„Ich gehör´nur mir“
Eine Jugendfeier des Humanistischen Verbandes
Es ist Anfang Juni 2010. Wie andernorts zur Konfirmation versammelt sich vor dem Friedrichstadtpalast in Berlin eine säkulare „Gemeinde“ zu einer Jugendfeier des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD). Eltern, Großeltern, Geschwister, Schulfreunde und Lehrer sind in freudig aufgeregter Stimmung. Langsam schieben sie sich mit ihren Eintrittskarten am Einlasspersonal vorbei durch das Nadelöhr der Eingangstür in das Foyer des traditionsreichen Berliner Revuetheaters. Bis 1992 wurden hier zahlreiche Folgen der bekanntesten Unterhaltungsshow des DDR-Fernsehens, „Ein Kessel Buntes“, aufgezeichnet. 1947 wurde im Vorgängerbau des Friedrichstadtpalastes die Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) gegründet. Auch durch andere gesellschaftliche Großveranstaltungen war das Haus in der ganzen DDR bekannt.Acht Jugendfeiern des HVD an vier Samstagvormittagen fanden in diesem Frühjahr statt. Laut Pressemeldung des HVD wurden insgesamt 1650 Vierzehnjährige durch den HVD geehrt. Pro Jugendfeier waren etwa 210 Jugendweihlinge und gut 1700 Gäste im ausverkauften Haus anwesend. Für das Jahr 2011 haben sich bereits 1800 Jugendliche angemeldet. „Humanistische Jugendfeier“ nennt der weltanschauliche Verband seine Veranstaltungen. Nach Auskunft von Margrit Witzke, Abteilungsleiterin Jugend des Landesverbandes Berlin des HVD, will sich der HVD damit „vom Weihegedanken lösen und den selbstbestimmt-feierlichen Aspekt dieses Festes stärker in den Vordergrund stellen“. Auch möchte man sich mit dem neuen Namen von der Jugendweihe in der DDR kritisch abgrenzen. Mit dem Zusatz im Titel „die andere“ bzw. „die humanistische Jugendweihe“ stellt sich der HVD bewusst in die mehr als einhundertjährige Tradition der freireligiösen und freidenkerischen Jugendweihe.
Der Auftakt
Der im gedämpften Licht liegende Theatersaal empfängt seine Gäste ganz in Blau. Wie in einem Amphitheater erheben sich im Halbrund um die Bühne Sitze mit königsblauen Polstern und dunkler Holzrahmung. Die nach eigenen Angaben weltweit größte Theaterbühne liegt hinter einem durchsichtigen, straff gespannten Vorhang, der in seinem tiefen Blau mit weiß verwirbelten Farbflächen an einen Blick in die Weiten des Weltraumes erinnert.Im Saal ist es recht laut. Aufgeregt wird in den Reihen getuschelt und gelacht, Plätze werden gesucht, Angehörigen wird gewinkt. Dann richten sich Scheinwerfer auf die vier Saaleingänge. Zum Marsch Nr. 1 „Pomp and Circumstance“ von Edward Elgar, der als die Einzugshymne von Schulabgängern an amerikanischen High-schools gilt, und eingeblasenem Nebel ziehen unter dem Applaus der Gäste in vier Reihen je 50 Mädchen und Jungen ein. Ein guter Teil des Publikums erhebt sich dazu. Es wird geklatscht, gepfiffen, gejubelt, gewinkt. Es ist eine mitreißende Stimmung. Flott hüpfen die Jugendlichen in einer Reihe hintereinander die Treppen hinunter. Alles wirkt sicher. Vorab wurde mit den Jugendlichen nicht geprobt, aber zahlreiche Helfer sorgen für einen reibungslosen Ablauf. Die gut 90-minütige Show ist professionell choreographiert und ausgeführt. Die Mitwirkenden sind professionelle Schauspieler, Moderatoren und Musiker. Gestaltet wurde die Feier unter der Regie von Axel Poike, Schauspieler, Regisseur und Autor, der auch schon Revuen für den Friedrichstadtpalast geschrieben hat, sowie von dem Musiker Frank Odjidja.Während sich die Jugendweihlinge noch in die ersten Sitzreihen einfädeln, geht das Licht aus. In den Nebel hinein und unter zackiger Musik jagen Laserstrahlen durch den Saal. Der Vorhang hebt sich, das Licht auf der Bühne geht an. Am linken Seitenrand spielt die Berliner Band „Right Now“ eine gut gelaunte Musik, zu der ältere Kinder und Jugendliche fröhlich über die Bühne springen und tanzen. Dazu gesellen sich eine Sängerin und ein Sänger von „Right Now“ mit dem 2009 in den Charts erfolgreichen Stück „I gotta feeling“ von den „Black Eyed Peas“ mit dem Refrain „Tonight’s gonna be a good night“. Sieben Breakdancer von einer Berliner Tanzschule, junge Männer und Frauen in weißen Hosen und Kapuzenshirts, präsentieren dazu ihre „Moves“.Nach diesem musikalischen Auftakt betritt der Moderator Urban Luig die Bühne, lässig gekleidet in Jeans und hellblauem Hemd, die oberen Knöpfe geöffnet. Er wirkt wie ein junger Vater eben der Generation, die heute zu feiern ist. Locker und einladend begrüßt er die Gäste im Saal. Er spricht von Träumen, die er als Vierzehnjähriger hatte. Das „große Drama“, wie etwa Fußballstar werden, habe nicht stattgefunden, aber viele kleine. Er spricht von anderen Menschen, die im Leben wichtig sind. „Sie sind jetzt hier im Saal und sie sind verdammt stolz auf euch.“ Sodann wird ein Video mit einem Grußwort des Vorsitzenden des Landesverbandes des HVD Berlin, Bruno Osuch, eingespielt. Es ist eine der wenigen Stellen, an der sich der HVD erkennbar zu Wort meldet.
