Gunda Schneider-Flume

Heilung durch den Glauben?

„Dein Glaube hat dir geholfen“ oder „Dein Glaube hat dich gerettet“, hat dich gesund gemacht, so heißt es an verschiedenen Stellen der Erzähltradition von Jesus von Nazareth im Neuen Testament. Das ist eine Ausdrucksweise, die viele Wünsche provoziert und Hoffnungen weckt. Ob der sprichwörtlich Berge versetzende Glaube auch heute so wirkt, ist die bedrängende Frage manches Kranken. „Der glaub ist ein almechtig ding wie gott selber ist“2, hat Martin Luther formuliert. Allmacht und Allmachtsvorstellungen sind verführerisch, und manche Kranken, denen nach herkömmlichen Vorstellungen nicht mehr zu helfen ist, bei denen alle Medizin versagt, sind empfänglich für die Verführung durch vermeintlich alles bewirkende Allmacht. Haben Menschen durch den Glauben auch über Gesundheit und Krankheit Macht? Kann der Glaube Heilungswunder wirken, hilft er da, wo nichts mehr hilft? Das ist die bange Frage insbesondere von unheilbar Kranken.

Ein Blick auf die biblische Tradition

Im neuzeitlichen Sprachzusammenhang bezeichnet Glaube ein Fürwahrhalten von etwas, was man nicht genau weiß. „Was man nicht wissen kann, muss man halt glauben“, heißt es dann ein wenig spöttisch. Glaube bezeichnet demnach ein ungewisses Wissen. Im biblischen Sprachgebrauch bezeichnet Glaube dagegen ein Festwerden, Vertrauen. Glaube gibt der Existenz Bestand und Halt und bezeichnet von daher auch den Mut und die Standhaftigkeit. Das ist keine intellektuelle oder emotionale Leistung des Einzelnen, insofern steht der Glaube gegen die Leistungs- und Selbstverwirklichungsgesellschaft. Glaube ist ebenso wie das Lebensvertrauen Geschenk und unverfügbar.

In den ersten drei Evangelien begegnet der Glaubensbegriff im Munde Jesu häufig im Zusammenhang mit Heilungsgeschichten. Da wird ein Gelähmter von vier Männern zu Jesus getragen (Mk 2,1-12), durch das abgedeckte Dach wird er hinabgelassen. Dann heißt es: „Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Als daraufhin schriftgelehrte Theologen denken, er lästere Gott, zeigt Jesus seine Vollmacht, indem er den Gelähmten auch noch heilt.

Immer wieder wird zugleich mit der Heilung Glaube zugesprochen. Dem Hauptmann von Kapernaum wird gesagt: „Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast“ (Mt 8,13), obwohl er Heide ist. In der Erzählung von der kanaanäischen Frau – auch sie ist nicht Jüdin und von daher im traditionellen Sinne nicht gläubig! – ist vom Glauben die Rede (Mt 15,21-28), und in der Geschichte von der Heilung der zehn Aussätzigen (Lk 17,11-19) heißt es gegenüber dem dankbaren, zuvor aussätzigen Samariter, der sich vor Jesus niederfallen lässt: „Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.“ In dieser Geschichte sind zehn Aussätzige geheilt worden, nicht nur einer, aber nur bei einem ist vom Glauben die Rede. Schon von daher wird deutlich, dass es keinen automatischen Zusammenhang von Glauben und Heilung gibt! In den Heilungsgeschichten wird vom Glauben erzählt, insofern sind sie Glaubensgeschichten, aber es ist nicht davon die Rede, dass Glaube immer heilt oder Heilung immer an Glauben gebunden ist. Es gibt offensichtlich Menschen, die geheilt werden, ohne zu glauben. Der Glaube aber ist Menschen unverfügbar.

