Handbuch Interreligiöses Lernen
Peter Schreiner, Ursula Sieg, Volker Elsenbast (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen (Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, 740 Seiten, 39,95 Euro.
Das Stichwort „Handbuch“ erregt schnell den Verdacht, man habe es mit einem lexikonartigen, das Thema abschließend behandelnden Werk zu tun, das dann fortan gelegentlich „aktualisiert“ werden könnte. Natürlich ist es hier anders. Interreligiöses Lernen sperrt sich gegen eine abschließende Behandlung, es ist im Fluss, muss immer neu ansetzen, braucht Beziehungen und Menschen, und natürlich auch Konzepte, die sich im Laufe des Prozesses ändern können (und sollten). Davon spricht diese umfangreiche Aufsatzsammlung, die den zahlreichen Aspekten des Themas gewidmet und interreligiös sowie interdisziplinär angelegt ist. Die inhaltlichen Gewichtungen des Buchs sind mit acht großen Bereichen signalisiert.
In den konzeptionellen Texten des ersten Teils wird aus verschiedenen Richtungen die Situation einer verblassenden Binde- und Integrationskraft des Christentums im europäischen Raum und die Neufindung von Funktionen religiösen Handelns und Suchens eruiert. Religion ist in diesem Prozess weniger eine dogmatische Größe als ein Synonym für eine „Fülle von Überzeugungen, Lebensformen, alltäglichen Selbstverständlichkeiten und festlichen Selbstdarstellungen“ (43f), so zitiert Michael Ebertz Alois Hahn. Rolf Schieder plädiert für das Bejahen einer zivilreligiösen Rolle des Christentums in Zeiten, in denen staatliches Gestalten und Formen in der Öffentlichkeit abnimmt. Migration als wichtiger Faktor der religiösen Pluralität (Martin Affolderbach) und politische Rahmenbedingungen (Klaus Lefringhausen) werden u.a. in diesem Teil bedacht, dem ein großer Abschnitt mit Blicken aus mehreren unterschiedlichen konfessionellen und religiösen Richtungen auf das Thema folgt. Auch Darstellungen der pluralistischen Religionstheologie (Reinhold Bernhardt) und des Weltethos (Johannes Rehm) fehlen nicht. Die Schnittstellen von Lernen überhaupt und interreligiösem Lernen, die Frage nach der religiösen Identität und Identitätsbildung, die benachbarten Gebiete weltweiter kontextueller Theologie sowie feministischer Theologie in diesem Zusammenhang sind wichtige Themen des Bandes. Zum Bereich des pädagogisch-konzeptionellen Diskurses finden sich weiterführende Beiträge u.a. der beiden herausragenden Religionspädagogen Karl Heinz Nipkow und Johannes Lähnemann sowie von Ursula Sieg und Ulrike Baumann. Hier werden wissenschaftsgeschichtliche Schneisen geschlagen (Nipkow), es werden Kompetenzen und Elemente des interreligiösen Lernens auf der Basis breiter interreligiöser Erfahrung reflektiert (Lähnemann). Baumann betrachtet im Anschluss an Nipkow insbesondere den Bereich des schulischen Unterrichts konzeptionell, und Sieg differenziert für diesen Bereich noch einmal die verschiedenen Module des Religiösen.
Hier und dort sind weitere religionspädagogische und konzeptionelle Texte zu finden, die Stärke des Bandes besteht jedoch darüber hinaus in der ebenso differenzierten Auffächerung der Praxisfelder des interreligiösen Lernens. Zahlreiche Beispiele aus den unterschiedlichsten Bereichen lassen das konkret werden, was sonst nur eher mühsam theoretisch ausgeleuchtet werden könnte. Wie geht die Frau eines Imams damit um, dass der christliche Gesprächspartner (Hans-Christoph Goßmann) sich mit ihrem Ehemann so sehr ins theologische Gespräch verhakelt, dass das Essen trotz mehrfachen Ermahnens kalt zu werden droht? Auch sperrige Erfahrungen werden nicht verschwiegen, so, wenn der türkische DITIB-Hodscha in Dinslaken-Lohberg damit Probleme hat, dass nicht er, sondern eine Glaubensschwester (Lamya Kaddor) im interreligiösen Gespräch über die Scharia referiert. Die gebürtige Inderin Saraswati Albano-Müller beruft sich auf Mahatma Gandhi und gibt Zeugnis von ihrer respektvollen Haltung gegenüber allen Religionen. Das Berliner Projekt Werkstatt Religionen und Weltanschauungen (Ruthild Hockenjos) hat auch das Interesse der Bundeszentrale für politische Bildung gefunden, die Mannheimer „offene Moschee“ (Bekir Alboga) ist konzeptionell inzwischen weithin bekannt. Trilaterale Projekte wie die „Ständige Konferenz von Juden, Christen und Muslimen in Europa“, einstmals mit dem Hedwig-Dransfeld-Haus in Bendorf verbunden (Halima Krausen), und die „Abrahamischen Foren“ (Jürgen Micksch) gelangen ebenso zur Darstellung wie die „Interreligiöse Arbeitsstelle“ in Nachrodt (Reinhard Kirste), das ACK-Projekt „Weißt du, wer ich bin?“ (Barbara Rudolph), die „Religionsphilosophischen Schulwochen“ in Berlin (Marcus Götz-Guerlin) und die „Nürnberger Foren“ (Johannes Lähnemann).
Die Beiträge halten sich bis auf wenige Ausnahmen, die aus inhaltlichen Gründen in ihrer Grundsätzlichkeit nicht kürzer ausfallen konnten, an eine leicht zu bewältigende Länge. Der Band lädt flüchtige Gelegenheitsleser dazu ein, sich hier und dort an kurzen Texten einzuschmökern. Überall sind Literaturhinweise angefügt, dafür wird normalerweise auf Anmerkungen verzichtet. Das Ende des Buchs bietet eine kurze kommentierte Literaturliste grundlegender Titel und schließlich ein Stichwortregister, das die Erschließung des Bandes erleichtert und seinen Charakter als Handbuch unterstreicht. Nicht ganz nachvollziehbar – dies als kleiner Kritikpunkt zum Schluss – sind für den unvoreingenommenen Leser mitunter die Abgrenzungen und Eigentümlichkeiten der acht Gliederungsbereiche.
Das Buch versteht sich als evangelisches Projekt unter Mitwirkung auch katholischer sowie nichtchristlicher Autoren und Autorinnen. Die konzeptionelle Vorgabe, „den bisherigen Stand theoretischer und praktischer Bemühungen im Bereich interreligiösen Lernens zusammenfassend darzustellen und Weiterentwicklungen anzuregen“ (13), ist hier sicherlich in einer geradezu vorbildlichen Weise zur Realisierung gelangt. Diesem empfehlenswerten Werk ist eine weite Verbreitung und Benutzung zu wünschen, zumal in einer Zeit, in der das interreligiöse Lernen und der Dialog der Religionen, insbesondere die Begegnung mit Muslimen, sich keineswegs einer unhinterfragten Akzeptanz erfreuen.
Ulrich Dehn