Im Glauben an einen Gott verbunden - Wie weit trägt diese Gemeinsamkeit?
Das Verhältnis zwischen Christentum und Islam in theologischer Perspektive
Die Handreichung des Rates der EKD über „Klarheit und gute Nachbarschaft“ im Verhältnis zwischen „Christen und Muslimen in Deutschland“ hat mit ihrer Veröffentlichung am 28. November 2006 eine Flut von Zuschriften ausgelöst. Vorwiegend lobten sie den Text – was nicht heißt, dass jedes Lob Grund zur Freude gab. Einige tadelten ihn, zuletzt der „Appell aus Baden“, der inzwischen in der evangelischen Kirche zahlreiche Unterstützer hinter sich versammelt und Rat und Synode der EKD zu einer Kurskorrektur aufgefordert hat. Eine der frühen kritischen Reaktionen kam von einem theologischen Studienleiter an einer Akademie und beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit dem Abschnitt über „Chancen und Grenzen des Glaubens an den ‚einen Gott’“. Ich zitiere in Auszügen:
„Natürlich können wir akademisch keine Entscheidung darüber treffen, ob es sich hier wie da auch ‚wirklich’ um ein und denselben Gott handelt. Wir können aber und sollten differenziert wahrnehmen, dass es unter Christen wie Muslimen solche gibt, die von einem gemeinsamen Gott ausgehen, und solche, die diese Identität ablehnen. Im Koran ... ist es klar und deutlich die durchgängige Auffassung, dass sich derselbe Gott, der im AT und im NT verehrt wird, jetzt den Arabern offenbart hat, und zwar letztgültig ... Am Kriterium des Christusglaubens den Muslimen den gemeinsamen Gottesglauben abzusprechen, ist ... heikel: In Analogie hätte dieses Kriterium verheerende Wirkung für das christlich-jüdische Gespräch. An dieser Stelle gibt es sogar eine größere Nähe zwischen Christen und Muslimen, denn letztere erkennen – in Aufnahme einer selektiven Lektüre des NT, aber immerhin! – Jesus als großen Propheten an, was im Judentum sicher die Ausnahme ist ...
An dem ... Abschnitt wird ... anschaulich, wie unausgegoren und uneinheitlich die ganze Schrift ist ... Ich bitte deshalb ernsthaft in Erwägung zu ziehen, [ihre] Verbreitung einzustellen. Was ‚Klarheit und gute Nachbarschaft’ von Christen und Muslimen anbetrifft, ist sie kontraproduktiv. Der Papst hingegen hat auf seiner Türkeireise ein deutliches Zeichen gesetzt, als er mit dem Großmufti gemeinsam betete. Dabei war für beide klar, dass sie je zu dem einen Gott beten, der sich auf unterschiedliche Weise offenbart hat, und auch, dass die je eigene Offenbarungstradition die letztgültige und die andere eine [nur] relativ gültige ist. Auf dieser Grundlage kann respektvoll miteinander um die Wahrheit gerungen werden.“
Diese briefliche Äußerung führt in exemplarischer Deutlichkeit vor, wie viele Unklarheiten den theologischen Blick auf das Verhältnis zwischen Christentum und Islam belasten. Ich kann nicht versprechen, Klarheit zu schaffen. Dafür sind die Fragen zu schwer und meine Erfahrungen und Kenntnisse im Umgang mit dem Thema zu bescheiden. Ich hoffe aber, zumindest die Richtung weisen zu können, in die sich das weitere Nachdenken bewegen muss.
Dazu gehe ich in sechs Schritten vor. Der I. Teil meines Referats ist überschrieben: „Im Glauben an einen Gott verbunden“; er geht der Frage nach, was es inhaltlich genau ist, das die monotheistischen Religionen miteinander verbindet. Der II. Teil setzt sich mit der Erfahrung auseinander, dass im Falle von Christentum und Islam das Verbundensein im Glauben an einen Gott einhergeht mit einer Fülle von theologischen und frömmigkeitlichen Differenzen; er trägt den Titel: „Trotz des Glaubens an einen Gott einander fremd“ und sieht Christentum und Islam vor der Aufgabe, in ihrer Begegnung dieser wechselseitigen Fremdheit standzuhalten und die Differenzen nicht vorschnell zu überspringen. Dass in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christentum und Islam auch andere Akzente gesetzt werden, ist Gegenstand des III. Teils, und zwar unter der Überschrift: „Ein Blick auf andere Positionen in der Diskussion über Christentum und Islam“. Der IV. Teil erläutert, warum es geradezu überlebenswichtig ist, die Fremdheitserfahrungen abzubauen und zu guter Nachbarschaft zu finden. Denn: „Kein Friede zwischen den Kulturen ohne Frieden zwischen den Religionen“. Der V. Teil fragt danach, auf welchen Ebenen und in welcher Weise Christen und Muslime miteinander in einen Austausch treten und zu guter Nachbarschaft finden können; die Überschrift gibt schon die Antwort: „Begegnung, Dialog, Gebet – alles zu seiner Zeit“. Der VI. Teil schließlich wendet sich der Schwierigkeit zu, dass die notwendigen Prozesse kulturellen Wandels im Islam Zeit brauchen, wir aber nicht viel Zeit haben; seine Überschrift lautet daher: „Wie viel Zeit brauchen wir? Wie viel Zeit haben wir noch?“
I. Im Glauben an einen Gott verbunden
Christen machen in der Begegnung mit anderen Religionen Erfahrungen der Nähe und der Distanz. Fern wirken z.B. animistische Vorstellungen, wie sie noch heute bei manchen indigenen Völkern anzutreffen sind; das Göttliche ist hier nahezu omnipräsent und beseelt die Wirklichkeit. Ungewohnt ist es aus christlicher Perspektive auch, wenn umgekehrt, wie vor allem in asiatischen Religionen, das theistische Element stark zurücktritt. Demgegenüber weisen Judentum, Christentum und Islam eine gewisse Nähe zueinander auf. Sie stehen in einem historischen und traditionsgeschichtlichen Zusammenhang und sind insbesondere im Glauben an einen Gott verbunden. Seit einiger Zeit hat sich als sprachlicher Ausdruck ihrer Zusammengehörigkeit die Rede von den drei „abrahamitischen Religionen“ oder – in einem verwirrenden Gebrauch des Begriffs „Ökumene“ – von der „abrahamitischen Ökumene“ verbreitet.
