Herausforderungen christlicher Spiritualität
Ein Tagungsbericht
Die Einladung zu der Tagung „Sehnsucht – Der Anfang von Allem. Herausforderung christlicher Spiritualität angesichts des Marktes religiöser Möglichkeiten“ der Diözese Rottenburg-Stuttgart vom 17. bis 18. November 2014 im Tagungszentrum Hohenheim ziert auf der Titelseite ein Wasserglas. Eine Anspielung? Auf das Wasser? Genauer gesagt auf ein Vatikandokument „Jesus Christus, der Spender lebendigen Wassers“. Noch genauer gesagt, eine Anspielung auf die samaritische Frau, die zum Jakobsbrunnen kommt, um Wasser zu schöpfen (Joh 4). Das Glas ist vieldeutig und deutet an: Es geht eigentlich um das Gefäß, das dieses Wasser aufnimmt. Es geht um Spiritualität bei diesem Nachtrag der Diözese zu dem von Papst Benedikt XVI. ausgerufenen Jahr des Glaubens (11.10.2012 bis 24.11.2013). Auf Initiative der Hauptabteilung Glaubensfragen und Ökumene und des Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten Frederic J. Kaminski, in Zusammenarbeit mit wichtigen Kräften der Diözese, wie der Hauptabteilung Kirche und Gesellschaft, zu der die Erwachsenenbildung gehört sowie die Akademie der Diözese, wurde die Tagung konzipiert und vorbereitet. In der Kooperation dieser Professionen allein liegt schon der besondere Reiz der Tagung. Dass über einhundert Teilnehmende dabei waren, vor allem auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus pastoralen Praxisfeldern, verdeutlicht die Aktualität und Brisanz der Tagungsthematik.
H. D. Stäps, Domkapitular und Leiter der Hauptabteilung Glaubensfragen und Ökumene, verwies in seiner Einführung darauf, dass vielen zeitgenössischen spirituellen Suchbewegungen ein esoterischer Zug eigen sei: „Hier wird die Logik des Konsums und Kommerzes auf das Ideelle und Spirituelle übertragen, es wird an die Verfügbarkeit des Ideellen und Religiösen geglaubt.“ Das religiöse Sehnen gehört zum Menschen, aber wenn es als Sehnsucht ausgenutzt wird, dann ist die Grenzlinie zu spirituellem Missbrauch überschritten.
Vor allem auch an der Attraktivität und Faszination dieser spirituellen Angebote zeigt sich eine Entfremdung vieler Menschen von traditionellem Glauben und traditioneller Kirche. Kirchliche Dogmen werden häufig nur noch als eine „Sprachregelung“ empfunden, die eigentlich an einer „wortreichen Sprachlosigkeit“ krankt. Für viele Menschen ist die Unterscheidung der Geister zwischen spiritueller Machbarkeitsideologie und der geschenkten Liebe Gottes kaum noch präsent. Einer solchen Entfremdung bei gleichzeitiger religiöser Sehnsucht ist weder mit einer Belehrung aus der Tradition noch mit einem Autoritätsargument zu begegnen. Wie sieht aber angesichts dieser Ausgangslage die christliche Positionierung aus, auf einem Markt, der zwischen Magie und Methoden der Selbstoptimierung oszilliert?
Marktüberblick über die postsäkulare Religiosität
Die Wahrnehmung des Marktes der spirituellen Möglichkeiten, eine christliche Positionierung zu den Angeboten dieses Marktes und die Herausforderung, wie aus der Begegnung Neues entstehen kann, bilden den Rahmen der Tagung. Schon am Anfang stehen große Begriffe im Raum: Sehnsucht, Religion, Spiritualität, New Age, Esoterik, Tradition, Dogma, Gott, Glaube, Kirche, Macht, Geld…, und ihre Klärung wird aus dem Auditorium angemahnt. Eine Klärung ist aber schwer, sehr komplex und möglicherweise auf einer solchen Tagung gar nicht zu leisten. Und so beginnen die einzelnen Referentinnen und Referenten ohne Begriffsklärung aus der Sicht ihres Fachgebietes und sind auch keineswegs verwundert, dass ihre Beiträge eher unvermittelt aufeinander folgen und sich teils nicht ohne Weiteres ins Tagungsschema einfügen.
