Hitler, Judas und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit
Innenansichten einer rechtsextremistischen Karriere
Wie wird ein junger Mensch Neonazi? Die Gründe dafür und die Wege dorthin sind mit Sicherheit so unterschiedlich wie die jeweiligen Biografien. Dennoch ist es wohl nicht nur für die Teilnehmer einer EZW-Exkursion im Oktober 2013 nach Bonn von Interesse, was Peter Meier1 in diesem Kreis über seine Biografie und die innere Motivation der Szene berichtete.
Der frühere Aktivist rechtsextremer Kameradschaften wirkte dort 15 Jahre in leitenden Positionen. Sein Auftreten und seine Erscheinung brachten ihm den Spitznamen „Hitler von Köln“ ein. In die rechte Szene hatte ihn eine zufällige Verkettung von Umständen gebracht. Die Verweigerung von argumentativer Auseinandersetzung und die Erfahrung ungerechter Behandlung waren dabei von entscheidender Bedeutung.
Gescheiterte Aufklärung
Schon im Alter von 13 Jahren war Meier politisch sehr interessiert. Er wollte etwas verbessern und er konnte gut reden. So wurde er zunächst Mitglied der Jungen Union. Als sich die Schüler seiner Klasse Informationsmaterial von Parteien besorgen und es im Unterricht vorstellen sollten, erledigte er die Aufgabe gründlich und bestellte Informationen und Programme von allen Parteien – einschließlich der ganz links und ganz rechts. Vor der Präsentation in der Schule siebte der Lehrer aus. Während unter anderem die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands problemlos passieren durfte, verschwanden die rechtsextremen Parteiprogramme kommentarlos in der Giftschublade. Über sie durfte nicht einmal geredet werden. Dieses Verhalten der Lehrkraft verstieß gegen Meiers Gerechtigkeitsempfinden. Warum dürfen die nicht? Warum soll das totgeschwiegen werden? Damit muss es doch eine Bewandtnis haben. Da muss doch etwas Interessantes dran sein. Auch etwas jugendliche Rebellion kam gewiss dazu: „Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich lesen darf.“
Bei den Jungen Nationaldemokraten (JN), der Jugendorganisation der NPD, nahm man den zunächst noch fragend forschenden Jugendlichen mit Freude auf. Dort wurde die Stimmung vermittelt: Bei uns gibt es keine Tabus. Hier kannst du alles fragen. Wir sind diejenigen, die für wirkliche Meinungsfreiheit eintreten – ohne die Denkverbote der Etablierten. Du darfst auch was Kritisches zur Überfremdung und zu den Juden sagen, ohne dass dir jemand das Wort verbietet. So konnte es passieren, dass er im Vergleich zur Atmosphäre in seiner Schule die JN als Ort der größeren Freiheit empfand. Auch spätere Versuche, über die politischen Programme der neurechten Parteien in der Schule Diskussionen anzustoßen, blieben nach seiner Darstellung erfolglos. Seine neuen Sympathien waren in der Schule nicht verborgen geblieben. Trotzdem setzte man sich mit der Thematik nicht inhaltlich auseinander, das Thema blieb einfach verboten. Der Schuldirektor gehörte der SPD an, auf dem Schulhof wurde Infomaterial der Jusos verteilt. Als Meier daraufhin JN-Material zu verteilen begann, wurde hart dagegen vorgegangen. Auch Lehrer, bei denen er früher beliebt gewesen war, schnitten ihn. Hätte ein Lehrer in dieser Phase mal mit ihm einen Kaffee getrunken und in Ruhe und mit nachvollziehbaren Argumenten darüber geredet – vielleicht wäre alles anders gekommen. Das hält er im Rückblick jedenfalls für möglich, denn damals war er noch kein gefestigter Rechtsextremer. Die erfahrene Ausgrenzung jedoch verstärkte und beschleunigte seine Radikalisierung. Die kategorialen inhaltlichen Unterschiede zwischen den Jungen Sozialdemokraten und dem JN-Werbematerial nahm er nicht wirklich wahr. So stand ihm allein die formale Ungleichbehandlung vor Augen, und sie bedeutete einen Verstoß gegen sein Gerechtigkeitsempfinden. Das war nun wiederum Wasser auf die Mühlen der JN. Dort gab es Schulterklopfen für seinen Bekennermut und Trost angesichts der erlittenen Demütigungen: Schau, wie sie dich behandeln – so ist das System.