Der Festakt
Währenddessen haben sich schon die ersten 50 Jugendweihlinge auf der Bühne aufgestellt. In der Hand halten sie das Buch zur Jugendfeier des HVD „Zwischen nicht mehr und noch nicht“, das sie bereits beim Einzug bei sich hatten. Die Moderatorin Birgit Schürmann trägt einen Sinnspruch vor. Mit der Überleitung „Dies wünschen wir ...“ liest sie langsam die Namen der ersten Jugendlichen vor. Die Genannten laufen nacheinander unter dem Applaus der Gäste ein paar Schritte nach vorn, zwischen vier im Trapez aufgestellten Säulen hindurch, zu einer Frau, die mit Blumen im Arm am Bühnenrand steht. Der mit den Säulen angedeutete Durchgang soll wohl das Überschreiten der Schwelle zum Erwachsensein symbolisieren, das ja der eigentliche Inhalt der Jugendweihe ist. Eine Kamera fängt dabei das Gesicht des vortretenden Jugendlichen ein, das auf einer Leinwand in der Mitte der Bühne gezeigt wird. Die Jugendlichen bekommen jeweils eine Blume überreicht. Ebenfalls vorn stehen einige Tänzer aus dem soeben gebotenen Programm. Sie nehmen die Jugendlichen nach dem Glückwunsch in Empfang und geleiten sie in den Bühnenhintergrund, wo sie sich erneut in einer Reihe aufstellen. Diese Prozedur, die zügig und reibungslos abläuft, vollzieht sich insgesamt viermal mit jeweils gut 50 Jugendlichen. Dabei wechseln sich der Moderator und die Moderatorin mit einer Reihe von je 25 Jugendweihlingen ab. Sie nennen Spruchweisheiten, verbunden mit Glückwünschen für etwa je fünf Mädchen und Jungen. Herausgesucht haben die Veranstalter u. a. Sätze von Tucholsky, Voltaire, Goethe, de Saint-Exupéry und Tolstoi. Einige Weisheiten scheinen selbstgemacht oder abgeleitet, zum Beispiel wenn die Namensnennung mit den Worten eingeleitet wird: „Eltern machen Pläne und Kinder tun, was sie für richtig halten, so auch ...“, „Höre auf dein Herz, dann bist Du frei, ...“ oder „Eine spannende Zeit zwischen Jungsein und Erwachsenwerden wünschen wir ...“ Sonst schließen sich den Sprüchen über Glück, Verantwortung, Freundschaft, Gerechtigkeit und verschiedene Tugenden Glückwünsche mit den Worten an: „Alles Gute für ...“ oder „Wir gratulieren herzlich ...“
Zwischen den vier rituellen Höhepunkten wird ein buntes Showprogramm geboten. Dramaturgisch ist es schwierig, in einer solchen Veranstaltung die Spannung zu halten. Der erste – im Programm „Festakt“ genannte – Durchgang der eigentlichen „Jugendweihe“ kommt sehr früh und fast überraschend. In der Mitte des Programms fängt man an zu zählen, wie viele Jugendliche noch genannt werden müssen. Zu merken ist der Verlust an Spannung auch am Applaus, der im Laufe der Veranstaltung bei der Namensnennung immer schwächer wird. Der vierte Festakt mit den letzten gut 50 Jugendlichen findet ganz am Ende der Veranstaltung statt. Es gibt keinen Spannungsbogen, die Jugendfeier ist eher ein Hochplateau, bei dem schnell Spannung erzeugt und dann auf diesem Niveau gehalten werden muss. Dazu kommt, dass der eigentliche Akt der „Jugendweihe“ bzw. „Würdigung“ der Mädchen und Jungen selbst nur einen sehr flüchtigen Höhepunkt bietet. Der Kern des Rituals ist die Namensnennung des jeweiligen Jugendlichen zusammen mit seinem Vortreten vor laufender Kamera, also die Präsentation des jungen Menschen. Gerahmt wird sie durch den vorausgehenden Spruch und den Glückwunsch und das nachfolgende Überreichen einer Blume.Nach dem Selbstverständnis der Veranstalter scheint die Namensnennung nicht das Entscheidende an der Jugendweihe zu sein. In der Pressemeldung des HVD wird sie im Nachsatz als „individueller Moment der Würdigung“ der Teilnehmer bezeichnet. Das darum herum arrangierte Programm ist von der ersten bis zur letzten Minute unterhaltsam und dem Anlass angemessen. Thema ist das Heranwachsen der Jugendlichen, ihr Herauswachsen aus den Familien hin zur Eigenständigkeit. Dabei werden alle Generationen angesprochen.