Der Einstieg versucht einen Marktüberblick über religiöse Möglichkeiten, Entwicklungen, Veränderungen und Potenziale. Dies ist eine eher religionssoziologische und religionswissenschaftliche Perspektive. Sie wird vertreten durch Christel Gärtner, Professorin aus Münster, mit einem Vortrag zum Thema „Religiöse Sinnstiftung jenseits kirchlicher dogmatischer Vorgaben“ und Reinhard Hempelmann, dem Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Er skizziert die „Suche nach dem universalen Spirit“, damit sind „spirituelle Ansätze und Suchbewegungen außerhalb der institutionalisierten christlichen Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung der Esoterik“ gemeint. Beide machen deutlich, dass die Säkularisierungsthese durch die tatsächliche Entwicklung in den religiös-weltanschaulichen Landschaften ergänzungsbedürftig geworden ist.
Gärtner beschreibt die Entwicklung der religiösen Sinnstiftung und der Sinnfrage in modernisierten, säkularisierten Gesellschaften als eine Entwicklung vom Gottvertrauen zum Selbstvertrauen. Die Individualisierung bringt einen ambivalenten Zwang zur Autonomie mit sich. Ambivalent ist eine solche Autonomie allein dadurch, dass sie einerseits eine große Chance der Multioptionalität auf ein selbstbestimmtes Leben mit sich bringt und andererseits durch den Verlust von evidenten Weltbildern und ethischen Orientierungen ein hohes Maß an Selbstverantwortung mit gesellschaftlichen Beurteilungsmaßstäben einfordert.
Hempelmann zeigt in seinen Annäherungen anschließend, wie in dieser weltanschaulich offenen und ambivalenten Situation die Esoterik durch kompositorische und eklektisch vagabundierende Religionsformen die Sehnsucht nach einer erlebbaren Transzendenz bedient. Der synkretistische Spiritualitätstyp der Esoterik profitiert vom antiinstitutionellen Affekt vieler Menschen – ein Phänomen nicht nur außerhalb der Kirchen. Ein solcher esoterischer Konsum- und Erlebnisvollzug ist im Wesentlichen in einem esoterischen Wirklichkeitsverständnis begründet. Die Spiritualität der Esoterik stellt letztendlich einen panenergetischen Monismus dar, der die gesamte Wirklichkeit als unterschiedliche Manifestation einer unpersonalen Geistenergie begreift. Als spiritueller Leitsatz gilt hier: „Vertraue dem Kosmos, der kosmischen Energie, deren Teil du bist.“ Hempelmann sieht in der Esoterik nicht nur eine berechtigte Suchbewegung gegen die negativen Auswüchse einer instrumentellen Vernunft, sondern auch eine totalitäre Anschauung, die durch ihren Anspruch, ein umfassendes Urwissen über Gott, die Welt und den Menschen zu bieten, vor allem auch des Widerspruchs durch auskunftsfähige Christen bedarf.
Kriteriologie zur Beurteilung spiritueller Angebote
Der zweite Teil der Tagung versucht Kriterien zur Beurteilung von Spiritualität zu benennen. Dies ist ein Versuch zur „Unterscheidung der Geister“ im Hinblick auf die Suche nach einer spirituellen oder fundamentaltheologischen Kriteriologie. Ist der spirituelle Boom mehr als nur eine vorübergehende Mode? Ist Spiritualität eine Frage der Lifestyle-Avantgarde? Geht das und wie geht das, Spiritualität beurteilen? Der Ordinariatsrat für Kultur, Kirche und Wissenschaft in den Bistümern Limburg und Mainz, Gotthard Fuchs, sucht nach Kriterien in der eigenen, katholischen Spiritualitätsgeschichte. Sein Vortrag „Neue Ansätze christlicher Spiritualität. Zur Unterscheidung der Geister. Phänomene – Profile – Probleme“ sieht eine „alte“ Neuheit in der katholischen Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) gegeben. Mit Johannes XXIII. wird der Maßstab aller Spiritualität im Evangelium gefunden: „Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert, nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen.“ Das Konzil in der „verschärften Moderne“ hat wieder zu verstehen gelernt, dass Gott, der mit den Menschen redet, keine rein innerkirchliche Angelegenheit mehr bleiben kann. Darin liegt der Maßstab jeder Spiritualität. Die Einladung zur Gemeinschaft mit Gott in seinem menschgewordenen Wort stärkt die Würde eigener Zustimmung. Seine zugesagte Nähe gibt frei. Darin wird weder ein Dualismus noch ein Monismus, schon gar kein Herrschaftsverhältnis begründet. Autonomie und Heteronomie des Menschen werden nicht gegeneinander ausgespielt. Eine Spiritualität, die das eigene Seelenheil suchte und die Welt und den Menschen „zum Teufel gehen ließe“, entspricht nicht dem Evangelium. Die Welt und der Mensch stehen in einem responsorischen Verhältnis zu Gott, und die Unterscheidung der Geister besteht eben darin, nichts in der Welt mit Gott zu verwechseln. Das ist auch die Trennlinie zwischen Gott und Götze, zwischen Spiritualität und Pseudospiritualität.