Um was für einen Glauben handelt es sich? Jesus spricht Menschen Glauben zu, die sich mit der Bitte um Hilfe an ihn gewandt haben. Es handelt sich um Menschen, die in aussichtsloser Situation dennoch um Hilfe bitten, indem sie an Jesu Erbarmen appellieren. „Dein Glaube hat dich gesund gemacht“ (hat dich gerettet), sagt Jesus etwa der Frau, die in der Hoffnung auf Heilung in der Menge sein Kleid berührt hat (Mk 5,34). Wie ist diese für uns zunächst befremdliche Aussage zu begreifen? Glaube bezeichnet hier ein von Jesus provoziertes Vertrauen auf die Überwindung der Not. Nicht ein Fürwahrhalten oder Bekennen hat die Frau gerettet, sondern die von Jesus ausgehende Provokation zum Vertrauen. Deshalb traute die Frau Jesus die Wunderheilung zu, die man von ihm im Zusammenhang mit der Rede vom Reich Gottes erzählte. Durch das Geschehen des Glaubens werden Menschen aus sich selbst herausgeholt und auf etwas außerhalb ihrer selbst bezogen, auf das sie sich verlassen können. Glauben stellt sich hier also nicht als fürwahrhaltendes Urteilen dar, sondern als ein Neuwerden: Durch den Glauben wird für die Frau die ganze Wirklichkeit und nicht nur ihr altes Ich verwandelt, und sie hat teil an der Macht und der Möglichkeit dessen, auf den sie vertraut.

In ähnlicher Weise ist vom Glauben die Rede in der Geschichte von der kanaanäischen Frau, die sich mit dem Ruf an Jesus wendet: „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“, damit er ihre besessene Tochter heile (Mt 15,21-28). Sie wird zunächst mit der religiösen Ausflucht abgewiesen: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Aber sie beharrt, sie pocht geradezu auf Jesu Erbarmen, darauf, dass er sich das Leben ihres Kindes angelegen sein lasse. Als hartnäckige Bittstellerin hält die Frau Jesus, der sie mit dem Spruch wegschicken wollte „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde“, eine Binsenwahrheit entgegen: „Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Die Frau ist aufdringlich und beharrlich. Diese penetrante Beharrlichkeit wird Glaube genannt. Was heißt da Glaube? Die Frau bezwingt Jesus mit ihrer Aufdringlichkeit. Woher hat sie diesen Mut? Sie traut sich: „Es muss doch Leben geben für das Kind.“ Sie verlässt sich: „Ich kann es nicht heilen. Herr, hilf mir.“ Sie hält an ihm und damit an der Macht des Erbarmens fest. Die „normale“ Reaktion wäre wohl, „realistisch“ die Not zu akzeptieren; Glaube aber ist Revolte gegen resignierenden Realismus. Irgendetwas hat die Frau gepackt, so dass sie nicht in diesem resignierenden Realismus stecken bleibt. Indem sie sich auf das Erbarmen verlässt, hat sie teil an der einzigen Macht, die die Wirklichkeit neu schaffen kann, an der Barmherzigkeit, die in Jesu Leben, Reden und Handeln gegenwärtig ist.