Das Rahmenprogramm
Nach dem ersten Festakt präsentieren die Band „Right Now“ und Tänzer von „Samuel’s Crew“ mit dem Titelsong „The Time of My Life“ aus dem Teenager-Filmhit der 1980er Jahre „Dirty Dancing“ etwas für die Elterngeneration. Es folgt ein kurzes Anspiel mit dem Moderatorenpaar in der Elternrolle und Jugendlichen aus der Jugendfeier-Theatergruppe. Angesprochen werden die Themen Verliebtsein, erster Sex, Konflikte zwischen Eltern und heranwachsenden Kinder, auch Scheidung von Eltern. Ein eingespielter Film hat die Jugendweihe zum Thema. Es wird auf die hundertjährige Tradition verwiesen, ohne dass auch die problematischen Seiten der Geschichte der säkularen Feier zur Sprache kommen. Gezeigt werden Jugendliche im freiwilligen Vorbereitungsprogramm zur Jugendfeier des HVD, das die jungen Menschen „beim Erwachsenwerden begleiten“ möchte. Man sieht die Jungen und Mädchen beim Tanzworkshop, bei der Mathe-Nachhilfe oder beim Besuch des Radiosenders „Radio Fritz“. Sie erzählen, was ihnen an den Workshops gefällt und dass für sie Jugendweihe bedeute, „in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen“ zu werden. Im Vorbereitungsprogramm haben Jugendliche in einer Theatergruppe an der Gestaltung der Jugendfeier selbst mitgewirkt und Anspiele in Szene gesetzt. Auf eine Einlage der Breakdancer von „Samuel’s Crew“ folgt ein Videogruß der Kabarettistin Gabi Decker. Nach dem zweiten Festakt geht das Sängerpaar von „Right Now“ mit dem Lied „2 Fragen“ durch die Zuschauerreihen. Das Stück stammt ursprünglich von der Band „Klee“ und fängt den Geist des Fragens und Suchens Jugendlicher ein: „Ein neuer Tag / ein neues Leben / ein neues Spiel / mit neuen Regeln / ich seh dich an / und kenn dich nicht / du siehst mich an / und kennst mich nicht. // Und wenn ich dich zwei Fragen fragen würde / wär das: Woran glaubst du / und wofür lebst du? / Und wenn du mich zwei Fragen fragen würdest / wär das: Woran denkst du/ und wohin gehst du?“ Es folgt ein weiteres kleines Anspiel einer Familienszene mit den Moderatoren als Eltern, einem Jungen und der charismatischen Sängerin und Moderatorin Barbara Kellerbauer in einer großmütterlichen Rolle. Barbara Kellerbauer hält eine charmante kleine Ansprache an die Jugendweihlinge. „Gut seht ihr aus“, sagt sie und: „Man zählt euch jetzt nach der Jugendfeier zu den Großen.“ Sie plädiert dafür, in der Familie miteinander zu reden, statt sich mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Sie spricht von Verantwortung und von Tugenden, die sie den jungen Menschen wünscht. Sie wünscht „dass ihr Niederlagen wegzustecken lernt und nie aufgebt, wenn euch etwas wirklich wichtig ist“, außerdem „den Mut, Freund und auch Feind die unliebsame Wahrheit zu sagen, wenn es nötig ist“, und „das gute Gefühl, das man hat, wenn man helfen konnte“. Sie wünscht „eine Schulzeit, an die ihr euch gern erinnert“ und später eine „Arbeit, die ihr gern tut“. Sie spricht von Ruhe und vom Träumen. „Ich wünsche euch ein friedliches, ein glückliches Leben“, schließt sie ihre Rede, bevor sie das Lied „Der war doch eben noch ein Kind“ mit einem Text von Gisela Steineckert anstimmt.