Das heißt, es ist unter den gegenwärtigen Marktbedingungen nicht nur mit der Spiritualität im Singular zu rechnen. Folgerichtig ist das Thema von Roman Siebenrock, Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck: „Spiritualitäten. Eine fundamentaltheologische Kriteriologie“. Siebenrock vertritt einen äußerst weiten Spiritualitätsbegriff. Spiritualität ist für ihn eine vorrationale Entscheidung, sein Leben zu leben. Ein Leben, das als menschliches sich in unterschiedlichen Stufen und Formen der Sozialität vorfindet, entwirft und handelt. In den Dimensionen von Du, Ich, Wir, Mitwelt, Natur findet Sinnsuche statt. Alle diese Dimensionen sind aber der Kontingenz unterworfen, also zufällig und vergänglich. Eine solche Kontingenz erzeugt Angst. So ist Spiritualität letztlich als eine Reaktion auf diese existenzielle Angst zu begreifen. Die Frage der Kriteriologie, die sich hier stellt, lautet: Welcher Typus von Spiritualität verdient es, dass der Mensch sein Leben damit deutet und orientiert? Spiritualitäten können „kosmotheistisch“ sein. Der Mensch ist eins mit allem. Sie können aber auch das Personwerden im Angerufensein durch den Anderen, etwa das Gewissen oder die Opfer der Geschichte, betonen. Und schließlich gibt es auch eine Dynamik des Geistes in Form einer Selbsttranszendenz zu den Grenzen des Sinns. Daraus lässt sich nach Siebenrock folgende „kleine Kriteriologie aus christlicher Tradition“ ableiten. Jedes Angebot von Spiritualität muss sich als kritikfähig erweisen.
Der spirituelle Meister, der nicht zwischen sich und Gott unterscheiden kann, verkennt seine Meisterschaft. Wirkliche Spiritualität kennt keine Angst vor der eigenen Spiritualität, aber auch nicht vor dem Loslassen der eigenen Spiritualität. Glücksversprechen gelten nicht nur für Eingeweihte, sondern für alle. Glück kann nicht exklusiv sein. Wahre Spiritualität beendet das Spiel der Rivalitäten. Keiner weiß, wie es ausgeht. Wahre Spiritualität entmächtigt die Apokalyptik als ein Wissen darum, wo es mit der Welt und dem Menschen hinführt, und sie entmächtigt auch die totale Bindung an den spirituellen Meister.
Spirituelle Pilotprojekte
Die Fragestellung, wie die gegenwärtige Spiritualität eine wiederentdeckte Möglichkeit der Selbstvergewisserung und Weltverortung werden kann, wird teils durch Workshops, teils durch Vorträge aus einer pastoraltheologischen Sicht fortgeführt und komplettiert.
Michael Schüßler, designierter Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie an der Universität Tübingen, legt den Schwerpunkt seiner „praktisch-theologischen Beobachtungen“ auf die „Differenzen der Spiritualität“. Der von ihm gezeigte Cartoon: „Vatican II opened up the Church ... and the people left!“ soll deutlich machen, dass gerade das Verlassen der Kirche nicht zu völliger Säkularität führt, sondern diese neuen Formen von Spiritualität säkular, individualisiert und postsäkular durch die jeweils eigene Biografie eines Menschen hindurch zu jeweils individuellen Collagen aus religiöser Sehnsucht führen. Eine solche Sicht will zur Neuentdeckung der Spiritualität außerhalb der Kirchenmauern ermutigen. Für Schüßler folgt daraus eine Freigabe der kirchlichen Sozialformen. Die Grenzen der Kirche sind nicht die Grenzen des Reiches Gottes. Daraus folgt, dass das Evangelium sich nicht an bestimmte Formen der Spiritualität bindet. Und so sind dann aber auch eine kirchliche Selbstökonomisierung, ein Ringen um Marktanteile und eine „Siegerspiritualität“, die als oberstes Kriterium den spirituellen Erfolg als Durchsetzung auf dem Markt der spirituellen Angebote anstrebt, absolute No-Gos. Eine Spiritualität, die die Unverfügbarkeit Gottes aus dem Blick verliert, verliert auch Gott. Schüßler favorisiert den „spirituellen Kontrollverlust“ und eine Wertschätzung der verflüssigten Außengrenze der Kirche. Als konstruktive Konkretion führt er die „Feier der Lebenswende“ für Jugendliche ohne Kirchenzugehörigkeit im Erfurter Dom an. Wenn die These, dass Transzendenz an jeder Ecke lauert, stimmt, dann sieht er keinen Grund, sich nicht auch auf Menschen einzulassen, die ansonsten die Jugendweihe oder keinerlei Sinndeutung in Anspruch genommen hätten. Eine solche „verflüssigte Kirchenberührung“ zeigt sich für ihn auch bei Paaren, die zwar einen Kirchenraum nutzen wollen, aber kein Sakrament wünschen. Hier wird der christliche Glaube in eine Begegnung mit Menschen gestellt, deren Kontrolle und Ausgang er nicht mehr in der Hand hat. Wie eine solche Öffnung der Kommerzialisierung der Spiritualität und einer Funktionalisierung Gottes auf Marktzwecke hin wehren könnte, bleibt eine offene Frage bei seinen Ausführungen.