Der Glaube selbst ist in den Heilungsgeschichten die eigentliche Wende und Hilfe, weil er die rettende Macht ist. Heilungsgeschichten sind Glaubensgeschichten. „Denn wo Glaube ist, da vollzieht sich ..., in welcher Weise auch immer, ein Ganzwerden, ein Heilwerden der Existenz.“3 Das besteht nicht immer in der erwarteten Heilung. Ganz und heil wird ein Mensch im Gegenüber zu Gott, wenn er nicht auf sich allein gestellt bleibt. Insofern können selbstverständlich auch Kranke durch den Glauben „ganz“ werden. Im Glauben werden Welt und Wirklichkeit neu, Menschen und ihre Perspektiven und Hoffnungen verwandeln sich, weil die Macht der Barmherzigkeit Gottes sich als Vertrauen provozierende Möglichkeit inmitten einer aussichtslosen Wirklichkeit zeigt. Das ereignet sich in Situationen von Gesundheit ebenso wie in Situationen von Krankheit. „Das Wesen des Glaubens ist das Partizipieren am Wesen Gottes“4, hat Gerhard Ebeling treffend gesagt. In den Heilungsgeschichten leuchtet etwas von der befreienden Kraft des Wortes vom auferweckten Gekreuzigten auf. Da war Leiden, Elend und Kreuz, Situationen, die man zunächst weder mit der Macht noch mit der Barmherzigkeit Gottes zusammenbringen konnte; dennoch zeigte sich Gottes Leben schaffende Barmherzigkeit gerade am Kreuz: Der Tote wurde auferweckt. Der Glaube verwickelt Gesunde und Kranke in diese Geschichte, so dass sie in ihr den Grund ihres Lebens finden. Es wird erzählt, dass Jesus seine Jünger beauftragte, das Evangelium zu predigen und zu heilen (Lk 9,1f). Ich denke, dass das heute so auszulegen ist, dass das Evangelium zu predigen ist, damit Menschen, Gesunde und Kranke aufgrund der Heilsbotschaft das Lebensvertrauen erhalten, um mit Gesundheit und Krankheit zu leben.

„Hauptsache gesund!“

Zu allen Zeiten wurde Gesundheit hoch geschätzt, Krankheit galt und gilt als Lebenseinbuße. Mit den Erfolgen der modernen Medizin ist diese Wertung möglicherweise noch beherrschender geworden. Nach dem Mediziner Lennart Nordenfelt ist Gesundheit „eine notwendige Bedingung für ein gelingendes Leben“5. Diese Bestimmung entspricht durchaus dem modernen Zeitgeist. Die Leistungsgesellschaft braucht gesunde, starke Menschen. Sie lässt Gesundheit zum höchsten Gut werden. Gesundheit erhält Vorrang vor dem Leben, weil sie erst gelingendes Leben ermögliche. Mit der Feststellung der Gesundheit als notwendiger Voraussetzung gelingenden Lebens sind Kranke von solchem Leben ausgeschlossen. Darauf beruht die „Tyrannei des gelingenden Lebens“6. Dieses Gesundheitsverständnis ist zum Leitbegriff unserer Zeit geworden.

Das umfassende Gesundheitsverständnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das ähnlich vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) formulierte unterstützen die einzigartige Hochschätzung der Gesundheit. WHO: Gesundheit ist „der Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“. ÖRK: „Gesundheit ist ein dynamischer Zustand vollkommenen biologischen, sozialen, psychischen und spirituellen Wohlbefindens, nicht nur die Abwesenheit von Krankheit.“ Begrüßenswert ist einerseits die Feststellung, dass Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit ist, aber bei einer so massiven Betonung von Wellness mag man sich andererseits fragen, wer überhaupt noch gesund genannt werden kann. Jedenfalls bedeuten diese utopischen Definitionen eine starke Belastung für Kranke.

Als Bedingung gelingenden Lebens verändert Gesundheit nicht nur ihren Stellenwert auf der Werteskala der heutigen Gesellschaft. Indem Gesundheit zum uneingeschränkt höchsten Gut wird, ändert sich die Gesundheitsvorstellung auch inhaltlich. Als höchstes Gut nimmt die Gesundheit die Stellung des Lebens selbst ein; die Wünsche zu Neujahr und zum Geburtstag bringen das unüberlegt zur Sprache. „Hauptsache gesund“ – mit diesem Wunsch wird Gesundheit als Grundlage, Voraussetzung und Bedingung eines gelingenden Lebens genannt. Oft wird nicht bemerkt, wie makaber eine solche „Gesundheits-Vergottung“ für chronisch Kranke oder Schwerbehinderte ist.