Der Glaube an einen Gott stand in der Religionsgeschichte nicht am Anfang. Er bahnte sich in den vorderorientalischen Religionen, besonders in der ägyptischen, an und tritt in den heiligen Schriften Israels, auf die sich Judentum, Christentum und Islam beziehen, allmählich immer klarer hervor. Zunächst geschieht das noch so, dass Israel das Vorhandensein vieler Götter nicht explizit verneint, aber selbst nur den einen Gott verehrt. Ein markantes Beispiel ist der Vers, mit dem im Michabuch die Verheißung der Völkerwallfahrt zum Zion abgeschlossen wird: „Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich!“ (4,5). In späteren Texten, vor allem im Gefolge Deuterojesajas, wird die Existenz anderer Götter neben dem Gott Israels ausdrücklich bestritten. Um der Gottheit Gottes willen hat der Weg zum Monotheismus eine innere Notwendigkeit. Ein Götterhimmel wie in der griechischen Mythologie wirkt ohnehin wie eine in den Himmel projizierte Menschenwelt.
Unter dem kulturellen Einfluss von Judentum, Christentum und Islam sind Religion und Monotheismus nahezu Synonyme geworden. Dabei ist der Glaube an einen Gott – statt der Verehrung vieler Götter oder eines allumfassenden Kosmotheismus – alles andere als selbstverständlich. Das wird immer dann spürbar, wenn – selten, aber von Zeit zu Zeit wiederkehrend – in der Kulturgeschichte Stimmen laut werden, die die verloren gegangenen Segnungen des Polytheismus preisen. Eine dieser Stimmen ist die von Friedrich Nietzsche. In einem Stück aus der „Fröhlichen Wissenschaft“2 schreibt er über den „größten Nutzen des Polytheismus“: „Der Monotheismus, diese starre Konsequenz der Lehre von Einem Normalmenschen – also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter gibt – war vielleicht die größte Gefahr der bisherigen Menschheit: da drohte ihr jener Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Tiergattungen längst erreicht haben ... Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: sodaß es für den Menschen allein unter allen Tieren keine ewigen Horizonte und Perspektiven gibt.“
Das Echo der Stimme Nietzsches meint man in den Veröffentlichungen des Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann zu hören. Die „Mosaische Unterscheidung“ – so seine These – „ist die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr in der Religion“: Die davon ausgelösten „kulturellen, religiösen oder intellektuellen Unterscheidungen konstruieren nicht nur eine Welt, die voller Bedeutung, Identität und Orientierung, sondern auch voller Konflikt, Intoleranz und Gewalt ist“. Den antiken Polytheismen hingegen sei „der Begriff einer unwahren Religion vollkommen fremd“ gewesen. „Die Götter fremder Religionen galten nicht als falsch und fiktiv, sondern in vielen Fällen als die eigenen Götter unter anderen Namen.“3
Nietzsche und Assmann sind für ihre – je eigenen – Interpretationen der geistigen und kulturellen Wirkungen von Polytheismen und Monotheismus heftig gescholten worden. Zu Recht. Trotzdem lohnt sich die Beschäftigung mit ihnen. Denn sie nötigen uns, die Frage zu bedenken: Was bedeutet es, einer monotheistischen Glaubensgemeinschaft anzugehören? Und was für eine Gemeinsamkeit stiftet es eigentlich, verbunden zu sein im Glauben an einen Gott? Wie weit trägt diese Gemeinsamkeit?
Judentum, Christentum und Islam stehen sich gegenseitig in nichts nach, was apodiktische Aussagen über die Verehrung und schließlich auch die Existenz nur eines einzigen Gottes angeht. Man braucht aus dem Alten Testament neben dem 1. Gebot nur an Deuterojesaja zu erinnern: „Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr ... Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. Ich, ich bin der Herr, und außer mir ist kein Heiland“ ( Jes 43,10f). Dem entspricht es, wenn es im Gebetsruf, der die gläubigen Muslime fünfmal am Tag zum Gebet ruft, heißt: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott.“ Dieser Satz des – so könnte man sagen – islamischen Glaubensbekenntnisses wird im Koran in Sure 112 so entfaltet: „Sprich: Er, Gott, ist einer. Er ist der Ewige. Er zeugt nicht, noch wurde er gezeugt. Nichts ist ihm ebenbürtig.“
Aber noch einmal: Wie weit trägt diese Gemeinsamkeit? Sie ist schon dadurch eingeschränkt oder sogar aufgehoben, dass der Koran dem christlichen Glauben vorwirft, in ihm werde Gott in Wahrheit gar nicht als einer, sondern als einer von dreien in einer göttlichen Familie neben Maria und Jesus gesehen (vgl. Sure 4,171 und 5,116). Sie wird weiter relativiert, wenn man nicht mehr nur auf das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes, sondern auch auf die inhaltlichen Vorstellungen blickt, die mit Gott verbunden werden.
