Humanismus: Grundbegriffe
Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf (Hg.), Humanismus: Grundbegriffe, Verlag de Gruyter, Berlin/Boston 2016, 436 Seiten, 149,95 Euro.
2013 hatte Florian Baab seine Promotion „Was ist Humanismus? Geschichte des Begriffs, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute“ veröffentlicht. Unter der Betreuung von Eberhard Tiefensee war die Arbeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt als Promotion angenommen worden.
Diese Untersuchung rief damals in den Kreisen der organisierten humanistischen (= freigeistigen) Bewegungen in Deutschland ein ungewöhnliches Echo hervor. Horst Groschopp, zweifellos einer der führenden Intellektuellen dieser Szene, veröffentlichte eine 31 Seiten umfassende Rezension – also quasi einen eigenen Aufsatz zum Thema auf seiner Homepage. Man kann diese Rezension und alle weiteren Diskurse zu Baabs Arbeit durchaus so verstehen, dass dieser mit der Frage „Was ist Humanismus?“ einen wichtigen Punkt, vielleicht sogar die zentrale Frage getroffen hatte. Denn es gibt in den Kreisen der freigeistigen Bewegungen zwar noch atheistische und kirchen- bzw. religionskritische Organisationen wie die Deutschen Freidenker (DFV) oder den Internationalen Bund der Konfessionslosen und AtheistInnen (IBKA), die ihre Aufgabe in einer Kritik aller Religion sehen, aber zumindest der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) hat sich von alten kirchenkritischen Positionen längst entfernt. Ihm geht es vielmehr darum, kirchenfernen und konfessionslosen Menschen eine religionslose Weltanschauung anzubieten – mithin eine „humanistische Weltanschauung“. Damit stellt sich die Frage, was Humanismus ist bzw. sein könnte, mit großem, geradezu existenziellem Ernst.
Die vorliegende Publikation bietet die erste profilierte Gesamtschau des Themas aus säkularer Perspektive. Der Band erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern „bietet Hinweise und Beiträge“ und „zeigt die Notwendigkeit von Ergänzungen“ (1). Die Herausgeber haben häufiger zum Thema publiziert. Hubert Cancik war Professor für klassische Philologie in Tübingen, Horst Groschopp ist Kulturwissenschaftler und war von 2003 bis 2009 Präsident des HVD, Frieder Otto Wolf ist Präsident des HVD und Honorarprofessor für Philosophie in Berlin. Insgesamt sind an dem Werk 19 Autoren beteiligt. Naturgemäß ist die Qualität der Beiträge unterschiedlich; neben interessanten Texten stehen solche, die sich recht mühsam lesen und sehr abstrakt sind, manche fassen zusammen, was die Autoren bereits häufiger publiziert haben.
Der Band untergliedert sich in einen relativ kleinen systematischen Teil mit Beiträgen zu Humanismus, Humanität, Humanitarismus usw. sowie einen 38 Stichworte umfassenden Teil mit Konkretionen u. a. zu Freundschaft, Gerechtigkeit, Glück, Liebe, Meditation.
Für die Herausgeber ist Humanismus „ein offenes System“, ein „pädagogisches Programm“, eine „kulturelle Bewegung“, ein „Teil der antiken und modernen Aufklärung und Renaissancen“, eine europäische Tradition, eine universale Weltanschauung (10). Alle diese „Bestimmungsstücke“ bilden keine widerspruchsfreie, abgeschlossene Totalität – „vielmehr sind Unvollendetheit und Offenheit notwendige Eigenschaften von Humanismus als System“ (10). Salopp möchte man einwerfen: Für die Autoren und Herausgeber scheint Humanismus irgendwie alles zu sein, was gut ist bzw. was von ihnen als gut empfunden wird. Damit ist, folgen wir Herbert Cancik, Humanismus „keine Religion, auch keine ‚Ersatzreligion‘“; Humanismus hat „kein sakrales Lehramt“, „keinen inspirierten Kanon heiliger Schriften“, ist „keine kohärente Philosophie“. Gegen Florian Baab wird postuliert: Jede Kritik am Humanismus, die „eine zentralisierte, hierarchische organisierte Offenbarungsreligion … als einzigen Maßstab“ benutzt – hier wird zweifellos an die römisch-katholische Kirche gedacht –, „ist im Ansatz verfehlt“ (11).