Ulrich Bach, ein Pfarrer, der aufgrund einer Kinderlähmung im Jugendalter an den Rollstuhl gebunden ist, hat darauf aufmerksam gemacht, wie theologisch verfehlt dieser Wunsch ist, verheerend in seiner Wirkung, denn er ist meist begleitet von dem Urteil: Wertvoll, ja lebenswert ist Leben nur aufgrund von Gesundheit. Ist durch Krankheit eingeschränktes Leben nichts wert, nicht lebenswert? „Gesundheit ist nicht alles im Leben, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“, heißt es im Sprichwort. Das hat schwerwiegende Folgen für die Fragen der Eugenik und der in Deutschland noch verbotenen Präimplantationsdiagnostik, auf die hier allerdings nicht eingegangen werden kann.

Die herrschende Gesundheitsvorstellung verbindet sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Wunschvorstellungen: den Idealen der Jugendlichkeit, der Leistungsfähigkeit und der uneingeschränkten Selbstverwirklichung. Als Ideal ist die Gesundheit zur sportlichen Jugendlichkeit heruntergekommen, die von Plakaten lächelt, zum Konsumgut, das man sich erwirbt, ohne Kosten zu scheuen („Man tut etwas für seine Gesundheit“), zum Gut, das durch Leistung (Fitnesstraining) erhalten oder jedenfalls wieder repariert werden kann. Im Zuge der Individualisierung ist Gesundheit Gegenstand der Selbstverwirklichung.7 Ohne Selbstverwirklichung ist das Leben verspielt.

In diesen Zusammenhang gehört die Vorstellung, dass die reife Persönlichkeit für ihre Gesundheit selbst verantwortlich ist und Menschen an ihrer Krankheit selbst Schuld tragen. Krankheit und Gesundheit sind nicht Widerfahrnis, sondern ausschließlich „Machsal“. Nun gibt es gewiss durch ungesunde Lebensführung und durch Drogenmissbrauch verursachte Krankheit. Deshalb aber allen Kranken die Schuld für ihre Krankheit zuzuschreiben, diese Vorstellung gehört in die uralte Verknüpfung von Krankheit, Schuld und Strafe, die wie ein Fluch auf Kranken liegt. Im Alten Testament gab es, wohlgemerkt vor jetzt über 2000 bis 3000 Jahren, diese Verknüpfung – sie wurde schon dort im Buch Hiob und dann im Neuen Testament von Jesus aufgehoben. Aber immer noch werden Kranke damit gequält.

Der Hochschätzung der Gesundheit entspricht umgekehrt die Erfahrung von Krankheit. Wenn nur Gesundheit gelingendes Leben verspricht, ist Krankheit nicht nur Gefährdung und Bedrohung des Lebens, sondern Krankheit und insbesondere chronische Krankheit ebenso wie jede Behinderung entwerten das Leben völlig. Krankheit ist dann nicht nur Widerfahrnis im Leben, sondern Infragestellung des Lebens überhaupt, weil Krankheit, Behinderung und Einschränkung das Gelingen des Lebens verhindern und Leben so zu einem „Unleben“ machen. Der Einschätzung der Gesundheit als höchstem Gut entspricht die Erfahrung von Krankheit als Vernichtung. Der Kult der Gesundheit führt deshalb nicht selten zu Verzweiflung über Krankheit.

Glaube, Gesundheit und Gottes Allmacht

Glaube ist Partizipation am Wesen Gottes und damit auch an seiner Macht, ja an seiner Allmacht. Das ist die Stärke des Glaubens, aber das bringt auch die besondere Gefahr seines Missverständnisses und Missbrauchs. Je größer die Angst um Gesundheit und Krankheit ist, desto eher ist man versucht, neben der Medizin alle möglichen Heilmittel zu Rate zu ziehen. Heute haben in diesem Zusammenhang diverse Praktiken der Heilung und Pseudoheilung Hochkonjunktur.