II. Trotz des Glaubens an einen Gott einander fremd
Christentum und Islam sind zwar verbunden im Glauben an einen Gott, aber weil die Vorstellungen, die sie sich von Gott machen, so unterschiedlich sind, bleiben sie sich in vielem doch fremd. Ja, es drängt sich die Frage auf, ob es eigentlich derselbe Gott ist, den sie verehren. So zu fragen kann nicht mit dem Hinweis abgetan werden, dass von Gott aus betrachtet alle menschliche Gottesverehrung – fehlgeleitet und verworren wie sie sein mag – letztlich immer nur dem einen, wahren Gott gelten könne. Aber es ist dem menschlichen Nachdenken und Urteilen entzogen, die menschlichen Vorstellungen und Bilder von Gott an der Wirklichkeit Gottes selbst zu messen. Ob wir denselben Gott verehren, können wir nur daran messen, ob vom Menschen aus betrachtet die Vorstellungen und Bilder von Gott zusammenpassen. An dieser Stelle kann das christliche Gottesbild mit dem muslimischen nicht im Einzelnen verglichen werden. Ich muss mich damit begnügen, das summarische Ergebnis zu zitieren, zu dem die Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“ gelangt:
„So wertvoll die Entdeckung von Gemeinsamkeiten im christlichen und muslimischen Glauben ist, so deutlich werden bei genauerer Betrachtung die Differenzen ... Der Islam geht von einem eigenen Glauben und Gottesbild aus, auch wenn er auf die [christliche] Bibel und ihre Lehren verweist. Deren Darstellungen ordnet er seiner neuen Lehre unter, die weder die Trinitätslehre noch das Christusbekenntnis und die christliche Heilslehre kennt.
Die evangelische Kirche kann sich jedoch bei ihrem Glauben an Gott in Christus nicht mit einer ungefähren Übereinstimmung mit anderen Gottesvorstellungen begnügen. Glaube ist nach christlichem Verständnis personales Vertrauen auf den Gott der Wahrheit und Liebe, der uns in Christus begegnet. Am rechten Glauben entscheidet sich nach Martin Luther geradezu, wer für die Menschen überhaupt ‚Gott’ heißen darf. Woran der Mensch sein ‚Herz hängt’, das ist sein Gott ... Ihr Herz werden Christen jedoch schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren.“4
Es ist insbesondere dieser letzte Satz, auf den sich die Kritiker „eingeschossen“ haben. In einem Brief des „Appells aus Baden“ an Rat und Synode der EKD heißt es: „Zweifellos ist das Gottesverständnis im Islam und Christentum unterschiedlich. Muslime beten aber ebenfalls zu dem Gott, der sich Israel durch Abraham, Mose und die Propheten und darüber hinaus den Menschen durch Jesus von Nazareth zugewendet hat.“ Zwischenbemerkung: Was ist damit eigentlich argumentativ gesagt? Der Brief fährt fort: „Es hätte der Klarheit und guten Nachbarschaft gedient, die gemeinsamen Wurzeln der Gottesvorstellungen ebenso gründlich zu bedenken wie die Unterschiede.“ Aber was bedeuten gemeinsame Wurzeln gegenüber den jetzt gegebenen Unterschieden? Wenig. Da ist „Klarheit und gute Nachbarschaft“ geradliniger und weiterführender:
Die „zwischen Christentum und Islam bestehenden Gemeinsamkeiten sind eine Herausforderung zum Dialog, auch wenn sich hier und dort Zweifel am schleppenden Dialogprozess zwischen der evangelischen Kirche und Muslimen ausbreiten. Eine konfliktfreie Zone der Gottesverehrung kann es nicht geben, wenn der Anspruch beider Religionen, Gottes Offenbarung zu bezeugen, ernst genommen wird. Denn eine Religion ist in geschichtlicher Konkretion lebendig, nicht in religionstheologischen Konstruktionen. Die evangelische Kirche kann aber in jenen Gemeinsamkeiten ‚Spuren’ ... oder Zeichen erkennen, dass sich der Gott der Bibel auch Muslimen nicht verborgen hat. Diese Spuren begründen keinen gemeinsamen Glauben und erst recht keine gemeinsame Verkündigung oder Frömmigkeitspraxis. Aber sie rufen doch Christen und Muslime auf, in dieser zerrissenen Welt Menschen auf Gott hinzuweisen.“
Die „Spuren“ und Zeichen dafür, dass der Gott der Bibel auch durch Muslime redet, illustrieren die folgenden beiden Anekdoten auf ihre Weise: Hellmut Keusen, ehemals Leiter des Evangelischen Studienwerks Villigst, reiste einmal mit dem Nachtzug zur Universität in Wien. Im selben Abteil saß ein Türke mit viel Gepäck. Plötzlich fragte er Keusen: „Glaubst du an Gott?“ Als Keusen verlegen erklären wollte, dass er zwar an Gott glaube, aber ganz sicher doch an einen anderen, als jener unter Allah verstehe, setzte der Türke nach: Nein, er wolle wissen, ob er es bei dem Mitreisenden mit jemandem zu tun habe, der an Gott glaubt; denn wenn er das tue, könne er, während er sich in den Speisewagen begebe, sein Gepäck unbesorgt im Abteil zurücklassen. Keusen später dazu: „So praktisch kann Gottesglaube sein!“
Eine Lehrerin an einem Gymnasien in Hannover erzählte mir folgende Begebenheit: Als sie in einer 8. Klasse im Fach Geschichte die Entstehung von Klöstern und Orden im Mittelalter behandelte, kam nach einer Unterrichtsstunde ein türkischer Schüler zu ihr und fragte sie: „Glauben Sie an Gott?“ Und – so fügte sie hinzu: „Diese Frage ist mir bisher, wenn überhaupt, von Schülern allenfalls als skeptische oder spöttische Frage gestellt worden.“
Generell gilt: Jede Religion ist ein unteilbares Ineinander verschiedenster Elemente, ein „dichter Bildteppich“, wie Theo Sundermeier nicht müde wird einzuschärfen. Alle Teile sind so eng ineinander verschränkt, dass sie erst in dieser Verknüpfung ihre eigentliche Bedeutung erhalten und nur in diesem Gesamtzusammenhang richtig interpretiert werden können. Das spricht gegen Versuche, eine Religion in Kategorien einer ihr fremden Religion zu pressen und so verständlich machen zu wollen. Dieser Vorbehalt gilt auch im Blick auf einzelne Koranverse, wenn diese dem Publikum ohne ihren Kontext und ohne die Fülle innerislamischer Auslegungen und Bedeutungsebenen isoliert präsentiert werden. Eine Religion aus ihrem eigenen Sinnzusammenhang begreifen zu wollen, gelingt nur in der Orientierung an einem Ethos des Dialogs, also in dem Bemühen, den anderen so zu verstehen, wie er sich selbst versteht. Ein solcher Dialog muss in persönlicher Ehrlichkeit und in Treue zur eigenen Tradition geführt werden. Dabei werden sich Unterschiede und Gegensätze zeigen, auch Auslegungsvielfalt in der eigenen Tradition. Immer wieder wird man an Grenzen des Verstehens und Verstandenwerdens stoßen. Wer sich auf diesen Weg einlässt, wird die Erfahrung machen, dass sich auch dort, wo zunächst von Ähnlichem ausgegangen wird, Differenzen vertiefen können und das je Eigene neu deutlich wird.
