Humanismus

Der Begriff Humanismus umfasst verschiedene Bedeutungen und lässt sich u. a. bestimmen: als Renaissance-Humanismus bzw. Epochenbezeichnung, der die Zeit von der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts umfasst; als auf den Pädagogen und Philosophen Friedrich Immanuel Niethammer zurückgehender und 1908 eingeführter Fachbegriff für das Bildungsprogramm des am klassischen Altertum orientierten Gymnasiums mit der Pflege der griechischen und lateinischen Literatur und Sprache; als Bezeichnung verschiedener weltanschaulicher Strömungen, die auswählend Anliegen eines historisch orientierten Humanismusbegriffs aufnehmen und zum christlichen Glauben bzw. zur Religion teils zustimmende, teils dezidiert ablehnende Verhältnisbestimmungen vornehmen.

In der europäischen Kulturgeschichte stellt der Humanismus ein prägendes Phänomen dar, mit Auswirkungen auf Wissenschaft, Philosophie, Politik, Kunst und Religion. In einem erweiterten Sinn wird mit Humanismus heute die Hochschätzung der Menschenwürde und der humanen Werte bezeichnet, deren Begründung und Konkretion im Kontext des weltanschaulichen Pluralismus sehr unterschiedlich und strittig ist. Unter dem Gesichtspunkt einer allgemein zustimmungsfähigen Werteorientierung nimmt die Präambel des europäischen Verfassungsentwurfs Bezug auf die „humanistischen Überlieferungen Europas“.

Zum Renaissance-Humanismus

Der Renaissance-Humanismus beginnt mit Francesco Petrarca (1304-1374), dem „Vater des Humanismus“, und seinem Freund und Schüler Giovanni Boccaccio (1313-1375) und ist eine Bewegung von Gelehrten, die sich vom Italien des 14. Jahrhunderts ausgehend über Europa erstreckt und der es um die „Wiedergeburt“ und Belebung der griechischen und römischen Antike als Bildungsgut geht. Insbesondere der philologische Anteil der Renaissance wird Humanismus genannt, da er die „Bemühungen um das Menschsein“ (studia humanitatis) in den Mittelpunkt stellt und in einem relativ konstanten Fächerkanon die klassische Literatur behandelt (Grammatik, Rhetorik, Poetik, Moralphilosophie, Geschichte). Sein besonderes Gepräge erhält der Humanismus durch seine Distanz zur mittelalterlichen Scholastik mit ihren spitzfindigen und dialektischen Erörterungen; ebenso durch die Loslösung von bisherigen Autoritäten wie Kirche, Feudalgesellschaft, Mönchtum. Zentrale Anliegen sind: die Erneuerung des antiken Bildungsideals, das Eintreten für eine freie Entfaltung des Menschen mit dem Ziel der Vervollkommnung, die Verehrung antiker Lebensweisen. „Die Renaissance-Humanisten waren, was die Bildung des Menschen betrifft, im allgemeinen optimistisch und hatten zu seiner Rationalität, mindestens in den oberen Schichten der Gesellschaft, hohes Zutrauen“ (L. W. Spitz). Der klassische Humanismus ist vor allem Bildungsprogramm, konzentriert auf das Studium antiker Literatur und darauf ausgerichtet, durch die systematisch gesammelten und edierten Werke und Quellen ästhetische und ethische Orientierung zu vermitteln. Da er Bildung nicht als Privileg von Klerikern ansieht, fördert er die Aufwertung der Laien. Ein einheitliches philosophisches Anliegen oder ein alle Vertreter verbindendes Verständnis von Mensch und Welt fehlt ihm. Die nichtchristlichen bzw. vorchristlichen Schriften der Antike werden als Zeugnis der einen von Gott kommenden Wahrheit verstanden.

Besonders durch die Konzile von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449) erfolgte die Ausbreitung des Humanismus nach Frankreich, Spanien, England und Deutschland. Ende des 15. Jahrhunderts hatte er zahlreiche Vertreter in verschiedenen Ländern gefunden; Anfang des 16. Jahrhunderts konnte er an Universitäten Europas Fuß fassen. In Deutschland erlangte Johannes Reuchlin (1455-1522) besondere Bedeutung als gelehrter Kenner der klassischen Sprachen, einschließlich der hebräischen („homo trilinguis“). An Ruhm übertroffen wurde er allerdings von dem Moralphilosophen, Philologen, geistlichen und politischen Schriftsteller Erasmus von Rotterdam (1469-1536), der die überragende Figur des Humanismus („König der Humanisten“) darstellt und in seinem Denken antike Weisheit und Ethik des Christentums in einer Synthese verbindet.

