosoph der DDR, aber nachdem sie ihn aus dem Arbeiterparadies vertrieben hatten, hielt er auch noch im Westen an seinen alten Illusionen fest und sang bis zum Schluss Loblieder auf Stalin. Beide Philosophen haben ihre Verirrungen nie bereut. Es gibt aber hier keine Gründe, hämisch zu sein. Menschen sind verführbar, aber bemerkenswert ist, dass wir bei Intellektuellen nicht damit rechnen – und das gilt insbesondere auch für Naturwissenschaftler.

Ohne Zweifel gibt es viele von ihnen, die sich von Ideologien frei halten und die nach bestem Wissen und Gewissen ihre Pflicht tun, nämlich zu forschen und die Wahrheit über bestimmte Sachverhalte herauszubringen. Manchmal aber wird der Wissenschaftler ideologisch. Das ist heute besonders auffallend in den Neurowissenschaften. Dort gibt es nicht wenige, wie z. B. Wolf Singer oder Gerhard Roth, die gehen weit über den wissenschaftlichen Tatbestand hinaus und vertreten grob materialistische Positionen, von denen sie glauben, sie seien eine direkte Konsequenz ihrer experimentellen Arbeit. Das Phänomen ist auch sonst auffällig bei gewissen Physikern und Biologen. Danach muss derjenige, der die Naturwissenschaft ernst nimmt, ein weltanschaulicher Materialist sein, und die Religion hat ausgedient.

Der Theologe Karl Rahner sprach hier von „gnoseologischer Konkupiszenz“. Der Begriff der „Konkupiszenz“ wird zunächst einmal auf das praktische Handeln bezogen, dann nämlich, wenn die Triebe die Vernunft außer Kraft setzen. Nach Karl Rahner, der die aufgeklärte Illusion einer Unschuld der Vernunft ablehnt, gibt es aber auch eine Art von „theoretischer Konkupiszenz“, die er direkt auf das monistische Einheitsbestreben mancher Naturwissenschaftler bezieht, die nicht damit zufrieden sind, bestimmte Naturgesetze herauszubringen, sondern ganze Weltanschauungen erdichten, wonach es in Wahrheit nur Materie gibt und nichts als Materie und wonach das Geistige lediglich ein Sekundärphänomen materieller Prozesse sein soll. In vielen Intellektuellenkreisen gilt dieser materialistische Monismus inzwischen als Normposition. Man ist „aufgeklärt“, man akzeptiert die Naturwissenschaften, und man ist selbstverständlich Materialist.

Schaut man genauer hin, dann zeigt sich allerdings, dass die Naturwissenschaften keine derartige Weltanschauung festlegen. Das wird schon dadurch deutlich, dass Naturwissenschaftler alles Mögliche sein können: Christen, Pantheisten, Buddhisten, Agnostiker, Atheisten usw. Von sich aus sind die Naturwissenschaften weltanschaulich neutral. Sie verwandeln sich nur dann in eine materialistische Instanz, wenn man unter der Hand Zusatzprämissen einführt, die gar nichts mit der Naturwissenschaft zu tun haben. Im Letzten sind es drei Prinzipien, die den Materialismus festlegen und sie betreffen: 1. die Basis, 2. die Statik und 3. die Dynamik der Welt. Es wird sich aber zeigen, dass alle drei Prinzipien zwar gültig sein müssen, wenn der Materialismus wahr sein soll, dass sie aber keine Konsequenz der Naturwissenschaften sind, sondern Dogmen, an die die Materialisten inbrünstiger glauben als so mancher Religiöse an Jesus Christus. (Man wundert sich schon, dass jemand inbrünstig an die Nichtexistenz von etwas glauben kann.)