Große Zurückhaltung ist gegenüber amerikanischen, so genannten empirischen Untersuchungen geboten, die Gesundheit und Glauben monokausal verknüpfen. Bei diesen Untersuchungen wird nicht bedacht, dass man viele Faktoren untersuchen muss, wenn man feststellt, dass etwa Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften eine deutlich geringere Tumorerkrankungsrate haben als andere. Da gilt es, auf viele Eigenheiten dieser Bevölkerungsgruppe zu achten, vom Grundwasser bis zu den Rauchgewohnheiten. Monokausal ist in der Regel keine Verbindung von Glauben und Gesundheit gegeben. Glaube hat nicht die Macht über die Gesundheit. Analoge Untersuchungen gibt es über Menschen mit positiver Grundstimmung, positives Denken soll gesundheitsfördernd sein. Auch diese Verknüpfung ist ein Mittel, den Kranken die Schuld an ihrer Krankheit zuzuschreiben.

Der Glaube kann in die Nähe von fragwürdigen Beschwörungstheorien geraten. Er ist oft nicht mehr als das geschenkte Lebensvertrauen präsent, das in guten wie in schlechten Zeiten trägt, sondern gilt eher als Mittel zur Beschwörung der Allmacht Gottes, oder aber er maßt sich selbst die heilende Allmacht an. In Erinnerung an die Rede „Dein Glaube hat dir geholfen“ heißt es dann: Wer nur richtig glaubt, wird entweder gar nicht krank oder aber jedenfalls wieder gesund. So wird Glaube zum Zauber wirkenden Wundermittel instrumentalisiert, das als Höchstleistung mit Hilfe des Gebetes Heilungserfolge erzielen soll. Wenn die Wirkung ausbleibt, hat der Kranke selbst die Schuld, man kann dann nämlich aus seiner Krankheit darauf schließen, dass er nicht „richtig“ glaubt. Glaube garantiert vermeintlich die Selbstheilungskraft der Kranken. Nach dieser Vorstellung ist der Glaube mit der Allmacht zum Heilen verbunden, und er ist nicht in der Lage, Leiden und Ohnmacht des Menschen und insbesondere auch Leiden und Ohnmacht Gottes zu ertragen. Dass Gottes Macht, wie der Apostel Paulus bekennt, gerade in den Schwachen mächtig ist, vermag eine auf die Automatik der Heilung setzende Glaubensvorstellung nicht zu fassen. Dass sich Gottes Allmacht in der Niedrigkeit am Kreuz mächtig erwiesen hat, dieses Kernbekenntnis des christlichen Glaubens ist mit den Allmachtsvorstellungen verloren gegangen. Dass Gottes Macht oft gerade die Ermächtigung zu Leiden und zum Ertragen von Schwächen bewirkt, wird ausgeblendet zugunsten der gesellschaftlichen Wunschvorstellung von Stärke und Fitness, für die auch der Glaube missbraucht wird.

Der christliche Glaube, der die Allmacht Gottes in der Hingabe am Kreuz Jesu Christi, im Leiden und im Tod, die überwunden werden, erkennt, vermag auch das Verständnis von Glaube und Krankheit und von Glaube und Heilung zu verändern. Das Wissen darum, dass Gott das Leiden nicht ausschließt, lässt Menschen erkennen, dass der Glaube kein Leben ohne Krankheit und Leiden garantiert. „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, Gesundheit ist die Kraft, mit ihnen zu leben“, so hat der Arzt und Theologe Dietrich Rössler formuliert.8 Das heißt also: Der Glaube garantiert nicht Gesundheit, aber er ist die Kraft, mit Gesundheit und Krankheit nüchtern umzugehen, denn Gesundheit beruht nicht auf einer Apotheose der Stärke, sondern auf der Kraft, heilvoll zu leben.

