Hindunationalismus in Indien erstarkt
Eine Kampagne von Hindunationalisten in Indien hat eine heftige Kontroverse in der Öffentlichkeit ausgelöst. Wie verschiedene Medien berichteten, wurden in einer Reihe von öffentlichen Zeremonien Muslime und Christen in großer Zahl zum Hinduismus „zurückgeführt“. Die hindunationalistischen Nichtregierungsorganisationen Vishva Hindu Parishad (VHP) und Dharam Jagaran Samiti (DJS), die hauptsächlich hinter den Aktionen stehen, nennen es ghar vapsi (Heimkehr) und behaupten, alles geschehe freiwillig. Dahinter steht der Gedanke, dass die Muslime wie die Christen ursprünglich Hindus gewesen seien und – teilweise vor mehreren Generationen – durch muslimische Eroberer oder christliche Missionare zur Abkehr vom Hinduismus veranlasst wurden. Die Betroffenen sprechen von Druck, der ausgeübt werde, und von Zwangsbekehrungen. Seit dem Amtsantritt des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi im Mai 2014 nehmen Berichte über Zwangskonvertierungen religiöser Minderheiten zum Hinduismus durch radikale Hindu-Organisationen zu. Im Dezember 2014 sagte der örtliche DJS-Vorsitzende im nordindischen Agra laut Medienberichten: „Unser Ziel ist es, Indien bis 2021 zu einer Hindu-Nation zu machen. Christen und Muslime haben kein Recht, hier zu bleiben. Entweder werden sie zum Hinduismus konvertiert oder gezwungen, von hier fortzugehen.“
Die Opposition protestiert, doch Narendra Modi äußert sich nicht zu den Vorfällen. Kritiker werfen ihm vor, das Vorgehen zu dulden oder gar zu fördern. Modis Indische Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) stellt seit dem Gewinn der absoluten Mehrheit im Mai 2014 die Regierung. Sie gehört mit VHP und DJS zum sogenannten „Sangh Parivar“, einem Verbund von Organisationen, die der hindunationalistischen Hindutva-Ideologie verpflichtet sind („Ein Land, ein Volk, eine Kultur“). Deren zentrale, radikal-hinduistische Kaderorganisation ist ein hierarchisch strukturierter Kampfbund mit antiislamischer, antichristlicher und antisäkularistischer Ausrichtung: das 1925 gegründete „Nationale Freiwilligenkorps“ Rashtriya Svayamsevak Sangh (RSS), das doktrinär und militant für einen Hindustaat nach Hinduregeln kämpft. Für den RSS können Christen und Muslime keinesfalls vollgültige Inder sein. Es passt ins Bild, dass die BJP ein allgemeines Verbot von Konversionen fordert.
Narendra Modi, selbst früherer RSS-Aktivist, war vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten langjähriger Regierungschef des westindischen Bundesstaates Gujarat. Bei blutigen Pogromen im Frühjahr 2002, in denen mehr als 1000 Muslime getötet und schätzungsweise 150 000 vertrieben wurden, spielte er eine höchst umstrittene Rolle. In der Folgezeit war er in der EU und in den USA eine Zeitlang persona non grata.
In Delhi wurden Anfang dieses Jahres Anschläge auf mehrere Kirchen verübt. Christen sehen sich durch die Regierung nicht genügend geschützt. In Westbengalen wurde im März eine 74-jährige Nonne vergewaltigt, die sich gegen sechs Einbrecher wehrte. Tausende nahmen an Protest- und Schweigemärschen teil. Das sind Momentaufnahmen einer Entwicklung, die nicht nur Christen und Muslime beunruhigt. Im modernen Indien Narendra Modis ist der Hindunationalismus auf dem Vormarsch.
Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Indiens gehören dem Hinduismus an, 13,4 Prozent sind Muslime. Christen machen etwa 2,3 Prozent der 1,27 Milliarden Einwohner aus.
Friedmann Eißler