Auf eine knappe Formel gebracht lässt sich meine Sicht des Verhältnisses von Christentum und Islam so beschreiben: die Gemeinsamkeiten besser verstehen lernen, die Fremdheit aushalten, die Unterschiede nicht verwischen und das je eigene Profil schärfen. Das ist in Kirche und Gesellschaft aber keineswegs die einzige, nicht einmal die dominierende Betrachtungsweise. An der Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Islam scheiden sich gegenwärtig die Geister.
III. Ein Blick auf andere Positionen in der Diskussion über Christentum und Islam
1. Vergleichgültigung
Typisch für die mit diesem Stichwort angedeutete Sichtweise ist der Satz: „Wir glauben doch alle an denselben Gott.“ Wenn darin mehr zum Ausdruck kommt als die Faulheit nachzudenken und eine Bequemlichkeit, die sich bestimmte Erfahrungen und Themen vom Leibe halten will, dann sind es wohl folgende zwei Motive: zum einen eine Müdigkeit oder besser ein Überdruss an den aus der Vergangenheit sattsam bekannten endlosen und unauflösbaren religiösen Streitigkeiten, zum anderen das ernsthafte Suchen nach der einen gemeinsamen Wahrheit, die hinter allen positiven Religionen vermutet wird. Dieses zweite Motiv führt freilich häufig dazu, dass in der Begegnung mit Muslimen die Besonderheit des eigenen Glaubens schamhaft verschwiegen und das Licht des christlichen Glaubens unter den Scheffel gestellt wird. Doch weder der Weg der Selbstüberschätzung auf Kosten der anderen noch der der Selbstverleugnung auf Kosten der eigenen Identität sind angemessene Haltungen in der Begegnung mit Vertretern anderer Religionen.
2. Herkunft
Christentum und Islam haben gemeinsame Wurzeln in der israelitisch-jüdischen Glaubensüberlieferung. Doch in dem konkreten Miteinander von Christen und Muslimen hilft es wenig weiter, wenn für religiöse Bräuche, Vorbilder des Glaubens oder theologische Motive ein gemeinsamer Wurzelboden bewusst gemacht wird. Denn – wir streiften diesen Aspekt schon – es kommt entscheidend auf die inhaltliche Prägung im jetzigen Kontext an, und diese ist in aller Regel höchst unterschiedlich. Das gilt auch für die Anknüpfung an die Gestalt Abrahams in der Rede von den „abrahamitischen Religionen“ oder der „abrahamitischen Ökumene“. In Synagoge, Kirche und Moschee hat die Abrahamgestalt jeweils sehr eigene Konturen bekommen. Im Rückblick ärgere ich mich, dass es auch Veröffentlichungen der EKD gibt, die das scheinbare Zauberwort von der „gemeinsamen abrahamitischen Tradition“5 nachgeplappert haben.
3. Konvergenz
Eine klassische Möglichkeit, das spannungsvolle Verhältnis von Nähe und Differenz zweier Religionen zu bearbeiten, ist die Methode des religionsphänomenologischen oder theologischen Vergleichs. Hier werden einzelne Glaubensüberzeugungen daraufhin durchgesehen, wo sich Gemeinsamkeiten zeigen, mit anderen Worten: wo Konvergenzen bestehen. Wir kennen das Verfahren seit langem aus den Dialogen zwischen den Lutheranern und der römisch-katholischen Seite. Allerdings führt es – übrigens auf beiden Anwendungsfeldern – leicht in theologische Sackgassen. Wer selektiv einige Aspekte einer Religion herausgreift und dabei Ähnlichkeiten festzustellen glaubt, denkt mit Notwendigkeit nur aus seiner eigenen Perspektive. Einzelne Aspekte können dabei ein Gewicht erhalten, das sie in der anderen Religion gar nicht besitzen. Die Schwäche der Fokussierung auf Konvergenzen liegt auch darin, dass sie, weil erwünscht, gelegentlich in die verglichenen Phänomene hineingelesen werden und dass, wenn Konvergenzen gänzlich fehlen, eher geschwiegen als eine negative Aussage gemacht wird.