Heil als Relativierung des Heilsgutes Gesundheit

Was aber heißt heilvoll leben? Die Antwort auf diese Frage ist an das Lebensverständnis geknüpft. Die biblische Tradition kennt heilvolles Leben als einen Lebenszusammenhang von Gott, Mensch, Mitmenschen und Kreaturen. Ein Mensch ist kein Solitär, kein Einzelwesen, sondern ein Beziehungswesen. Heil ist ein Beziehungsgeschehen, in der biblischen Sprache heißt es Gerechtigkeit. Durch das Heil der Gerechtigkeit bringt Gott Menschen, Kreaturen und Natur zurecht. Es geht dabei nicht um ein juridisches Geschehen, nach dem ein jeder durch Strafe oder Lohn das Seine erhält; vielmehr geht es bei der Gerechtigkeit darum, dass Gott einem jeden Menschen gerecht wird, indem er barmherzig auf ihn eingeht.

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gehören zusammen. Barmherzigkeit gibt den Raum und die Zeit zum Leben, Gerechtigkeit bringt jeden Einzelnen zurecht. Deshalb heißt es bei Jesaja von dem erwarteten Heilsbringer: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus“ (Jes 42,3). Diese Verheißung zeigt die Grenze für alle idealisierten Gesundheits- und Kraftvorstellungen auf. Menschen, die sich auf Erbarmen und Gerechtigkeit verlassen können, können auch mit Schwäche und mit Brüchen in ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebens- und Gesundheitsgeschichte umgehen. Das ist ihre Stärke. Das ist die Kraft Christi, von der Paulus spricht: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Gewiss bedeutet das keine Verherrlichung von Krankheit und keine Idealisierung von Schwäche, aber es ist die Entmächtigung der gesellschaftlichen Heilsvorstellung, nach der nur Stärke, Gesundheit und Fitness etwas gelten. Das ist die Verheißung für alle, die nicht stark, gesund, fit und heil sind. Es gibt kein menschliches Elend, kein Leiden und keine Krankheit, die Zeichen für Gottverlassenheit wären. Gott ist mitunter nahe in der vermeintlichen Verlassenheit. Das Kreuz bringt die Korrektur aller Allmachtsvorstellungen und -wünsche und zugleich damit eine Korrektur von Heils- und Gesundheitsvorstellungen. Heil ist das beziehungsreiche Leben, das bis in die tiefste Tiefe reicht. Krankheit und Behinderung sind kein Beleg für Gottferne oder für die Unfähigkeit zu glauben. Der Pfarrer Ulrich Bach hat das immer wieder betont. Für seine Arbeit als Seelsorger und Pfarrer mit Behinderten war es bedeutsam festzustellen, dass weder Krankheit noch Behinderung Zeichen für Trennung von Gott seien, obwohl Menschen das häufig so erklären. Ulrich Bach hat dagegen treffend festgestellt, Christus sei nicht das Ende von Behinderung, aber das Ende der Behinderung als Unwert. „Gottes Heil kann auch ohne des Menschen Heilung des Menschen volles Heil sein.“9 Ein Mensch kann auch ohne Heilung in den Bereich der gnädigen Herrschaft Gottes kommen.


Gunda Schneider-Flume, Leipzig

 

Anmerkungen

1  Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, den die Autorin am 22.5.2009 in der Werkstatt Weltanschauungen des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Bremen gehalten hat.

2  Martin Luther, Sermon von Gewalt Sanct Peters (29.6.1522), Predigten des Jahres 1522, WA 10 III, 214, 26.

3  Gerhard Ebeling, Jesus und Glaube, in: ders., Wort und Glaube 1, Tübingen 1960, 203-254, hier 253.

4  Ebd., 249f.

5  Lennart Nordenfelt, On the Nature of Health. An Action-Theoretic Approach, Dordrecht 1987, 88.

6  Vgl. dazu Gunda Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 32008, besonders 82-113.

7  Vgl. dazu Heinrich Schipperges, Die Vernunft des Leibes. Gesundheit und Krankheit im Wandel, Graz / Wien / Köln 1984, 86ff.

8  Dietrich Rössler, Der Arzt zwischen Technik und Humanität. Religiöse und ethische Aspekte der Krise im Gesundheitswesen, München 1977, 63.

9  Ulrich Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006, 357.