Dass der Humanismusbegriff mitunter schwammig ist und bleibt, zeigen viele Äußerungen, die en passant fallen. So lesen wir z. B. mit Blick auf die Pluralisierung in der Bestattungskultur: „Das Bestattungswesen ist multireligiöser und multikultureller geworden, ein Zeichen von Humanisierung“ (156). In diesem Artikel nennt Groschopp Kriterien, an denen er eine humanistische Bestattungskultur orientieren möchte: Individualität, Selbstbestimmung, Toleranz, Solidarität und Barmherzigkeit. Alles dies unter zwei Prämissen: dass alle Menschen in Leben und Tode gleich sind und Tod und Trauer „keiner Berufung auf religiöse Axiome“ bedürfen (156). Sicher: Der zuletzt genannte Punkt zeigt die freigeistige Gesinnung des Autors – alle anderen Aspekte, besonders die der Gleichheit im Tode, sind in vielen religiösen Traditionen ebenso verankert.
Interessant sind die Beiträge zu Themen, die man in einem solchen Lexikon nicht erwartet. Das gilt z. B. für den Artikel „Seelsorge“ (367-375). Der Autor legt seinen Fokus auf „‚weltliche‘ Seelsorge“ (370) und rekurriert auf Wilhelm Börner (1882 – 1951), der diese Formel erstmals genutzt hatte. Eine humanistische Seelsorge, so erfahren wir, „hätte ihren Schwerpunkt in existentiellen Sinnfragen und ethischen Orientierungen, jenseits von religiösen Gewissheiten, kirchlichen Lehren und anderen weltanschaulichen Oktroi“ (374). Der Beitrag endet mit der Feststellung, dass der weltliche Seelsorger Situationen aushalten muss, in denen „Trost und Sinn fern sind“ (374). Ich möchte anmerken, dass auch christliche Seelsorger viele Situationen kennen, in denen Trost und Sinn fern sind; dennoch ist klar, was die Autoren meinen.
Horst Groschopp schreibt in seinem Artikel zur Freidenkerbewegung, dass „die ‚klassische‘ Freidenkerbewegung … mit Beginn des 21. Jahrhunderts und der Entstehung des ‚neuen Atheismus‘ – weitgehend ein Medienereignis – an ihr Ende (kam)“ (163). Erklärend fügt er hinzu: „Die sie ursprünglich produzierenden Umstände (mangelnde Trennung von Gesellschaft und Religion bzw. Kirche und Staat) wandelten sich radikal. Die sie stützenden politischen Sondermilieus lösten sich auf (im 19. Jahrhundert der Liberalismus; im 20. Jahrhundert der Sozialismus). Die ihre Organisationen befördernden sozialen Kräfte, die Bevölkerungsgruppe der ‚Konfessionsfreien‘ … vergrößerte sich zwar auf derzeit 36 Prozent, aber ein gemeinsames Subjekt bildet sie nicht“ (163). Das ist völlig richtig. Man könnte allenfalls hinzufügen, dass der ganze Streit um die Frage, was denn nun Humanismus sei, und damit auch das vorliegende Buch dem dienen, der humanistischen Bewegung einen Kern und ein Profil zu geben. Folgerichtig heißt es in einem Werbetext des Verlags: „Der Band resümiert einschlägige wissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre und bildet eine solide Grundlage nicht nur für weitere Forschungen, sondern auch für den praktischen Humanismus.“ Dies ist, worum es den Autoren geht: Eine alltagstaugliche Weltanschauung zu begründen, die ohne Religion dem Menschen Halt und Orientierung gibt und die ihn im besten Sinne des Wortes zu einem guten Menschen macht. Man kann das aus religiöser Perspektive überflüssig finden – doch immer mehr Menschen können mit den Antworten der Kirchen nichts mehr anfangen. So gesehen belebt Konkurrenz die Frage nach dem rechten Leben. Ob die Antworten der humanistischen Organisationen überzeugen, bleibt abzuwarten. Das vorliegende Lexikon ist allen zu empfehlen, die sich genauer mit nichtreligiösen Lebensentwürfen beschäftigen wollen – oder müssen.
Andreas Fincke, Erfurt