Die drei Dogmen des Materialismus

1. Als Basis der bunten Erscheinungen dieser Welt setzt der Materialist selbstverständlich die Materie als den letzten tragenden Grund aller Dinge. Das hört sich plausibler an, als es ist, denn jedes Mal, wenn die Physiker behauptet hatten, sie seien auf den letzten Grund aller Dinge gestoßen, kam ein anderer, der sie eines Besseren belehrte. Man sollte sich daran erinnern, dass das griechische Wort „Atom“ das „Unzerschneidbare“, also Unteilbare, bedeutet. Die Vorstellung war die eines letzten Fundaments in den Tiefen der Materie. Aber die vorgeblichen Atome haben sich als teilbar herausgestellt, und es spricht nichts dafür, dass der Forschungsprozess jemals an ein Ende gelangen wird. Die Physik ist einfach nicht dafür gemacht, eine Letztbegründung zu liefern. Das liegt an ihrem hypothetischen Charakter. Physikalische Aussagen sind Wenn-dann-Aussagen. Wenn die und die Voraussetzungen gegeben sind, dann folgt das und das. Aber wer erklärt uns die Voraussetzungen? Man kann zwar die Fundamente tiefer legen, und genau das ist es, was wir unter „Fortschritt“ verstehen, aber wenn wir z. B. die Prinzipien der Newton‘schen Physik aus den Einstein‘schen Gleichungen ableiten, dann müssen wir wieder Voraussetzungen machen, die wir nicht erklärt haben usw. Wir kommen daher nie auf ein Letztes, und deshalb gibt es auch keinen eindeutigen Materiebegriff in der Physik als den letzten tragenden Grund aller Dinge. Es wird oft so getan, als sei der physikalische Massebegriff mit dem der Materie identisch, aber das ist sicher falsch, denn wenn Masse = Materie wäre, dann müssten Kräfte, Wellen, Felder oder die Energie etwas Geistiges sein, da sie ja dann nicht mehr zur Materie gezählt werden könnten. In Wahrheit ist es so, dass alles, was die Physiker beschreiben, zur Materie gehört. Es sind Eigenschaften eines Zugrundeliegenden, das uns nie direkt in dem Blick kommt. Deshalb hielt auch Kant das „Ding an sich“ für unerkennbar. Für die Physik hat er durchaus Recht.

Aber damit scheinen wir in eine Ausweglosigkeit zu geraten: Wenn die Physiker keinen Begriff von „Materie“ haben, woher wissen wir dann, worum es sich dabei handelt, und warum können wir uns so zwanglos darüber verständigen? Der Grund scheint dieser: Materie ist kein theoretischer Begriff, sondern ein praktischer. Immer wenn wir in die Welt eingreifen, spüren wir das Widerständige der Materie. Sie ist das, was unserem Gestaltungswillen Grenzen setzt. Unser Gestaltungswille ist aber etwas Geistiges. Es sind unsere Pläne, die wir konkret realisieren wollen. Aber wenn das so ist, dann muss der Materialismus allein aus diesem Grunde falsch sein, denn wir benötigen zur Definition von „Materie“ den Gegenbegriff des „Geistes“. Geist und Materie sind also Begriffe, die man nur im Doppelpack haben kann, wie Subjekt und Objekt, Sein und Sollen, Sein und Werden, Möglichkeit und Wirklichkeit usw. Niemand ist imstande, einen dieser Begriffe ohne Bezug auf den anderen zu definieren. Sie definieren sich wechselseitig.

2. Die Statik des Universums wird durch das sogenannte „Supervenienzprinzip“ beschrieben. Es besagt in Kürze, dass die materielle Basis den Überbau bestimmt, betrifft also die Statik und die hierarchischen Verhältnisse des Universums. Nach diesem Prinzip kann niemals der Fall eintreten, dass z. B. mein Geist von der Vorstellung A zur Vorstellung B übergeht, ohne dass sich in meinem Gehirn etwas verändert. Die Hirnzustände legen die Geisteszustände zwingend fest, und so ist es mit allen höheren Eigenschaften. Die Materie ist der Schlüssel zur Realität der höheren Stufen.

Nun gibt es aber gravierende Einwände gegen dieses Prinzip. Wenn z. B. der Inhalt unserer Vorstellungen eine soziale Komponente hat, dann könnte der Fall eintreten, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und damit der Inhalt unserer Begriffe, was nicht auf unsere Gehirnzustände zurückgeführt werden könnte. Oder wenn z. B. in der Frühzeit der Evolution Tiere Flaumfedern zur Wärmeregulierung entwickelten, dann waren diese Flaumfedern zugleich nützlich, um einen Sprung in die Tiefe zu bremsen, wenn ein Tier verfolgt wurde und vom Baum sprang, um sich zu retten. Es fand also eine Zweckverschiebung statt, ohne dass sich ein einziges Atom in den Flaumfederchen verändert hätte. Solche Fälle gibt es viele, besonders im Bereich des Sozialen und des Ästhetischen. Auf der Documenta in Kassel wurde einmal ein großer schwarzer Mercedes ausgestellt und vom begeisterten Publikum als Kunstwerk akzeptiert. Dabei hatte sich ebenfalls kein Atom an ihm verändert, aber er war zu etwas anderem geworden. Solche Verhältnisse gibt es überall. Zum Beispiel supervenieren in der Quantentheorie die verschränkten Systeme nicht auf ihren Systemkomponenten. Selbst in den Tiefen der Materie ist das Supervenienzprinzip verletzt. Es ist also keine Konsequenz der Naturwissenschaft. Dasselbe gilt auch

