„Ideale Org" in Stuttgart eröffnet
(Letzter Bericht: 7/2017, 269f) Lange wurde darüber spekuliert, seit dem 9. September 2018 ist es Gewissheit: Scientology hat in Stuttgart eine neue „Ideale Org“ eröffnet, nach eigenen Angaben die größte in Deutschland. Der repräsentative Sitz, so die Hoffnung, soll Strahlkraft haben weit über Stuttgart hinaus in die wirtschaftsstarke Region hinein. Die Lage in Bahnhofsnähe, neben der Industrie- und Handelskammer und unmittelbar gegenüber dem neu angelegten Europaplatz mit dem Einkaufszentrum „Milaneo“ und der Stadtbibliothek, und auch die Ausstattung des Gebäudes erfüllen sämtliche Vorgaben für eine Ideale Org nahezu perfekt.
Nach der internen Eröffnung wurden Personen des öffentlichen und kirchlichen Lebens zur Besichtigung eingeladen. Wir württembergischen Weltanschauungsbeauftragten sind der Einladung gefolgt und ließen uns durch das aufwendig renovierte und hochwertig ausgestattete mehrgeschossige Gebäude mit seinen ca. 6000 (nach Angaben von Scientology 7200) Quadratmetern Fläche führen.
Im Erdgeschoss betritt man eine großflächige, luxuriös ausgestaltete Lobby mit hochmodernem Ausstellungsbereich, der über die Geschichte und die Arbeit von Scientology „informiert“. Hier sind vor allem Videoclips zu sehen, die auf großen Bildschirmen gezeigt werden und in denen für die verschiedenen Arbeitsbereiche geworben wird. Ein Café ist integriert in den Ausstellungsraum, von dem aus man auch die Kapelle betritt. Sie bietet Platz für ca. 150 Besucher und dient auch als Versammlungs- und Veranstaltungsraum. Verteilt auf die anderen Stockwerke gibt es eine große Bibliothek (ausschließlich mit Scientology-Literatur und Lexika bestückt), zahlreiche Auditing-, Seminar- und Büroräume, auf deren Türschildern die merkwürdigsten Funktionsbezeichnungen erscheinen. Wir durften das „Org Board“ studieren, in das die Funktionen und Namen der (nach Angabe von Scientology) ca. 200 Mitarbeiter eingetragen sind. Dort ist sogar deren jeweilige Stellung im Kurssystem bzw. ihr aktueller Entwicklungsstand auf der „Brücke zur Freiheit“ verzeichnet. Unter dem Dach mit weitem Blick auf Weinberge und Stadt ist ein komfortabler Saunabereich mit Fitnessgeräten eingerichtet, der die Horrorberichte, die man über das „Reinigungs-Rundown“ im Gedächtnis hat, fast vergessen lässt. Fehlen darf natürlich auch nicht das Hubbard-Gedenkzimmer, das mit einem Seil abgesperrt ist, aber jederzeit für die Ankunft des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard bereitzustehen scheint. Er ist in diesem Gebäude überhaupt allgegenwärtig in großen gerahmten Fotografien und Zitaten, in den ausgestellten Büchern und Filmen mit seinem Konterfei. Sehr präsent sind auch die Sicherheitsvorkehrungen in Form von Videoüberwachung und Sicherheitspersonal.
Die von Scientology-Leiter David Miscavige geforderte Umwandlung der Orgs an „Schlüsselpunkten der Welt“ aus dem 1- bis 2-Sterne-Bereich in den 4- bis 5-Sterne-Bereich scheint nach langem Vorlauf in Stuttgart geglückt zu sein. Mit der völlig überraschenden Eröffnung wurde ein Kontrapunkt zu der zähen Vorschichte der vom Verfassungsschutz seit 2010 vorausgesagten und in der Presse immer wieder angekündigten Fertigstellung der Org gesetzt.
Vorausgegangen war eine viele Jahre andauernde vergebliche Suche nach einer geeigneten Immobilie. 2010 sickerte durch, dass das prominent gelegene Gebäude in der Heilbronner Straße über Mittelsmänner und ein israelisches Unternehmen verdeckt von Scientology erworben worden sei, für 8 Millionen Euro. Bis zur Eröffnung wurde das von Scientology nicht bestätigt. Sichtbar wurde freilich, dass die Werbeaktionen in der Öffentlichkeit zunahmen. Aus internen Kreisen hörte man, dass der Druck auf die Mitglieder spürbar erhöht wurde, um das immense Projekt finanziell und personell zu stemmen. Lange hatte sich in dem Gebäude nichts getan, bis vor etwa einem Jahr Bautätigkeiten hinter verschlossenen Türen und verbarrikadierten Fenstern begannen, die aber immer wieder unterbrochen wurden. Als Scientology im Sommer das provisorische Zentrum in Stuttgart-Bad Cannstatt verlassen musste, wurde noch einmal ein Interimsquartier in der näheren Umgebung Stuttgarts bezogen.