Humanismus – Reformation – Neuhumanismus

Zwischen Humanismus und Reformation bestehen vielfältige Wechselwirkungen. Durch philologische Methoden, Kenntnis der Sprachen, kritische Behandlung der Quellen und Kritik an zeitgenössischen Institutionen bahnt der Humanismus der Reformation den Weg und bleibt auch im konfessionell gespaltenen Abendland zeitweilig ein einigendes Band. Der Humanismus übt bedeutenden Einfluss auf zahlreiche Reformatoren aus (u. a. Melanchthon, Bucer, Zwingli, Calvin). Die zunehmende Resonanz, die die reformatorische Lehre erfährt, trägt gleichzeitig zum historischen Ende des Humanismus bei, nachdem im Streit über die menschliche Willensfreiheit zwischen Luther und Erasmus tiefgreifende und nicht überbrückbare Differenzen deutlich werden. Luthers Anthropologie, die er im Zusammenhang seiner Schriftauslegung und Rechtfertigungslehre entfaltet, bleibt Erasmus fremd. Melanchthon dagegen vertritt eine enge Verknüpfung von Humanismus und Reformation und begründet eine geschichtlich überaus wirksame Richtung, die das evangelische Bildungswesen und die Kulturbedeutung der Reformation maßgeblich beeinflusst. Der Humanismus wirkt auf alle christlichen Konfessionen ein, insbesondere mit seinen pädagogischen und philologischen Leistungen.

Niethammer gehört mit Wilhelm von Humboldt und anderen zum philosophischen und bildungspolitischen Neuhumanismus, dem es um die am Verständnis des Menschen im klassischen Altertum orientierte Bildung am Gymnasium geht. Die Forderung einer stärker mathematisch-naturwissenschaftlich und ausbildungsorientierten Gestaltung wird zurückgewiesen, der Bildungswert der alten Sprachen verteidigt. Die Hochschätzung und Begeisterung für die Antike verbindet sich mit zeitgenössischer Philosophie (Fichte, Hegel, Schelling) und klassischer Dichtung (Herder, Goethe, Schiller). Erziehungsideale sind Freiheit und Selbstbestimmung, auch im Gegenüber zu kirchlichem Dogmatismus und staatlicher Instrumentalisierung des Einzelnen. Die Bildung des Individuums steht im Zentrum des neuhumanistischen Verständnisses des Menschen, das auf preußische und bayerische Schulprogramme besonderen Einfluss gewinnt.

Humanismus in der Moderne

Die philosophische, weltanschauliche und theologische Diskussion zum Humanismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht in nur lockerer Verbindung zum Renaissance-Humanismus, der weltanschaulich nicht festgelegt ist und dessen Vertreter die Hinwendung zur „heidnischen“ Antike mit einem christlichen Selbstverständnis verbinden. Im Zentrum einer Vielzahl moderner Humanismen dagegen steht die philosophische und weltanschauliche Grundeinstellung, die den Menschen als autonomes Subjekt begreift, sich u. a. auf die Aufklärung beruft und auch religionskritische Impulse aufgreift.

Ludwig Feuerbach entwickelt eine von religiösen Grundlagen unabhängige Anthropologie, nach der der Mensch für den Menschen das höchste Wesen ist. Karl Marx versteht sein kommunistisches Programm als Naturalismus und Humanismus. Nachwirkungen dieser Sicht finden sich im Neomarxismus des 20. Jahrhunderts (Herbert Marcuse, Leszek Kolakowski). Martin Heidegger wendet sich gegen alle bisherigen Humanismen, die er als Ausdruck eines zu überwindenden metaphysischen Denkens ansieht, und fordert einen neuen, dem Seinsdenken gemäßen Humanismus. Jean-Paul Satre ist Vertreter einer existenzialistischen Weltauffassung, der gemäß der Mensch zur Selbstkonstitution und Freiheit verurteilt ist. Gegen jede vorausgesetzte Deutung des Menschen wenden sich auch Albert Camus und Maurice Merleau-Ponty, die dem Humanismus zugleich ein politisch-soziales Fundament geben.

Darüber hinaus werden auch naturwissenschaftlich-pragmatistische Einstellungen als Humanismus bezeichnet (Ferdinand C. S. Schiller, William James). Theorien einer humanistischen Psychologie (u. a. Abraham Maslow, Carl Rogers) orientieren sich am Selbstverwirklichungsstreben des Menschen.