3. für das Kausalprinzip oder, wie man es auch genannt hat, „das Prinzip von der kausalen Geschlossenheit der Welt“. Es hat zum Inhalt, dass ein materieller Weltzustand 1 die hinreichenden Bedingungen zur Verfügung stellt, dass Weltzustand 2 zwingend eintritt. Das heißt: Die Dynamik des Universums hängt an einer geschlossenen Kette, bei der immer das eine das andere notwendig zur Folge hat. Wenn das der Fall wäre, dann hätte der Geist keine Chance, weder der menschliche noch der göttliche Geist. Die Welt selbst, von ihrem materiellen Seinsbestand her, würde alles schon regeln. Wenn ich z. B. aus freien Stücken handle, dann hat die Materie schon alle kausale Arbeit verrichtet, und mein Freiheitsdrang hat keine Chance mehr. In einer solchen Welt könnte auch Gott nicht eingreifen. Er wäre zusammen mit uns zur Untätigkeit verdammt.

So plausibel, wie sich das anhört, so falsch ist es auch, und dies aus mehreren Gründen. Zunächst einmal: Wir gebrauchen das Wort „Kausalität“ in verschiedenen Zusammenhängen ganz verschieden. Man sprach seit Hume gerne von der Kausalität als dem „Zement des Universums“, aber dieser Zement bröckelt, denn er setzt sich aus ganz verschiedenen Komponenten zusammen, die kein Ganzes ausmachen. So ist zwar die Meinung verbreitet, dass die notwendige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung durch deterministische Naturgesetze vermittelt wird. Dann folgt die Wirkung zwingend auf die Ursache. Es gibt aber auch statistische Gesetze wie z. B. in der Medizin. Starke Raucher haben eine Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent, im Alter Lungenkrebs zu bekommen. Aber das heißt, dass das Rauchen den Krebs nicht zwingend zur Folge hat, und umgekehrt kann jemand Lungenkrebs bekommen, der nie rauchte. Hier ist die Notwendigkeit der Verbindung aufgehoben, und wir können nicht mehr von einer „kausalen Geschlossenheit der Welt“ sprechen. Sind es Zufälle, die dafür verantwortlich sind, dass jemand dann doch Lungenkrebs bekommt? Dann wäre der Zufall eine Ursache, und so reden wir ja auch oft genug. Zum Beispiel sind Mutationen die Ursache für die bunte Vielfalt der Naturformen, oder Zufallsschwankungen der Mikrophysik in einem Uranatom sind die Ursache dafür, dass es im Geigerzähler „klick“ macht. Aber das ist ein exotischer Begriff von „Ursache“, denn er würde keinem Naturgesetz folgen und wäre seinerseits keine Wirkung einer noch früheren Ursache, was wir doch gerne fordern, wenn wir die Vorstellung von geschlossenen Kausalketten haben. Mit einem Wort: Wir sprechen von „Ursache und Wirkung“ in ganz verschiedenen Zusammenhängen und haben dann einen völlig verschiedenen Begriff von „Ursache und Wirkung“.

Sehr häufig wird die Auffassung vertreten, dass bei Ursache-Wirkungs-Beziehungen die Ursache energetisch gepowert sein muss, um die Wirkung hervorzubringen, also so ähnlich wie wir Energie aufbringen müssen, um einen Baum zu fällen.