So kam die Eröffnung trotz allem überraschend. Vielleicht wollte man mit dieser Nacht-und Nebel-Aktion (das Scientology-Kreuz wurde um 19.30 Uhr am Abend vor der Eröffnung angebracht) auch verhindern, dass es Demonstrationen geben würde wie bei der Eröffnung der Org in Basel. Angeblich war bei dem Ereignis, zu dem nur Scientology-Mitglieder geladen waren, sogar der Leiter der weltweiten Organisation anwesend. In der Pressemeldung mit der Überschrift „Freiheit herrscht, als die Scientology Kirche in Stuttgart in Fahrt kommt“ heißt es: „Im Lichte dieses historischen Moments sagte Mr. David Miscavige, kirchliches Oberhaupt der Scientology Religion: ‚Heute eröffnen wir Deutschlands größte Scientology Kirche und ein Zuhause, das zu diesem Anker der Nation passt. Es ist ein Symbol für die Tatsache, dass nichts größer ist als das Streben nach Weisheit … und nichts dauerhafter als Würde und Freiheit. In dieser Hinsicht verkörpert diese Kirche die Ziele der Scientology selbst: ‚Eine Zivilisation ohne Wahnsinn, ohne Verbrecher und ohne Krieg, in welcher der Fähige erfolgreich sein kann und ehrliche Wesen Rechte haben können und in welcher der Mensch die Freiheit hat, zu größeren Höhen aufzusteigen‘ … Und so öffnen wir unsere Türen.‘“1
Ob Miscavige wirklich zugegen war? Unwahrscheinlich ist, dass tatsächlich, wie behauptet, „tausende überglückliche Scientologen“ das neue „Wahrzeichen“ eingeweiht haben. Auf dem schmalen Gehsteig, der die Scientology-Zentrale von einer sechsspurigen Straße trennt, hätte nur ein Bruchteil der Menschenmenge Platz, die auf den freigegebenen Pressefotos jubelnd das neue Zentrum umringt.
Die Sprecherin von Scientology, die uns durch das Gebäude führte, nannte zwei Gründe für die überraschende Terminwahl: Zum einen sei ein bauliches Problem aufgetaucht, dessen Lösung nicht planbar war; zum anderen habe man unbedingt vor einem Treffen der weltweiten Organisation in England fertig sein wollen, um den großen Erfolg gemeinsam zu feiern im Sinne der Pressemeldung: „Die Eröffnung der neuen Scientology Kirche in Stuttgart führt eine Periode unablässigen Wachstums der Religion fort ...“2 Aus der Außenperspektive ging es wohl eher darum, dort endlich den Vollzug des schon so lange Geforderten vermelden zu können.
Repräsentativ ist dieses Gebäude zweifelsohne. Ob es die erhoffte Strahlkraft entfalten wird, darf dennoch bezweifelt werden. Weder in Hamburg noch in Berlin hat die Einrichtung einer Idealen Org eine Wende gebracht im Blick auf die sinkenden Mitgliederzahlen. In der Pressemeldung heißt es zwar, das Zentrum sei so konzipiert, dass es geeignet sei, sich mit Partnern der Gemeinde zusammenzutun und der ständig wachsenden Zahl von Scientologen Dienste anzubieten. Der Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg gibt dagegen an, dass Scientology auch im mitgliederstärksten Bundesland seit 1997 ein Drittel der Mitglieder verloren habe. Von den ca. 3500 Mitgliedern in Deutschland leben demnach etwa 750 hier, die freilich immer noch für erhebliche Finanzmittel sorgen. Ob der Einsatz für den Ausbau der Idealen Org, wie erhofft, durch entsprechenden Erfolg belohnt wird oder ob man sich damit finanziell und personell übernommen hat, wird die Zukunft zeigen.
Eins hat die Eröffnung auf jeden Fall bewirkt: Scientology und die Weltanschauungsarbeit waren wieder einmal in der Presse und bekamen Aufmerksamkeit. Anders als die vielen anderen problematischen Angebote des religiösen und pseudoreligiösen Marktes ist Scientology immer noch eine Schlagzeile wert. Unsere Arbeitsstelle hat die Aufmerksamkeit genutzt, um eine realistische Einschätzung der Gefahren, die von dem neuen Zentrum ausgehen, abzugeben; zugleich aber, um auf die vielen kleinen Anbieter hinzuweisen, die unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung genauso unrealistische und zerstörerische Rezepte für garantierten Erfolg und machbares Glück anbieten. Die an die Ideale Org angrenzende evangelische und die benachbarte katholische Kirchengemeinde luden kurz nach der Eröffnung zu zwei Informationsabenden ein unter dem Titel: „Den neuen Menschen schaffen: Die Versprechen von Scientology und Co.“ In ökumenischer Partnerschaft stellten die Weltanschauungsbeauftragten das völlig überfordernde und deshalb in der Wirkung so destruktive Menschenbild von „Scientology und Co.“ einem christlichen Menschenbild gegenüber, das um Möglichkeiten und Grenzen des in der Gnade Gottes geborgenen menschlichen Lebens weiß.
Annette Kick, Stuttgart
Anmerkungen
1 www.scientology.de/scientology-today/church-openings/grand-opening-stuttgart.html (Abruf: 3.11.2018).
2 Ebd.