4. Integralismus
Eine sehr interessante und höchst folgenreiche Position nimmt die römisch-katholische Kirche ein. Sie geht zurück auf zwei Dokumente des II. Vaticanum: die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ und die dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“. Ich bezeichne die Position als integralistisch, weil sie eine Sichtweise repräsentiert, in die alle, die römisch-katholische Kirche, die anderen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die verschiedenen nichtchristlichen Religionen und die Nichtgläubigen, integriert sind und je nach der Nähe zur wahren Kirche ihren besonderen Platz zugewiesen bekommen.
In „Lumen gentium“ stellt das Konzil fest: „Diejenigen ..., die das Evangelium noch nicht empfangen haben, sind auf das Gottesvolk auf verschiedene Weise hingeordnet. In erster Linie jenes Volk, dem der Bund und die Verheißungen gegeben worden sind und aus dem Christus dem Fleisch nach geboren ist ... Der Heilswille umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.“6
Und in „Nostra aetate“ heißt es: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche ... die Muslim, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat ... Jesus, den sie allerdings nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch als Propheten und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria, die sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen. Überdies erwarten sie den Tag des Gerichtes, an dem Gott alle Menschen auferweckt und ihnen vergilt. Deshalb legen sie Wert auf sittliche Lebenshaltung und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten. Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslim kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseitezulassen und sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen ...“7
Dieses Dokument ist über vierzig Jahre alt, in seiner Schlusspassage jedoch heute noch aktueller als zu seiner Entstehungszeit. Unverkennbar ist freilich, dass hier theologisch sehr anders akzentuiert wird als in „Klarheit und gute Nachbarschaft“. Ich war bei einer Israelreise – um es milde auszudrücken – schon sehr überrascht festzustellen, dass in der Dormitioabtei die Benediktiner in der Komplet an der Stelle einer biblischen Lesung einen Abschnitt aus einer Sure des Koran lesen. Die römisch-katholische Kirche hat – das ist mein Eindruck – ihre Relektüre der lehramtlichen Aussagen zum Verhältnis von christlichem Glauben und Islam noch vor sich.8
5. Clash of civilizations
1993 veröffentlichte der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington einen großen Zeitschriftenartikel, 1996 dann ein selbstständiges Buch über tiefgreifende Veränderungen in den globalen Konfliktstrukturen. Beide Texte enthielten in ihrem Titel den Ausdruck vom „clash of civilizations“ und entfalteten die These, dass sich in Zukunft Konflikte und Kriege nicht mehr so sehr entlang ideologischer Linien und politischer Machtbereiche als vielmehr entlang kultureller und somit auch religiöser Linien entwickeln würden. Das fokussiert den Blick notwendigerweise gerade auch auf den kulturellen Antagonismus zwischen der vom Christentum geprägten westlichen und der islamischen Welt. Der Befund, der dabei festgestellt wird, ist – wer könnte überrascht sein? – streckenweise beängstigend.9 Die Kritik unterstellte Huntington allerdings zu Unrecht, er habe die ideologische Begleitmusik zur US-amerikanischen Politik im Vorderen Orient liefern wollen. Das Gegenteil ist richtig: Er macht darauf aufmerksam, welche kulturellen und religiösen Brückenschläge nötig sind, um im 21. Jahrhundert Konfliktvorbeugung und Kriegsverhinderung zu betreiben.
IV. Kein Friede zwischen den Kulturen ohne Frieden zwischen den Religionen
In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten die Friedensfragen in Kirche, Gesellschaft und Politik Hochkonjunktur, sogar mehr als das: höchste Dringlichkeit. Das hatte seinen sachlichen Grund darin, dass unter dem Regime des „Gleichgewichts des Schreckens“ der Friede schlicht eine Überlebensbedingung für die Menschheit geworden war. In jener Zeit entwickelten sich in den Kirchen zwei kräftige Bewegungen, um die anstehenden Aufgaben in einer gemeinsamen Anstrengung anzupacken: Auf der Ebene des ÖRK – was war das noch für ein ÖRK! – entstand ab 1983 der konziliare Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, und der Düsseldorfer Kirchentag von 1985 wurde für Carl Friedrich von Weizsäcker zur Bühne für den Aufruf zu einem Konzil des Friedens. Beide Bewegungen zeichneten sich dadurch aus, dass die Interdependenz der Friedensfragen mit den Themen Gerechtigkeit, Freiheit und Bewahrung der Schöpfung zum Allgemeingut wurde. Carl Friedrich von Weizsäcker hat dies 1986 in seinem Buch „Die Zeit drängt“ in eingängige Formulierungen gefasst: „Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Frieden. Keine Gerechtigkeit ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Gerechtigkeit. Kein Friede unter den Menschen ohne Frieden mit der Natur. Kein Friede mit der Natur ohne Frieden unter den Menschen.“10 Zwanzig Jahre später ist unübersehbar geworden, welche Fortsetzung diese Sequenz braucht: Kein Friede zwischen den Kulturen ohne Frieden zwischen den Religionen. Kein Friede zwischen den Religionen ohne Frieden zwischen den Kulturen.
Es ist nicht nur die These Samuel Huntingtons vom drohenden „clash of civilizations“, die dazu beigetragen hat, diese Bewusstseinserweiterung herbeizuführen. Nicht weniger einflussreich ist die Wiederentdeckung der Religion in den scheinbar durchsäkularisierten Gesellschaften des westlichen Europa – damit auch ihre Rückkehr auf die Bühne des öffentlichen Diskurses. Die Kräfte der Religionen waren keineswegs, wie es noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine verbreitete Meinung war, einer zunächst schleichenden und sich dann beschleunigenden Auszehrung ausgesetzt. Im Gegenteil: Bis hin zu den nach eigenem Bekunden „religiös unmusikalischen“ Vertretern der Philosophie breitete sich die Einsicht aus, dass es leichtfertig wäre, auf die Sprache und die Vorstellungswelt der Religionen zu verzichten. Denn die Gesellschaften und die Menschheit insgesamt haben nicht so sehr viele Ressourcen, aus denen Menschen Motivation, Vision und Zuversicht für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit schöpfen können. So steht die Religion nicht länger für eine verblassende Vergangenheit, sie hat Zukunft, ja mehr, sie schafft Zukunft.