Die Tagung stellt auch in Workshops und im Abendprogramm weitere Beispiele, Pilotprojekte, kulturelle Spuren in Film, Literatur und dem Ernährungsbereich vor, in denen die Herausforderung solcher spiritueller Infragestellungen und Differenzen aufgenommen und ab- und aufgearbeitet wird. Beispielsweise reflektiert Reinhard Hempelmann im Workshop „Freie Spiritualitäten – Patchwork-Spiritualitäten“ die kirchliche Haltung zu solchen multireligiösen Identitäten und vagabundierender Religiosität. Was macht ihre Faszination aus, und sollte sich die Kirche eher dialogisch-offen oder warnend-abwehrend dazu positionieren? Er plädiert für eine kritisch begleitende und vom Zentrum des Glaubens an den dreieinen Gott her profilierte Haltung. „Damit ist kein Nein zu einem persönlichen religiösen Weg und einem individuellen Religionsvollzug gesagt … Es gehört jedoch zu den Grundlagen christlichen Glaubens, dass der Mensch sich Sinn und Ziel des Lebens nicht selber schaffen kann. Wenn es um die Erfahrung der göttlichen Gnade geht, ist er Empfangender.“
In einem weiteren Workshop stellte Karl-Heinz Steinmetz, Theologe und Privatdozent an der Universität Wien, ein Projekt der Erzdiözese Wien vor: xp-erience. XP steht für die Christusinitialen und soll an das englische Wort experience erinnern. Das Pilotprojekt holte sich Hilfe für diese Form der Pastoral in einem kirchenfernen, eher spirituell-esoterischen Feld bei der Sinus-Studie der einzelnen Marktmilieus. Das fünfköpfige xp-erience-Team wählte sich aus den Marktmilieus das der „ExperimentalistInnen“ aus. „Dieses ist besonders esoterikinteressiert, individuell ausgerichtet und gilt als ‚neue Boheme‘ oder ‚Lifestyle-Avantgarde‘, der es um ungehinderte Spiritualität in einem Leben voller Widersprüche geht.“ Im Projekt ging es darum, bei den Teilnehmenden ihre Lebenserfahrung als geistliche Suchbewegung zu interpretieren und ihre Versuche der Selbsttranszendenz, ohne zu vereinnahmen, in einen christlichen oder religiösen Rahmen einzubetten. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Veranstaltungs- und Erlebnisformate ausprobiert: Mönch oder Nonne in einem Dominikanerkloster, eine Nachtveranstaltung auf einem Berg, ein existenzieller Dialog mit großen Gestalten christlicher Mystik und Versuche der ungegenständlichen Kontemplation aus verschiedenen religiösen Traditionen. Resümee dieses Projekts: „Es hat sich gezeigt, dass sich auch kirchenferne Menschen etwas von der spirituellen Tradition der Kirche, vor allem der Mystik erwarten, wenn diese in einer milieuspezifischen Sprache und Ästhetik präsentiert wird.“ Nachdem das diözesane Projekt an Personal- und Sachressourcen gescheitert ist, wird es nun in anderer Form ehrenamtlich und unter Begleitung der Wiener Dominikaner unter dem Namen „Schola Cordis“ weitergeführt.
Am Ende der Tagung bleibt bei diesem Projekt, wie bei allen anderen Beiträgen, die eine Frage offen: Ist die jeweilige Ansprache einer solchen Sehnsucht, die der Anfang von allem sein soll, tatsächlich ein Ziel und eine Antwort? Führen diese Bemühungen zu einer Spiritualität, die „lebendiges Wasser“ bereithält, das in dem, der davon trinkt, zum Brunnen des ewigen Lebens entspringt (vgl. Joh 4,14)?