Immer mehr Schweizer distanzieren sich von der Religion
Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Religiosität in der modernen Welt. Bedingungen, Konstruktionen und sozialer Wandel“ des Nationalen Forschungsprogramms „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ (NFP 58). Danach hat die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung zur christlichen Religion ein zunehmend distanziertes Verhältnis. Gleichwohl spricht sie den Kirchen eine große Bedeutung zu. Derzeit sind in der Schweiz die großen Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften wie folgt verteilt: 31% der Wohnbevölkerung sind Katholiken, 32% Reformierte, 12% sind Angehörige nichtchristlicher Religionen. Der größte Wandel, den die Studie aufzeigt, betrifft jedoch die Konfessionslosen: Ihre Zahl ist in den letzten 40 Jahren von 1% auf rund 25% gestiegen. Damit ist in der Schweiz – wie in Deutschland – die Konfessionslosigkeit die am schnellsten wachsende weltanschauliche Orientierung. Konfessionszugehörigkeit und Konfessionslosigkeit sind jedoch nur ein Indikator für die tatsächlichen religiösen Praktiken und Glaubensvorstellungen. Auch Konfessionslose können im weiteren Sinne an Gott glauben oder alternativ spirituell sein.Die Forscher entwerfen daher folgende Typologie religiöser Profile: Distanzierte (64%), Institutionelle (17%), Säkulare (10%) und Alternative (9%). Auffällig, wenn auch wenig verwunderlich, ist der Rückgang an institutioneller Orientierung. Der Anteil der Alternativen hat sich in den letzten 20 Jahren kaum verändert; zulegen konnten jedoch die Distanzierten und die Säkularen. Starke religiöse bzw. atheistische Überzeugungen sind nach wie vor ein Minderheitsphänomen.Wie nicht anders zu erwarten, glauben die Distanzierten nicht nichts. Sie haben durchaus religiöse und spirituelle Vorstellungen, die aber in ihrem Leben keine besondere Rolle spielen und nur in besonderen Situationen aktiviert werden. Die Distanzierten sind meist Mitglieder der katholischen Kirche oder der reformierten Landeskirchen und bezahlen Kirchensteuern, jedoch bedeutet ihnen die Konfessionszugehörigkeit nicht viel. Distanz zeigen sie übrigens auch gegenüber alternativen Formen von Religiosität – und gegenüber kirchenkritischen bzw. atheistischen Positionen. Die Alternativen kultivieren esoterische Praktiken und Glaubensvorstellungen wie Channeling, Astrologie, Atem- und Bewegungstechniken, schamanistische Rituale usw. Ihre Spiritualität wird von den Autoren der Studie als „extrem vielgestaltig“ bezeichnet. Die Säkularen schließlich sind jeglicher Form von Religiosität gegenüber entweder indifferent oder lehnen diese gar ab.Auffällig ist, dass sich unter den Konfessionslosen nicht mehrheitlich Säkulare (nur 20%), sondern vor allem Distanzierte (68%) finden. Die Institutionellen weisen einen eher einfachen, die Distanzierten und Säkularen einen mittleren, die Alternativen einen höheren Bildungsstand auf. Frauen neigen eher der alternativen Typologie zu (11%) als Männer (4%). Umgekehrt sind unter Männern (15%) mehr Säkulare als unter Frauen (5%) anzutreffen.Trotz dieser Befunde spricht eine deutliche Mehrheit der Schweizer den Kirchen eine große Bedeutung für sozial Benachteiligte zu. Jedoch nimmt der Stellenwert der Religion für das eigene Leben stetig ab. Interessant ist, dass selbst unter den Schweizer Konfessionslosen 7% angeben, dass die Kirchen für sie persönlich sehr wichtig sind; 42% der Konfessionslosen erachten sie als für die Gesellschaft wichtig. Die stärksten Ressentiments gegenüber Muslimen finden sich übrigens bei den Säkularen.Die ausführlichen Ergebnisse des Forschungsprojekts sind auf der Internetseite des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung veröffentlicht (www.snf.ch).
Andreas Fincke, Berlin