Oder genauer: Es gibt Religion, die Zukunft hat und schafft. Die Rehabilitation der Religion stellt keinen Blankoscheck dar. Die Geschichte des Christentums illustriert selbst in beklemmender Weise, dass es neben Gestalten von Religion, die eine Spur des Segens ziehen, auch solche gibt, die eine Spur der Zerstörung hinterlassen. Gegenüber dem Phänomen der Religion ist die Kraft kritischer Unterscheidung nötig. Das geht aber nicht so, dass unappetitliche religiöse Gruppierungen einfach aus der Welt der Religion herausdefiniert werden – wie beim designierten bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein: „Die Scientology-Organisation ist keine Religionsgemeinschaft.“11 Innerhalb der Welt der Religion selbst müssen Unterscheidungen getroffen werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist gerade dabei, diese Lektion zu lernen. Von 1949 an hatte es die Rechtsordnung in Deutschland für fünfzig Jahre im Wesentlichen mit zivilisierten Erscheinungsformen von Religion zu tun. Da konnte es sich das Gericht leisten, alle religiösen Äußerungsformen durch die Religionsfreiheit legitimiert zu sehen. Diese Zeiten sind vorbei. Die Auseinandersetzung um Scientology war ein erstes Wetterleuchten. Im Falle des Islam geht es um Dinge wie das Tragen des Kopftuchs, die körperliche Züchtigung der Ehefrau, die Abwägung zwischen der Verletzung religiöser Gefühle und der Meinungsfreiheit oder das Schächten.
Es versteht sich also nicht von selbst, dass der Friede zwischen den Kulturen nicht zu haben ist ohne den Frieden zwischen den Religionen. Vielmehr ist damit die Aufgabe bezeichnet, die gewalttätigen, zerstörerischen Kräfte der Religion auszuscheiden oder zu verwandeln und ihre versöhnenden, friedensstiftenden Kräfte zu entbinden. Diese Aufgabe betrifft weltweit, aber auch in unserem Land, insbesondere das Zusammenleben von Christen und Muslimen. Damit stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen und in welcher Weise Christen und Muslime zum Brückenschlag zwischen ihren Kulturen beitragen können.
V. Begegnung, Dialog, Gebet –alles zu seiner Zeit
Die Überschrift benennt drei Ebenen, auf denen der Brückenschlag zwischen Christen und Muslimen geschehen kann – jedoch alles zu seiner Zeit. Denn was, wie im Falle des gemeinsamen Gebets, zu früh und auf einer unzureichenden Grundlage unternommen wird, das trägt nicht zum Abbau der wechselseitigen Fremdheit bei, sondern täuscht sie nur vor.
1. Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen kennt viele Formen: das alltägliche Zusammenleben, Fest und Feier, das gemeinsame Handeln in Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander, förmliche Gespräche zwischen Repräsentanten beider Seiten. Von Theo Sundermeier ist das, was bei solchen Begegnungen geschieht, immer wieder als „Konvivenz“ beschrieben worden.
Eine besondere Rolle bei der Ermöglichung von Konvivenz spielen Gastfreundschaft und die gemeinsame Begehung von Festen. Schon früh hat die Kirche gelernt, uneingeschränkt Gastfreundschaft zu üben, so dass diese zum Kennzeichen des Urchristentums wurde und wesentlich zur Anziehungskraft der neuen Religion beigetragen hat. Gastfreundschaft ist immer eine auf Wechselseitigkeit beruhende Sache. Apostelgeschichte 10 erzählt davon, wie Gottes Geist Petrus aufforderte, sich von „Heiden“ einladen zu lassen und mit ihnen Tischgemeinschaft zu halten, obwohl das den Reinheitsvorschriften der Jerusalemer Urgemeinde widersprach. Sich einladen lassen schafft Begegnung auf Augenhöhe. Dies gilt zumal für Feste. Hier ist der Fremde als Gast willkommen, hier können sich Gastgeber und Gast an Regeln orientieren, die dem Fremdem einen respektierten Platz in der Gemeinschaft zuweisen und ihm zugleich die Freiheit lassen, sich so weit auf die Atmosphäre der anderen Religion einzulassen, wie er es verantworten kann. Hier kann Begegnung so stattfinden, dass beide, Christen und Muslime, ganz beim anderen sind, doch zugleich sie selbst bleiben. Auch bei einer kollektiven Form wie dem Fest ereignet sich die Begegnung von Christen und Muslimen vorrangig zwischen Einzelnen, die sich mit ihren individuellen Lebensweisen und Glaubensüberzeugungen einbringen. Jede solche Begegnung lebt davon, dass die Partner mit ihren persönlichen Meinungen geachtet und ernst genommen werden.
Im Allgemeinen können wir nur dort wirklich in den Raum und das Selbstverständnis einer anderen Religion und Kultur eindringen, wo wir jemanden haben, der uns gleichsam an die Hand nimmt und in die fremde Gesellschaft einführt, bis ein Vertrauensverhältnis entsteht. Theo Sundermeier nennt diese Personen gern „Grenzgänger“ und „Grenzgängerinnen“ und erinnert daran, dass es in manchen Kulturen die feste Institution des „Fremdenführers“ gab, der sich im Auftrag des Häuptlings oder des Fürsten der Fremden annahm, sie begleitete und dafür sorgte, dass das Gastrecht nicht angetastet wurde.