Nun ist es aber so, dass wir in der Physik zahllose Prozesse kennen, die wir mithilfe der Ursache-Wirkungs-Beziehung beschreiben, ohne dass wir mit einem Energieübertrag rechnen. Zum Beispiel ist die Gravitationskraft der Sonne die Ursache dafür, dass die Planeten auf ihren Bahnen verbleiben und nicht etwa davonfliegen. Aber dafür braucht die Sonne keine Energie, sondern der Verbleib der Planeten folgt rein aus dem Drehimpulserhaltungssatz. Oder die Ursache für die Schwingungsfrequenz eines Fadenpendels liegt in der Länge des Fadens. Wenn ich z. B. die Schwingfrequenz erniedrigen möchte, dann muss ich den Faden verlängern. Zu diesem Zweck steckt man keine Energie in die Vorrichtung, sondern man gewinnt sogar welche. Diese ganze Vorstellung, die Ursachen müssten energetisch gepowert sein, stammt also nicht aus der Physik, sondern aus unserem praktischen Umgang mit dem Stoff. Wir müssen Energie aufwenden, wenn wir etwas verändern wollen.

Aber dann haben wir denselben Fall wie beim Materiebegriff. Dieser war auch nur definiert bezüglich unserer Zwecksetzungen, die etwas Geistiges sind. So ist es hier ebenfalls: Wenn wir einen Plan haben, in der Welt etwas zu verändern, dann müssen wir auch Energie zur Verfügung haben. Der Begriff der „Kausalität“ hängt also mit dem des Geistes ursprünglich zusammen, denn Pläne sind etwas Geistiges. Die materialistisch-monistische Vorstellung von der Kausalität als einem einheitlichen Zement des Universums ist eine Illusion.

Damit haben wir ein wichtiges Ergebnis gewonnen. Es verhält sich nicht so, dass die Naturwissenschaft alles und jedes erklärt, sondern sie macht nicht nur theoretische, sondern auch lebensweltlich-praktische Voraussetzungen. Unser praktisches In-der-Welt-Sein ist die Basis aller Wissenschaft, nicht umgekehrt. Erst wenn wir uns in der umgebenden Natur praktisch zurechtgefunden haben, können wir anfangen, Experimente zu machen und Theorien zu entwickeln.

Der heutige Materialismus krankt daran, dass er das natürliche In-der-Welt-Sein nicht wirklich ernst nimmt. Dieses fundamentale In-der-Welt-Sein ist aber weder materialistisch noch auch spiritualistisch zu verstehen. In Wahrheit ist der Mensch ein Seinsknoten, in dem sich Geist und Materie überkreuzen. Wir sind immer beides zugleich und erfahren uns auch als solche. Wenn ich zu viel getrunken habe, wirkt die materielle Substanz des Alkohols auf meinen Geist ein, und wenn ich gut gelaunt bin, stärkt das womöglich mein Immunsystem. Dann wirkt der Geist auf die Materie. Das heißt: Wir sind psychosomatische Wesen mit zwei Polen, einem geistigen und einem materiellen. Aber dann müssen alle Formen des Monismus falsch sein. Weder besteht die Welt aus Materie und nichts als Materie, noch ist sie ein verkleideter, versteckter Geist.

Spiritualistischer und materialistischer Monismus

Auch diesen Monismus des versteckten Geistes hat es schon einmal gegeben. Er liegt dem System Hegels zugrunde. Hegel ging davon aus, dass die Welt ihrer Substanz nach aus Geist besteht und nichts als Geist. Was wir für die Materie halten, ist danach nichts Selbstständiges, sondern sozusagen verkleideter Geist. Hegels Jugendfreund, der Philosoph Schelling, hat die Materie einmal den „gefrorenen Geist“ genannt. Die Vorstellung ist, dass die Welt aus einem einzigen, spirituellen Stoff besteht, den wir analog mit dem Wasserdampf vergleichen können. Der Wasserdampf kondensiert zu flüssigem Wasser oder gefriert zu Eis. In Wahrheit sind es aber immer dieselben Wassermoleküle. Dies wäre also ein geistiger Monismus. Man kann nun zeigen, dass Hegels Geistmonismus in ganz ähnliche Schwierigkeiten gerät wie der heutige materialistische Monismus, nur eben spiegelverkehrt.

Hegel ist überall dort stark, wo er geistige Phänomene interpretiert, also z. B. den Staat, die Kunst, Moralität, Sittlichkeit, Bewusstsein, Selbstbewusstsein usw. Er wird extrem schwach, wenn er die Natur interpretieren muss oder wenn er versucht, die Naturwissenschaften in sein System zu integrieren.