Seine Eltern waren über die Entwicklung ihres Sohnes entsetzt, konnten aber nichts ausrichten, weil er immer Mittel und Wege fand, seine politischen Aktivitäten an ihren Verboten vorbei zu organisieren. Den Mitschülern war Meiers Engagement eher egal. Manche von ihnen meinten, dass auch sie „Kanaken doof“ fänden. Andere zeigten zwar ihre Ablehnung seiner Ideen, wollten aber einfach nur damit in Ruhe gelassen werden. Vor allem die als ungerecht empfundene Behandlung hätte ihm aber durchaus Solidarisierungen gebracht, berichtet er.
NPD und Kameradschaftsszene
In der Jungen Union, wo Meier seine ersten politischen Erfahrungen gesammelt hatte, war nach seiner Beschreibung nicht viel los. Es gab Stammtischgespräche, aber sonst passierte nichts. Ganz anders bei den JN. Da gab es jede Menge emotionale Erlebnisse. Beim Aufhängen von Plakaten im Wahlkampf von Linksautonomen verjagt zu werden – das gibt Solidarisierungseffekte und schweißt zusammen. Und es entsteht der indirekte Legitimierungseffekt: Was du hier machst, muss richtig sein, weil das andere so falsch ist.
Immer wieder ist in Meiers Ausführungen zu erspüren, dass er sich bei diesen Aktionen eigentlich im Recht fühlt. Die NPD ist nicht verboten, sie darf Plakate aufhängen; wer sie dabei stört, ist im Unrecht. Über die Inhalte und den Menschenhass, den er selbst mit verbreitete, wurde dabei offensichtlich nicht nachgedacht. Die Radikalisierung geht schnell, und es kann sich unheimlicher Hass aufstauen. Schon als 16-Jähriger droht er in SA-Uniform allen Gegnern an, eines Tages auf dem Marktplatz erschossen zu werden.
Die rechtsextreme Szene ist verschiedenen inneren Wandlungen unterworfen. Im Westen war die NPD zunächst eine Partei alter Herren, die sich erst unter dem Parteivorsitz von Udo Voigt radikaleren und damit jugendgemäßeren Kreisen geöffnet hat. Parallel zur NPD haben sich sogenannte freie Kameradschaften organisiert. Als 1999 die von rechten Kreisen heftig angefeindete Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht nach Köln kam, wollten auch die Jugendlichen der JN in Köln dagegen demonstrieren – die NPD hingegen habe daran kein Interesse gehabt. Also gründeten Meier und seine Freunde eine eigene Kameradschaft, zunächst schlicht als „Kameradschaft Köln“, bis sie nach dem SA-Mann Walter Spangenberg benannt wurde. Es kam zum Bruch mit der NPD. Was äußerlich als Schritt in die politische Wirkungslosigkeit aussah, denn eine Kameradschaft ist keine Partei und kann nicht gewählt werden und darüber Einfluss nehmen, stellte sich von innen genau andersherum dar. Dort sah man sich in den freien Strukturen als die eigentliche politisch aktive Kraft. Der parlamentarische Weg würde nichts bringen, sie wollten vielmehr das System an sich ändern. Die Parlamente seien doch „fernab des Volkswillens“, sie hingegen wollten die Menschen direkt erreichen – so schildert Meier die Stimmung.
Diffuse Szene
Früher gab es zwei mögliche Outfits für Neonazis: entweder Glatze und Springerstiefel oder Hitler-Seitenscheitel und Trenchcoat. Wer ein anderes Outfit hatte, wurde ausgegrenzt. Mit langen Haaren konnte man dort also nichts werden. Das hat sich gründlich geändert. Inzwischen ist die Szene ähnlich bunt und vielgestaltig wie andere Jugendkulturen auch. Es gibt autonome Nationalisten, die äußerlich nicht von Punks zu unterscheiden sind, es gibt Asatru-Anhänger, die Volkstänze und Wikingerrituale feiern, es gibt Anhänger der Germanischen Neuen Medizin von Ryke Geerd Hamer – auch wenn diese nur eine Nische füllen. Einige sind dabei, die nur an bestimmten Punkten andocken, aber ihre bürgerliche Existenz und andere Freundeskreise nicht aufgeben wollen. Auch das ist inzwischen möglich – Hauptsache, sie sind dabei. Sie dürfen dann etwas versteckter bei der Demo mitlaufen. Wenn der Organisator nicht nur mit zehn Getreuen auf die Straße will, sondern tausend Leute mobilisieren möchte, dann darf er keine zu strenge Richtungstreue fordern und muss letztlich nahezu jeden mitlaufen lassen, der kommt.