2. Der Dialog ist ein unersetzliches, praktisch bewährtes und zudem flexibles Instrument für die Begegnung der Kulturen und Religionen. Er eignet sich in besonderer Weise dazu, die Gemeinsamkeiten auszuloten und zu vertiefen und gleichzeitig die Unterschiede zu erkennen und zu achten, die kritische Auseinandersetzung in einer zivilisierten Form zu führen und eine Toleranz einzuüben, die über das bequeme Hinnehmen hinausgeht. Insofern kann man sagen: Zu einem Dialog in diesem Sinne gibt es keine Alternative. „Klarheit und gute Nachbarschaft“ formuliert zehn hilfreiche Regeln für die Vorbereitung und Durchführung eines christlich-muslimischen (und ebenso gut jedes anderen interreligiösen wie interkulturellen) Dialogs, von denen ich nur die wichtigsten wiedergebe:
• Kenntnisse über den jeweiligen Dialogpartner erwerben,
• den Dialog vom eigenen Standpunkt aus führen,
• nach Gemeinsamkeiten suchen, ohne die Unterschiede zu verwischen,
• Wahrheitsfragen nicht ausklammern,
• miteinander im Tun des Guten und Gerechten wetteifern,
• Dialog und Mission im Zusammenhang sehen.12
3. Gemeinschaft im Gebet zu suchen und zu finden ist für Angehörige unterschiedlicher Religionen und Kulturen nicht die naheliegendste, sondern die schwierigste Übung, mithin das Ende, nicht der Anfang eines gemeinsamen Weges. Der Vorwurf der „perfiden Apartheid des Betens“13 ersetzt die Analyse und Auflösung der Sachprobleme lediglich durch Polemik. Als eine mögliche Form, die Verbundenheit auch im Beten zum Ausdruck zu bringen, kommt aber stets die respektvolle Teilnahme am Gebet der jeweils anderen Religion in Betracht. Das lässt alle Freiheit, innerlich einzustimmen in Aussagen, die man aus dem eigenen Glauben mitvollziehen kann oder bei denen man jedenfalls subjektiv überzeugt ist, dies zu können.
Wenn auf christlicher Seite diskutiert und geprüft wird, ob es theologisch verantwortbar ist, zusammen mit Angehörigen einer anderen Religion zu beten, ist es ratsam, sich von folgendem Kriterium leiten zu lassen: Können die Angehörigen aller beteiligten Religionen bei einem gemeinsamen Gebet so beten, wie sie es je für sich in ihren eigenen gottesdienstlichen Vollzügen und in Treue zu ihrer Frömmigkeitstradition tun würden, oder würde dies für andere Beteiligte zu einer schwerwiegenden Störung oder gar Gewissensbelastung werden, so dass einem ausdrücklichen Wunsch folgend oder in stillschweigender Rücksichtnahme auf bestimmte Aussagen und Rituale verzichtet wird? Ein Vorgehen, bei dem das je eigene Profil abgeschliffen oder ganz unkenntlich gemacht wird, bezahlt für die Ermöglichung der Gemeinsamkeit einen zu hohen Preis: Es kommt gar nicht zu einer wirklichen Begegnung. Die Beteiligten agieren und reden ja anders, als sie es sonst beim Beten tun. Sie verstellen sich. Die erzielte Gemeinsamkeit ist unter diesen Voraussetzungen keine echte, sondern nur eine scheinbare, vorgetäuschte Gemeinsamkeit.
Ist es möglich, eine Form der Gemeinschaft im Gebet zu finden, die die Zusammengehörigkeit der Religionen ausdrückt, ohne den Schritt zu einem gemeinsam gesprochenen Wortlaut zu gehen? Von dieser Fragestellung ließ sich das Friedensgebet leiten, zu dem Papst Johannes Paul II. zuerst 1986 die Religionen und kirchlichen Gemeinschaften nach Assisi einlud. Die von Assisi ausgehenden Formeln hießen: nebeneinander, aber nicht miteinander beten bzw. zusammenkommen, um zu beten, aber nicht kommen, um zusammen zu beten. Eine ähnliche Unterscheidung, nämlich zwischen inter- und multireligiösem Gebet, hat – ausgehend von einem Beitrag des Kollegiums der Dozenten und Dozentinnen der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau – eine Ausarbeitung aus der bayerischen Landeskirche 1992 unter dem Titel „Multireligiöses Beten“ vorgenommen. Beide terminologischen Unterscheidungen waren außerordentlich einflussreich und haben zahlreiche Nachahmer gefunden. Je länger desto mehr hat sich allerdings gezeigt, dass der begrifflichen Differenzierung keine klare sachliche Differenzierung entspricht: Die Situation spricht mit, das Nebeneinanderbeten sendet ein eigenes Signal aus, das multireligiöse Beten sieht letztlich genauso aus wie das interreligiöse Beten. Die römisch-katholische Kirche hat daraus – schon unter dem Pontifikat Johannes Pauls II. – erste Konsequenzen für das Friedensgebet von Assisi gezogen, und unter dem Pontifikat Benedikts XVI. sind weitere Klarstellungen wahrscheinlich. Es ist durchaus denkbar, dass im Zuge dieser Entwicklung auf katholischer wie evangelischer Seite der Gedanke eines „multireligiösen Betens“ ganz aufgegeben wird.
VI. Wie viel Zeit brauchen wir? Wie viel Zeit haben wir noch?
„Die Zeit drängt.“ Diesen Titel hatte 1986 Carl Friedrich von Weizsäcker dem kleinen Buch gegeben, in dem er um des Überlebens der Menschheit willen Bündnispartner für politische und mentale Veränderungen zu gewinnen suchte. Heute, wo es darum geht, den Konflikten und Kriegen vorzubeugen, die an den kulturellen und religiösen Bruchlinien der Weltgesellschaft zu entstehen drohen, ist der Satz nicht minder aktuell.