Im heutigen materialistischen Monismus gibt es das inverse Problem, den Geist verstehbar zu machen. Obwohl es seit über hundert Jahren, also seit dem Wiener Kreis, heroische Versuche gab, das Leib-Seele-Problem materialistisch zu lösen, hatte keiner dieser Versuche jemals Erfolg. Wer beim Geist anfängt, kommt nie mehr zur Materie und umgekehrt. Es scheint, dass alle Monismen falsch sind. Sie überfordern unsere kognitiven Kompetenzen. Der Monist will die Welt so sehen, wie Gott sie sehen würde, um sie mit einem einzigen Blick zu überschauen.

In Wahrheit sind wir endliche Wesen, denen sich das Sein nur durch eine Pluralität von Perspektiven erschließt, die wir nicht auf eine einzige reduzieren können. Die wesentliche Differenz der Perspektiven ist die zwischen Wissenschaft und Lebenswelt oder zwischen Theorie und Praxis. Wir können uns wohl bemühen, die beiden in ein Überlegungsgleichgewicht zu bringen, aber wir können sie nicht auf eine einzige Perspektive reduzieren. Dasselbe gilt für das Ästhetische. Das Ästhetische ist ein Drittes jenseits von Theorie und Praxis.

Geist und Materie sind immer verbunden, stehen aber in einer starken Spannung zueinander

Um auf den Anfang zurückzukommen: Karl Rahner sprach von „gnoseologischer Konkupiszenz“ dort, wo die Sucht, ein für alle Mal mit der Welt fertig zu werden, dazu führt, eine differenzierte Ratio außer Kraft zu setzen und die Multiperspektivität des Erkennens monistisch zur Einheit zu zwingen. Im Grunde geschah das auch bei Hegel, nicht erst nur im modernen Materialismus.

In Hegels System ist jede Transzendenz verschwunden. Gott wird pantheistisch mit der Welt verrechnet, und die menschliche Seele ist nur noch der Ausdruck des Leibes. Sie hat keine Eigenständigkeit mehr. Dem entspricht eine monistische Erkenntnistheorie: Hegels Dialektik beansprucht, alle Phänomene in Natur und Geschichte gleichermaßen und mit demselben Begriffsinstrumentarium zu erklären. Das Problem ist also nicht der Materialismus oder Spiritualismus, sondern der alles gleichmachende Monismus.

Die Erfahrung des Menschen mit der Welt und mit sich selber weisen in eine andere Richtung. Wir haben gesehen, dass wir fundamentale Begriffe wie den der „Materie“ oder den der „Kausalität“ nur verstehen können, wenn wir von beidem, Geist und Materie, gleichermaßen Gebrauch machen, und so ist es auch mit unserer subjektiven, leibzentrierten Erfahrung. Wir sind psychosomatische Wesen durch und durch. Weder ein Körper, der sekundär Geist ausdünstet, noch ein wesenloser Geist, der sich zufällig in die Materie verirrt hat, so wie man in das falsche Auto ein- und dann wieder aussteigt. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir gewissermaßen Amphibien zwischen Sein und Nichtsein, Geist und Materie, Idealem und Realem, Trieb und Selbstlosigkeit sind und dass es eine Bequemlichkeit ist, diesen verstörenden Sachverhalt nicht wahrhaben zu wollen.

Die christliche Deutung

Der christliche Glaube deutet dieses in sich Gebrochene als die conditio humana des unerlösten Menschen. Er lehrt Jesus Christus als Urbild des richtigen Umgangs mit dieser conditio humana. Die universale Liebe, die vor dem Tod nicht zurückschreckt, setzt uns ins rechte Verhältnis zu Gott.

Solche Lehren übersteigen alles, was die Vernunft aus sich selbst hätte erfinden können. Sie sind ein Gegenstand des Glaubens, d. h. des Vertrauens auf die erlösende Kraft Christi und die Präsenz des Heiligen Geistes. Sie folgen in nichts aus dem bisher philosophisch Erarbeiteten, sind aber wohlverträglich mit ihm. Was nicht verträglich damit ist, sind alle Formen des Monismus. Deshalb spielt der Glaube in Hegels System so gut wie keine Rolle, während die materialistischen Monisten den Glauben für absurd halten. Das heißt also: Philosophisch und wissenschaftlich kommen wir nur an die Schwelle des Tempels. Wer hinein will, muss auch sie noch hinter sich lassen.1


Hans-Dieter Mutschler, Zürich


Anmerkungen

  1. Eine Anzeige des neu erschienenen Buches von Prof. Mutschler mit dem gleichen Titel „Halbierte Wirklichkeit“ finden Sie auf S. 199.