Bei einer solchen inneren Vielfalt ist es nicht verwunderlich, dass Paradoxien und Inkonsistenzen an vielen Stellen zu beobachten sind. Der Protest gegen die Wehrmachtsausstellung setzt ja eigentlich voraus, dass die dort geschilderten Verbrechen ebenfalls als verabscheuungswürdig abgelehnt werden, wenn die Wehrmacht von diesem Makel im Gedächtnis befreit werden soll. Andererseits gibt es in der Szene einige, denen die Wehrmacht bei der Ausrottung der „Untermenschen“ noch viel zu zaghaft vorgegangen ist. Dennoch machen auch sie bei den Protesten mit, weil es darum geht, „unsere“ Wehrmacht, d. h. die eigenen Väter und Großväter nicht zu beflecken. Die ideologische Unterfütterung ist dabei keineswegs bei allen gleichermaßen tief. Es kommt vor, dass die Teilnehmer einer Demonstration gegen Überfremdung anschließend gemeinsam beim nächsten Dönerimbiss zu Mittag essen, ohne das als Widerspruch zu sehen.
Aufmärsche
Von großer Bedeutung für den inneren Zusammenhalt der Szene sind laut Peter Meier die Aufmärsche. Sie sollen zeigen: Wir sind wer. Wir sind viele. Wir können auch Schutz und Sicherheit bieten. Dabei werden interessanterweise die meisten Aktionen nicht in erster Linie der Außenwirkung wegen geplant, sondern die Wirkung nach innen scheint fast noch wichtiger zu sein. Für die Gruppendynamik ist der Abenteuer- und Spaßfaktor entscheidend. Dabei bezeichnet Meier es aus der Perspektive des Organisators als eher ungünstig, wenn wenig los ist und alles glatt durchläuft. Wenn aber eine Antifa-Blockade zu überwinden sei, gebe es mehr Action. Außerdem bekommt die Argumentationsmühle frische Nahrung: „Seht, dort sitzen die linken Straftäter, während wir hier unsere Rechte wahrnehmen.“
Folgt man dieser Argumentation, dann wäre demonstratives Wegschauen der beste Umgang mit solchen Aufmärschen. Die Erfahrung lehrt aber das Gegenteil. Die Demonstrationen um den 13. Februar in Dresden konnten sich unter einer Politik nach der Maxime „Wegschauen und laufen lassen“ zum größten Neonaziaufmarsch in ganz Europa mit zuletzt über 6000 Teilnehmern entwickeln. Erst die erfolgreichen Blockaden der letzten drei Jahre in Verbindung mit vielen anderen Initiativen und Aktivitäten haben diesen Trend umkehren können. Ignoranz löst das Problem nicht, sondern verschafft Normalisierung. Bleiben sie ohne artikulierten Widerspruch, dann können sich die rechtsextremen Demonstranten gegenseitig einreden, sie würden auf der Straße die Stimme einer schweigenden Mehrheit repräsentieren. Das ist bei 10 000 Gegendemonstranten auf der Straße deutlich schwerer. Diese lassen sich dann auch nicht einfach alle pauschal als autonome Spinner diskreditieren. Über den angemessenen Umgang mit rechtsextremen Aufmärschen muss weiter diskutiert werden. Die ideale Lösung ist noch nicht gefunden. Die Bedeutung der Aufmärsche für die innere Stabilisierung der Szene und die emotionale Einbindung neuer Mitglieder sollte dabei keinesfalls unterschätzt werden.