Es ist kein Zweifel erlaubt: Der Islam braucht eine Modernisierung, nicht im Sinn der Anpassung an den Zeitgeist, sondern im Sinn der Inkulturation in die Moderne. Ich nenne nur einige Beispiele: Die heilige Schrift des Islam, der Koran, gilt der Mehrzahl der gläubigen Muslime als eine wörtliche Eingebung des Himmels, tritt also mit einem zeitlosen Gültigkeitsanspruch auf; es ist noch ein weiter Weg, bis der Koran als ein historisches Dokument gelesen wird. Erst dann ist aber die Möglichkeit gegeben, den Koran nicht als unantastbare, sondern als kritisierbare Größe anzusehen und zu behandeln. Das wirkt sich auf die Konstituierung der Rechtsordnung aus: Derzeit ist in zahlreichen islamischen Gesellschaften die Scharia unmittelbar geltendes Recht; die Menschenrechte gelten als westliche Erfindung.
Modernisierung heißt unweigerlich auch Pluralisierung; sie schafft Freiheitsräume, weil zwischen unterschiedlichen Geltungsansprüchen entschieden werden kann und muss. Die Trennung der religiösen und der politischen Sphäre macht es überhaupt erst möglich, Transparenz in den Entscheidungsabläufen herzustellen und Kompromisse als Steuerungsinstrument komplexer Gesellschaften wertzuschätzen.
So über die Dringlichkeit einer Modernisierung des Islam zu denken und zu reden, kann leicht als christlicher Hochmut ausgelegt werden. Überlegenheitsgefühl und Hochmut ist derzeit auch eine reale Gefahr. Aber den Kirchen und den Christen vergeht der Hochmut schnell, wenn sie ihre eigene Geschichte ansehen. Die Trennung der religiösen und der politischen Sphäre hat zwar schon im Mittelalter eingesetzt, doch hat es bis weit in die Neuzeit gedauert, bis sie vollendet wurde. Die Menschenrechte wurzeln gewiss auch im Humus des biblischen Verständnisses des Menschen, aber ihre ungeteilte Anerkennung durch die Kirchen ist zum Teil noch gar nicht so lange her. Die Aufklärung und mit ihr die anderen Signa der Moderne schließlich erschienen bis weit ins 19. Jahrhundert mehr als Gegner denn als Bundesgenossen, und erst spät sind sie von den Kirchen und den Christen nicht nur nolens volens hingenommen, sondern eingesehen, anerkannt und aus freien Stücken bejaht worden. Es gibt alte und junge Kirchen, denen das bis zum heutigen Tage schwerfällt.
Unser gemeinsames christlich-muslimisches Problem besteht nun allerdings darin, dass ein kultureller Wandel, wie ihn der Islam vor sich hat, viel Zeit braucht, wir aber angesichts des Potentials von Konflikten, Gewaltmitteln und Gewaltbereitschaft, das in unserer Welt erkennbar ist, nicht viel Zeit haben.
Die niederländische Autorin Margriet de Moor hat in einem Essay14 zwar eine optimistischere Sicht vorgetragen; doch ihre Hoffnung, eine „Reformation“ des Islam könne von Westeuropa ausgehen, kommt mir illusorisch vor. Mit skeptischen Gefühlen habe ich auch das Interview mit der kanadischen Muslimin Irschad Manji15 gelesen, die die Rückkehr zur Tradition kritischen Denkens im Islam proklamiert und die Erwartung hegt, „in den nächsten fünf bis zehn Jahren“ werde „eine wirklich große Reformbewegung im Islam“ entstehen.
Umso mehr gibt es keinen Zweifel, dass die Intensivierung des christlich-muslimischen Dialogs dringlich, ja überlebenswichtig ist. Dabei muss eine Balance zwischen Toleranz und Kritik, geduldigem Warten und ungeduldigem Drängen gefunden werden. Jeder Ton der Besserwisserei schadet nur. Erst wenn eine Atmosphäre des Vertrauens entstanden ist, öffnen sich nicht nur die Ohren, sondern auch die Herzen. Theo Sundermeier hat schon Recht: Wir brauchen im christlich-muslimischen Dialog auf Seiten der Kirchen „Grenzgänger“ und „Grenzgängerinnen“, die sich in der Kraft der Liebe Christi und unter der Leitung des Heiligen Geistes zwischen den Religionen und Kulturen bewegen.
Hermann Barth, Hannover
Anmerkungen
1 Der Beitrag beruht auf einem Referat, das am 26.9.2007 beim Generalkonvent des Sprengels Stade der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers gehalten wurde.
2 1882, dort Nr. 143.
3 Alle Zitate aus: Moses der Ägypter, München 1998, 17-20.
4 Handreichung des Rates der EKD „Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland“, EKD-Texte 86, 18f.
5 So in: „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“. Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, 1997, Abschnitt 204.
6 Lumen gentium, Ziffer 16.
7 Nostra aetate, Ziffer 3.
8 Vgl. jetzt auch den Vergleich der evangelischen und katholischen Position von Manfred Spieker: Was heißt gute Nachbarschaft? In: Rheinischer Merkur, 23.8.2007.
9 Vgl. z.B. den religionskritischen US-Bestseller von Sam Harris, The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason, New York / London 2004, dort 103-152.
10 Die Zeit drängt, München 1986, 115f.
11 Vgl. die Glosse von Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.8.2007.
12 Vgl. Handreichung, 112f.
13 So Christoph Quarch, vgl. bei M. Bauschke, zeitzeichen 3/2007, 32.
14 Süddeutsche Zeitung, 17.4.2007.
15 Süddeutsche Zeitung, 16./17.5.2007.