Vor dem dritten Festakt wird ein Videogruß des Musikers Adel Tawil von „Ich&Ich“ eingespielt. Der dritte Programmblock beginnt mit dem Stepptanz eines Tänzers zu „Always Look on the Bright Side of Life“ aus dem Film „Life of Brian“, gefolgt von dem Tanz „In The Rain“ mit vier Männern und Frauen von „Samuel’s Crew“. Jugendliche aus der Theatergruppe zur Jugendfeier tragen zu Klaviermusik aus dem Film „The Hours“ und meditativen Landschaftsbildern ihre „größten Wünsche“ vor: z. B. in Spanien leben und arbeiten, eine eigene Familie, Arbeit als Informatiker, ein Buch schreiben, das verfilmt wird, Gesundheit für die Familie, durch die USA trampen, eine Zeitreise, Abitur machen und Millionär werden, ein Gestüt aufbauen, eine Weltreise und ein Solokonzert für Querflöte spielen. Die Sängerin der Band „Right Now“ singt daraufhin das Lied „Ich gehör nur mir“. In dem Lied aus dem Musical „Elisabeth“ wird der Wille zu Freiheit und Unabhängigkeit besungen: „Und willst du mich binden / verlass ich dein Nest / und tauch wie ein Vogel ins Meer. / Ich warte auf Freunde / und suche Geborgenheit / ich teile die Freude ich teile die Traurigkeit / doch verlang nicht mein Leben das kann ich dir nicht geben / denn ich gehör nur mir! / Nur mir!“. Es folgt ein Videogruß des bekannten Berliner Komikers Kurt Krömer.Nachdem den letzten 50 Jugendlichen Glückwünsche überbracht wurden, kommen alle Jugendweihlinge und Mitwirkenden auf die Bühne. Zum eingangs bereits gehörten Stück „I gotta feeling“ tanzen, winken, klatschen alle gemeinsam. Ein großer Teil der Gäste erhebt sich und bleibt auch klatschend stehen, während die Jugendlichen ausziehen – zu fetzigen Klängen, die an die 1980er Jahre erinnern. Auf der Bühne tanzen Kinder und Jugendliche, die an der Show mitgewirkt haben, weiter. Auf der Leinwand darüber werden Sponsoren eingeblendet und schließlich das letzte Wort des HVD: „Herzlichen Glückwunsch zur JugendFEIER“.
Einschätzung
Am Ende der Feier bleibt ein ambivalenter Eindruck. Einerseits wird den Familien, die sich für eine Jugendfeier des HVD im Friedrichstadtpalast entscheiden, eine beeindruckende Show geboten. Im Mittelpunkt stehen die eigenen heranwachsenden Kinder. Dabei werden in unterhaltender Form Fragen angesprochen, die verschiedene Generationen in den Familien angesichts des Älterwerdens der Kinder bewegen. Der Theologe Albrecht Döhnert bezeichnet die Jugendweihe in seiner Untersuchung zu Recht als ein „Ritual an der Familie“. Allerdings stellt sich auch ein beklemmendes Gefühl ein, wenn man nach dem Inhalt des Rituals fragt. Jugendliche werden einer Öffentlichkeit präsentiert. Diese Präsentation soll den Überschritt vom unselbstständigen Kindsein in die erwachsene Mündigkeit symbolisieren. Die Jugendlichen treten aus dem Schutz der Familien heraus und gehen ihre eigenen Wege. Wenn hier stellvertretend – organisiert von einem (weltanschaulichen) Verein – eine zufällige Gemeinschaft von Familien ihre Kinder entlässt, dann scheint etwas Entscheidendes zu fehlen: das Wohin, der Rahmen, der die jungen Menschen aufnimmt. Bei einer Konfirmation bekennen sich die Konfirmanden zu ihrem christlichen Glauben und werden in die Gemeinde aufgenommen. In der DDR bekannten sich die Jugendlichen in der staatlich organisierten Jugendweihe zum sozialistischen Staat und wurden in die „sozialistische Gesellschaft“ aufgenommen. Dazu gehörte die Zusage der Gesellschaft, ihre neuen Mitglieder zu unterstützen. Bei den Jugendfeiern des HVD im Jahr 2010 entlassen, so scheint es, einzelne Familien symbolisch ihre Kinder in eine Zukunft, in der diese völlig auf sich selbst gestellt sind. Die Eltern entlassen die