Feind- und Idealbilder
Die Szene lebt von Feindbildern. Der Antisemitismus ist allgegenwärtig, ist aber mehr eine verinnerlichte Grundhaltung als konkrete Aktion oder bewusster Schwerpunkt. Auch die Ausländerfeindlichkeit beschreibt Peter Meier zum Erstaunen der Zuhörer eher als diffus. Angesichts der massiven ausländerfeindlichen Propaganda der NPD, im Blick auf die Mordserie des NSU und in Anbetracht der mehr oder weniger offenen rassistischen Ideologie der „Identitären Bewegung“, die vor Überfremdung warnt und einen Blutsmythos konstruiert, bleiben hier deutliche Fragen. Auch den Umgang mit dem Islam nannte Meier uneinheitlich, weil die in einigen islamischen Kreisen verinnerlichte Judenfeindschaft erstaunliche Solidarisierungseffekte auslösen könne. Aber auch hier sprechen die islamfeindlichen Portale im Internet und die neuen rechtspopulistischen Parteien mit pauschalisierter Islamfeindschaft als Hauptthema („pro-Deutschland“ etc.) ihre eigene deutliche Sprache.2 Von großer praktischer Bedeutung ist das Feindbild „links“, was sich keineswegs auf die Antifa-Gruppen beschränkt.
Den Feindbildern steht eine verklärte Sichtweise auf die „Volksgemeinschaft“ gegenüber, die als Projektionsfläche für die eigenen gesellschaftlichen Utopien genutzt wird. In der Volksgemeinschaft, da ziehen alle an einem Strang, da siegt das Gemeinwohl endlich über individuelle Machtinteressen, da kann die eigene Art ungestört ihr wahres Potenzial entfalten. Ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl verbindet. Ein solches Ideal fördert den starken, den totalitären Staat: Das Individuum muss am gemeinsamen Ziel ausgerichtet werden, damit alle in eine Richtung laufen. Für das große Ziel müssen jetzt auch Opfer gebracht werden – so versucht man sich über die unterschwellig durchaus als falsch erkannten zahlreichen Rechtsbrüche der eigenen Seite hinwegzutrösten.
Musikbotschaften
Von zentraler Bedeutung für die Vermittlung von Ideologie und Lebensgefühl ist die Musik. Kaum jemand in der Szene liest wirklich Programme. Aber Liedtexte kann man lauthals mitsingen. Bei den Konzerten gibt es Spaß, dort kann man Mädels kennenlernen, und der Hauch des Verbotenen adelt über musikalisches Mittelmaß hinaus. In der Musikszene spielt das Netzwerk „Blood and Honour“ eine große Rolle. Die zu diesem Netzwerk gehörenden Bands können in Deutschland nicht legal produzieren. Darum kommen die CDs aus den USA oder Skandinavien.
Fazit
Im Rückblick auf dieses bei der EZW-Exkursion geführte Gespräch wird deutlich, welch elementare Bedeutung der inhaltlich-argumentativen Auseinandersetzung im Umgang mit rechtsextremen Sympathisanten zukommt. Sich ihr zu verweigern und stattdessen auf platte Schlagworte oder schlichte Verbote auszuweichen, ist keine Lösung, sondern Problemverstärker. Um die notwendigen Debatten führen zu können, sollten mehr gezielte Weiterbildungsangebote unterbreitet werden.
Ebenso zeigt sich an der bisherigen Biografie von Peter Meier, wie wichtig es ist, den einzelnen Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Unterscheidung zwischen dem Menschen und der von ihm vertretenen Sache ist in der Praxis nicht leicht. Sie ist auch nicht immer ohne Weiteres durchführbar. Wenn ein ehrenamtlicher Schiedsrichter sich jetzt bei den JN engagiert – soll man ihn im Fußballverein weiter die Spiele pfeifen lassen, damit er nicht durch Ausgrenzung noch tiefer in die rechte Szene hineingetrieben wird? Keinesfalls. Man darf gegenüber Vertretern menschenverachtender Ideologien nicht so tun, als ob das im anderen Kontext keine Rolle spielen würde. Aber ebenso nötig wie eine klare Distanzierung sind intensive persönliche Gespräche mit den Betreffenden, damit diese sich den Argumenten stellen müssen. Schaukämpfe vor Publikum bringen dabei nichts. Aber das persönliche Gespräch, das den Blick für die Lebensumstände der Betroffenen mit inhaltlicher Klarheit zu verbinden weiß, sollte niemals fehlen
Harald Lamprecht, Dresden
Anmerkungen
Name geändert.
Vgl. Friedmann Eißler, Stichwort „Islamkritik und Islamfeindlichkeit“, in: MD 7/2013, 275-279.