Gleichzeitig artikuliert sich Humanismuskritik als ein bereits im 19. Jahrhundert einsetzendes Phänomen, das im 20. Jahrhundert eng mit ideologiekritischen Impulsen verbunden ist. Anthropologie, Dialektische Theologie, Existenzphilosophie und Soziologie kritisieren den Optimismus, Idealismus, die individualistische Engführung und den elitären Charakter humanistischer Strömungen. Humanismuskritik wird auch aus der Perspektive eines technizistischen Utilitarismus vorgetragen. Postmoderne Konzeptionen wenden sich gegen die „großen Erzählungen“, die die Vollendung und Einheit der Menschheit im Blick haben, und kritisieren die Universalismen von Humanismus und Aufklärung. Zugleich gibt es Bemühungen, Humanismus und Religion zu verbinden; so wird ein jüdischer Humanismus aus der mitmenschlichen Begegnung begründet (Martin Buber, Emmanuel Levinas). Vor allem in Frankreich entwickelt sich ein Humanismus katholischer Prägung (Henri Bergson, Maurice Blondel, Henri de Lubac).

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird der Begriff Humanismus für zahlreiche kultur- und gesellschaftspolitische Programme in Anspruch genommen. Im Namen eines säkularen Humanismus (secular humanism) werden vor allem religions-, kirchen- und christentumskritische Konzeptionen vorgetragen, so z. B. von Freidenkern und Atheisten (u. a. Deutscher Freidenker Verband, Humanistischer Verband Deutschlands, Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten, Verein Jugendweihe Deutschland, Giordano Bruno Stiftung, Humanistische Akademie Deutschland). Bemerkenswert ist, mit welcher Zurückhaltung der Atheismusbegriff verwendet wird. Humanistisch wird mit vieldeutigen Begrifflichkeiten assoziiert wie säkular, weltanschaulich ungebunden, aufgeklärt, autonom, konfessionsfrei. Im Namen der Wissenschaft möchten manche Humanisten eine naturalistische und atheistische Weltanschauung zur Norm erheben. Die Berufung auf die humanistische Tradition in atheistischen und freidenkerischen Milieus wird dem prägenden Phänomen Humanismus und seiner Bedeutungsgeschichte durchweg nicht gerecht.

Einschätzung

Moderne Reflexionen spiegeln Vielfalt und Gleichzeitigkeit religiös-weltanschaulicher Orientierungen wider. Was unter Humanismus in den jeweiligen Zusammenhängen verstanden wird, entzieht sich einer geschlossenen Beurteilung und muss differenzierend wahrgenommen werden. Im modernen Diskurs hat der Humanismusbegriff durch inflationären Gebrauch und durch Instrumentalisierung seine Eindeutigkeit eingebüßt. Ebenso zeigt sich, dass der Versuch, Menschenwürde und Menschenrechte unter Absehung von religiös-weltanschaulichen Überzeugungen zu begründen, offensichtlich nicht durchführbar ist. Ethische Orientierungen bleiben auf bestimmte Weltdeutungen bezogen. Weltanschauliche Überzeugungssysteme „sind nicht etwas, was im Leben auftreten oder ausbleiben könnte, sondern eines seiner wesentlichen, faktisch niemals fehlenden Momente“ (E. Herms). Auch in säkularisierten und durch weltanschaulichen Pluralismus geprägten Gesellschaften, in denen christliche Traditionen und Lebensorientierungen ihre Selbstverständlichkeit einbüßen, setzt menschliches Handeln und Leben implizite oder explizite Gewissheiten und Überzeugungen voraus.

Kriterien für einen aus christlicher Perspektive sich verstehenden Humanismus sind die Berücksichtigung der theonomen und personalen Grundstruktur des Menschseins, seiner Freiheit, Endlichkeit und Verantwortungsfähigkeit. Christlicher Glaube versteht den Menschen als Ebenbild Gottes, das zur Freiheit und Verantwortung berufen ist. Angemessen wird das christliche Verständnis des Humanen dann zum Ausdruck gebracht, wenn die Gottesbeziehung des Menschen im Horizont von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung interpretiert wird.


Reinhard Hempelmann


Literatur

Art. Humanismus / Humanität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Basel / Stuttgart 31974, 1217-1230

Buck, August, Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Freiburg i. Br. 1987

Hauschild, Wolf-Dieter, Lutherische Reformation und Humanismus, in: ders., Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Gütersloh 21999

Herms, Eilert, Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tübingen 2007

Schwan, Alexander, Humanismus und Christentum, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (CGG), Bd. 19, 1981, 5-63

Southern, Richard W., Scholastic Humanism and the Unification of Europe, Vol. I, Oxford u. a. 1995
Spitz, Lewis W., Artikel Humanismus / Humanismusforschung, in: TRE, Bd. 15, Berlin / New York 1986, 639-661 (Lit.)