Kinder zu sich selbst. Die Zeile „Ich gehör’ nur mir“ aus dem während der Jugendfeier vorgetragenen Lied drängt sich als eine Art Überschrift über die Veranstaltung auf. Der Anspruch der Selbstbestimmung ist einerseits Ausdruck unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Er wird vom HVD ganz bewusst zur Geltung gebracht, im Abstandnehmen vom „Weihegedanken“ und einer damit verbundenen Autorität bzw. übergeordneten Instanz. Entsprechend geht die Namensnennung in einem Glückwunsch auf. Auch gibt es keine „Urkunde“ mehr, sondern eine Glückwunschkarte vom HVD mit dem Namen des Jugendlichen und dem Datum der Jugendfeier. Der Veranstalter nimmt sich zurück und übernimmt nur die Funktion, den Weg in eine offene Gesellschaft und ihre zahllosen Optionen zu weisen. Erstaunlich ist dabei, dass der weltanschauliche Anspruch des HVD mit zurückgenommen scheint. Es sei denn, dieser beinhaltet letztlich genau das: die Selbstbestimmtheit des Einzelnen in einer gänzlich säkularisierten Gesellschaft. Im Programm zur Jugendfeier 2010 schreibt Bruno Osuch: „Letztlich geht es darum, Verantwortung für das eigene – das einzige – Leben zu übernehmen. Nur dann wird sich auch Glück einstellen. Denn Glück ist oft das Ergebnis von selbstbestimmtem und verantwortlichem Handeln.“Der Anspruch der Selbstbestimmung birgt allerdings die Gefahr der Überforderung, wenn keine soziale oder auch gemeinsam geteilte ideelle „Größe“ da ist, in die die Selbstständigkeit eingebettet wird. Es war bemerkenswert, dass während der Jugendfeier in Berlin in keiner Weise auf die Gesellschaft, auf ein weiter gefasstes soziales Engagement im sozialen Kontext Bezug genommen wurde. Es verwundert bei einem Verband wie dem HVD, der sich für „Humanismus“ und Demokratie ausspricht, wenn an dieser Stelle darauf verzichtet wird, an den Gemeinsinn zu appellieren, an das unverzichtbare Einbringen der je eigenen Stimme in einen demokratischen Diskurs über die Gestaltung der Gesellschaft. Verantwortung und Glück werden stattdessen nur für das eigene Leben in Anspruch genommen, nicht für die Gesellschaft, die es doch gemeinsam zu gestalten gilt.
Angesichts der ganz auf das Private beschränkten Inhalte der Feier wäre es verständlich, wenn der symbolische Akt des Entlassens der eigenen Kinder mit einer gewissen Unruhe bei den Eltern verbunden wäre. Die guten Wünsche, die sie ihren Kindern mit auf den Weg geben, die Wünsche nach Freundschaft, guter Partnerschaft, eigenen Kindern, Arbeit, haben angesichts einer immer unsichereren Zukunft auch etwas Hilfloses an sich. Es ist gut denkbar, dass andere Festredner bei den Feierstunden anderer Jugendweiheanbieter stärker auf die Gesellschaft Bezug nehmen und an das gesellschaftliche Engagement appellieren. Beim HVD hingegen scheint gegenwärtig der Inhalt der säkularen Mündigkeitsfeiern zu sein, dass die Heranwachsenden von den Erwachsenen einzig auf sich selbst gewiesen werden als entscheidende Instanz des zukünftigen Lebensweges. „Wie andere, bist auch du klug. / Manche Leute werden dir vielleicht sagen, was du denken sollst. / Du solltest auch zuhören, weil sie recht haben könnten. Vielleicht aber haben sie unrecht. / Du musst für dich selbst entscheiden, / was wahr und was unwahr ist. / Du hast es nicht eilig. / Du kannst es ganz auf deine eigene Art und Weise machen. / Nur du wirst wissen, / wie du für dich selbst denken kannst.“ So heißt es auf der Glückwunschkarte des HVD. Diese Art der Mündigkeit im Sinne eines selbstverständlichen Allein-auf-sich-Gestelltseins scheint dem Charakter einer säkularen individualisierten und pluralisierten Gesellschaft zu entsprechen.
Claudia Knepper